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Ausgabe:

1923 Nr. 1

Spalte:

21-23

Autor/Hrsg.:

Otto, Rudolf

Titel/Untertitel:

Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 9. Aufl 1923

Rezensent:

Wobbermin, Georg

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Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 1.

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Otto, I'rof. D. Rudolf: Das Heilige. Ober das Irrationale in der Idee des
Göttlichen und fein Verhältnis zum Rationalen. 9. Aufl. (VI, 383 S.)
gr. 8°. Breslau, Trewendt & Granier 1922.

Ottos Buch bedarf keiner erneuten Empfehlung.
Wohl aber rechtfertigt die beträchtliche Umfangserweite-
rung, die das Buch allmählich erhalten hat, eine erneute
Befprechung.

Die Erweiterung des Umfangs von 192 Seiten der 1. Aufl. auf 383
der 9. kommt allerdings faft vollftändig auf Rechnung der „Beilagen".
Denn während die erfte Auflage nur eine folche Beilage bot, den Text
der berühmten Theophanie aus dem elften Kapitel der Bhagavad-Gita,
bringt die neunte Auflage im ganzen sechzehn Beilagen. Die Ge-
fchloflenheit, Durchfichtigkeit und Kraft des fyftematifchen Gedankenganges
wird durch diefe gehäufte Anfügung von Beilagen flcher-
lich nicht verftärkt. Wenn lieh trotzdem ein berufsmäßiger Syfte-
matiker wie Otto zu diefer Anordnung entfchloffen hat, muß alfo ein
behenderer Grund dafür aufzuzeigen fein. Er durfte darin liegen, daß
es für Otto auf diefe Weife möglich gewefen ift, den fyftematiichen
Aufriß feiner religionsphilofophifchen Gefamtpofition feuzuhalteii dabei
aber die eine ihrer beiden Grundtendenzen, die für ihn felbft ollenbar
mehr und mehr das Übergewicht über die andere erlangt hat, ftärker zu
betonen und dem Lefer eindringlicher zu machen, als es jener Aufriß
tut, deflen Schlußteil von der Frageftellung nach dem Heiligen als Kategorie
a priori beherrfcht wird. _

Es find ja in Ottos Buch, wie z. B. auch Troeltfch
in einem Artikel der Kantftudien (1919) ausführlich gezeigt
hat, zwei Grundtendenzen wirkfam. Die eine liegt in der
Richtung religionspfychologifcher Analyfe, wie denn Otto
felbft diefen Begriff fowohl im urfprünglichen Text wie
in den angefügten Beilagen wiederholt zur Kennzeichnung
feiner Arbeitsleiftung in Fortführung der Schleiermacher-
Jamesfchen Problemftellung gebraucht. Und gerade als
Meifter diefer religionspfychologifchen Analyfe hat fich
Otto im erften Hauptteil feiner Schrift erwiefen; als ihren
Meifter erweift er fich ebenfo in den neu hinzugekommenen
Beilagen.

Ich hebe befonders heraus: Nr. 1) Chryfoltomus über das Unbegreifliche
in Gott, Nr. 3) das „ganz Andere", Nr. 4) Numinofe Urlaute
, Nr. 9) Das Leere in der Baukunft des Islam, Nr. 14) Über Wundts
Völkerpfychologie.

Die andere Grundtendenz geht dagegen auf die Spekulation
des Friefianismus bzw. des Neufriefianismus. Der
Verfuch, das Heilige als Kategorie a priori zu erweifen,
ift für Otto die Klammer, die diefe beiden Grundtendenzen
zufammenhalten foll. Auch wer diefe Konftruktion ablehnt
, wird doch die Vorzüge und Verdienfte der religionspfychologifchen
Analyfen Ottos ohne Einlchränkung anerkennen
. Auf ihnen beruht denn auch, wie kaum zweifelhaft
fein kann, " die überaus erfreuliche Einwirkung des
Buches auf weitere Kreife der Gebildeten.

Auf die in den letzten zehn Jahren viel verhandelte
Methodenfrage der religionspfychologifchen Arbeit
(einen zufammenfaffenden Überblick habe ich kürzlich
im 22. Sonderheft des Abderhaldenfchen Methodenwerkes
gegeben) geht allerdings Otto nicht ein. Das bedeutet

brauchten Begriffen des Rationalen und Irrationalen, und
deshalb auch feinem auf jene fich zurückbeziehenden
Begriff tles Numinofen. Durch das Fehlen der methodo-
logifchen Stellungnahme ift dann aber wieder bedingt,
daß der Frage nach dem fpezififch Religiöfen die Frage
nach dem fpezififch Chriftlichen nicht mit der Sicherheit
und Schärfe ergänzend zur Seite geftellt wird, die
meines Erachtens vom religionspfychologifchen Anfatz
aus der Sache zufolge nötig wäre.

Aus dem reichen Inhalt des Buches greife ich noch
zwei befonders wichtige Einzelprobleme heraus. Auch
Otto ift fich wohl bewußt, auf den Bahnen Schleier-
machers zu gehen, wie er ja denn mit unverkennbarer
AbfichtlichkeitbeiderSchleiermacher-Jamesfchen Problemftellung
(in allen die Religion betreffenden Fragen auf die
religiöfe Erfahrung zurückzugehen) einfetzt. Er erhebt
aber gegen den Religionsbegriff Schleiermachers einen
doppelten Vorwurf. Sein fchlechthiniges Abhängigkeitsgefühl
unterfcheide fich von anderen Abhängigkeitsgefühlen
nur durch den Grad, nicht durch eine befondere Qualität,
und fodann: diefes fchlechthinige Abhängigkeitsgefühl fei
an fich ein bloßes Selbftgefühl, erft mittelst eines Rück-
fchluffes ftoße man nach Schleiermacher auf das Göttliche
felber. An diefen beiden Thefen — fie finden fich
in genau der gleichen Formulierung fchon in der erften
Auflage — hält alfo Otto trotz des inzwifchen von mir
erhobenen Einfpruches feft. Ich habe das zum Anlaß
erneuter Lektüre und immer wiederholten Durchdenkens
aller einfehlägigen Ausführungen Schleiermachers genommen
. Dabei hat fich mir von neuem beftätigt, daß
Ottos Auslegung den Intentionen Schleiermachers nicht
gerecht wird. Das fchlechthinige Abhängigkeitsgefühl
unterfcheidet fich im Sinne Schleiermachers von der Ge-
famtheit aller wirklichen (und möglichen!) „teilweifen"
Abhängigkeitsgefühle, die fich untereinander in den mannig-
fachften Abftufungen gradweis unterfcheiden, durchaus
qualitativ. Und ebenfo gehört für Sehl, die befondere
Objektbeziehung wefensmäßig zum Grundbeftand des
fchlechthinigen Abhängigkeitsgefühls hinzu. Ich finde
bei Otto kein ftichhaltiges Argument für die von ihm
feftgehaltene gegenteilige Beurteilung des Sachverhalts.

Die andere zwifchen Otto und mir beftehende Kontro-
verfe betrifft die Frage, ob dem religiöfen Bewußtfein
wefensmäßig eine Beziehung zur ethifchen Sphäre
eignet oder nicht. Otto hatte diefe Frage verneint, und
er hält auch hier — fchon in der Definition feines Begriffs
des Numinofen als des Heiligen minus feines fitt-
lichen Gehalts — gegen meinen Widerfpruch an feiner
Anficht feft. Nun hat foeben Hans Schmidt in fehr beachtenswerter
Weife vom Boden der altteftamentlichen
Fachforfchung aus in diefe Kontroverfe eingegriffen (in

für fein Buch den großen Vorteil, daß es mit den ftets ; feiner Abhandlung „Mofe und der Dekalog" in der Feft
fchwierigen und komplizierten, wenn auch oft fehr nötigen fchrift für Hermann Gunkel). Schmidt lehnt zunächft für
methodologifchen Erörterungen nicht behaftet wird. Es das Gebiet der altteftamentlichen Religionsgefchichte die
hat aber andererfeits für die Sache felbft den meines betreffenden Ausführungen Ottos als nicht zutreffend ab.

Erachtens unleugbaren Nachteil, daß mehrfach in wich
tigen prinzipiellen Fragen volle Eindeutigkeit nicht erreicht
wird. Vor allem kommt in diefer Hinficht in Betracht
, daß die religionspfychologifche Analyfe in pfycho-
logiftifcher Wendung für die Zwecke der felbft pfycho-
logiftifch und infolgedeffen weiterhin rationaliftifch fundierten
Spekulation des Neufriefianismus verwertet wird.
Wo dagegen diefe Wendung und Verwertung nicht in
Frage fteht, wird die religionspfychologifche Analyfe nach
demPrinzip der produktiven Einfühlung des religionspfychologifchen
Zirkels geübt und dann mit feinftem und
tiefdrino-endftem Verftändnis fruchtbar gemacht. In diefen
Unterfuchungen ift demgemäß die Frage nach dem
spezififch Religiöfen die letztlich leitende. Die Beiträge
, die Otto zur Beantwortung diefer Frage liefert, find
von größtem Wert; fie werden auch für diejenigen diefen
Wert haben und behalten, die derTerminologieOttos teilweife
kritifch gegenüberftehen, z. B. feinen nicht eindeutig ge-

Für das Gefamtgebiet der Religionsgefchichte meint er
dann aber eine mittlere Linie einhalten zu können. Re-
ligiöfes Bewußtfein erwachfe nämlich entweder im Zu-
fammenhang mit ftarken Eindrücken des geheimnisvoll
Lebendigen irgendwelcher Art oder im Zufammenhang
mit dem Innewerden ftarker ethifcher Beftimmtheit. Von
hier aus entfeheidet Schmidt einerfeits gegen die Theorie
Ottos: was diefer das Numinofe nenne, werde nicht für
fich gefondert erlebt, — andererfeits will er aber auch
die von mir befürwortete Auffaffung vom Wefen der
Religion nicht ganz ohne Vorbehalt gelten laffen. Zwar
könne man von zwei Grundtendenzen des religiöfen Lebens
fprechen und fie finngemäß als myftifche und
ethifche Tendenz bezeichnen, aber es fei doch das Vorhandenfein
nur der einen oder der anderen denkbar. Ich
für meine Perfon kann den Gedanken Schmidts — ab-
gefehen von der mein. Eracht. nicht hinreichend ge-
fchloffenen Darlegung über das Urphänomen des Sitt-