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Ausgabe:

1923 Nr. 19

Spalte:

396-398

Autor/Hrsg.:

Rouët de Journel, M. J.

Titel/Untertitel:

Enchiridion patristicum. Ed. 4 et 5 1923

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 19.

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den ersten Absatzes zu bestimmt, und die Argumente „gut
erzählt" und „unerfindlich" spielen immer noch eine
Rolle. Und wie kann es für „unzweifelhaft" erklärt werden
, daß im Judentum „Sohn Gottes" als Messiastitel
vorkomme, trotz des Zweifels etwa Dalmans und Boussets
? — Die Fragen nach Taufe und Abendmahl in der
jerusalemischen Urgemeinde unterliegen doch einer viel
stärkeren Problematik, als es in § 59 zur Geltung
kommt. Was § 60,4 für den Schriftbeweis der Urgemeinde
angeführt wird, stammt doch aus griechischchristlichen
Quellen und kann schwerlich ohne weiteres
als altes Traditionsgut in Anspruch genommen werden.
Überhaupt, wie weit ist das in § 60 Dargestellte wirklich
Theologie der Urgemeinde? — Ist es wirklich so
sicher, daß Paulus vor seiner Bekehrung in Jerusalem
war? daß die erste Missionsreise nach dem Apostelkonzil
stattfand? Müßten da nicht entgegengesetzte Meinungen
deutlich zu Gehör gebracht werden? Ist das
Problem „Paulus und Jesus" wirklich mit dem Hinweis
auf die Gemeinsamkeit grundlegender Stücke zu erledigen
, und erhebt es sich nicht erst in voller Schärte,
wenn man sieht, daß gewisse § 68, 4 genannte gemeinsame
Hauptstücke bei Jesus und bei Paulus ganz verschieden
motiviert sind? — Eine Darstellung der pauli-
nischen Theologie kann nicht ohne ein gutes Teil von
Subjektivismus gegeben werden; deshalb will ich hier
meine Einwendungen zurückhalten; nur eines muß gesagt
werden, da es sich m. E. deutlich aufweisen läßt: daß
nämlich die Vorstellung des Paulus von der heilsgeschichtlichen
Entwicklung nicht am Individuum, sondern
an der Menschheit orientiert ist. Das müßte zur Geltung
kommen und damit würden Reflexionen wie die über den
„Seelenzustand" des vorchristlichen Menschen (§ 66, 3)
verschwinden.

Dazu kommen einige Bedenken gegen den Aufriß
Müßte nicht die Mission außerhalb Jerusalems, soweit
sie bis Damaskus und Antiochien geht (§ 57, 5), später
im Zusammenhang mit den Problemen der Heidenmission
gebracht werden? Diese Probleme finden ihre
Darstellung ganz nach alter Weise in dem Kap. über
Paulus (§ 65). So kommt die Bedeutung des Übergangs
des Evangeliums vom palestinensischen auf den hellenistischen
Boden und damit die Erkenntnis von der
grundlegenden Bedeutung des hellenistischen Urchristentums
vor und neben Paulus nicht zur Geltung. Das
könnte nur geschehen durch Einfügung eines entsprechenden
Abschnitts zwischen die Urgemeinde und
Paulus. In diesem wäre z. B. auch die paränetische Tradition
darzustellen, die Paulus doch schon voraussetzt,
während ein falsches Bild entsteht, wenn das Material
jetzt unter der Theologie des Paulus (§ 66,10) erscheint.
Vor allem aber müßte hier das (gnostische) Pneumatiker-
tum charakterisiert werden, das so schnell in den hellenistischen
Gemeinden auftritt, und durch das die Wirksamkeit
des Paulus wohl mindestens ebenso stark bestimmt
ist wie durch den Kampf gegen die Judaisten,
der § 65 ganz nach altem Schema dargestellt wird. —
In der Schilderung der nachapostolischen Zeit wird
m. E. nicht genug zwischen den verschiedenen Erscheinungen
differenziert; so sollten doch im Cap. über das
Judenchristentum die mannigfachen synkretistischen Bildungen
gewürdigt werden.

Das 2. Cap. über das Judentum scheint mir dem
religionsgeschichtlichen Problem nicht gerecht zu werden
(Apokalyptik!), und vor allem Philo scheint mir
viel zu dürftig weggekommen zu sein. Boussets Forschungen
sollten hier m. E. stärker zur Geltung kommen.
Lebhafte Wünsche weckt auch das Cap. über das
„Griechentum". Über das Problem des Verhältnisses
der Mysterienreligionen zu den nationalen Kulten erfährt
man so wenig wie über die wichtige Frage nach dem
Verhältnis der Mystik zu den Mysterienreligionen. Die
Propaganda' der orientalischen Religionen ist nicht gewürdigt
(man denke z. B. an dg &eögi). Die Anschauungen
über das Seelenschicksal (Himmelsreise der

Seele!) verdienten eine eindrucksvollere Darstellung als
die Andeutungen in § 46,2 u. 4. Das alles nicht um
gewisser Einzelheiten willen, sondern damit der Typus
dieser hellenistischen „Erlebnisreligionen" im Unterschied
vom Urchristentum deutlich wird. — § 46,5
dürfte bereichert werden durch einen Hinweis auf die
Wanderung von Märchen und Legenden, die für das Verständnis
der christlichen Quellen doch wesentlich ist.
In § 47 sollten die Streitfragen über die Entstehung des
Herrscher- und Kaiserkults zur Sprache kommen, um
die Verschiedenheit der geistigen Motive, die im Abendland
und im Orient in dieser so bedeutsamen religionsgeschichtlichen
Erscheinung wirksam sind, deutlich
werden zu lassen.

Zum Schluß eine Einzelheit: In den Erörterungen
über die Chronologie sollte m. E. die Frage der Hinrichtung
beider Zebedaiden wenigstens als Möglichkeit
mit ihren Konsequenzen stark erwogen werden; auch
sollten die neusten Forschungen über die Statthalterschaft
des Quirinius genannt werden.

Durch meine kritischen Bemerkungen soll weder
meiner Achtung vor dem Buche R. Knopfs noch meinem
Dank für die beiden Herausgeber Abbruch getan werden.
Das Buch hat sich bewährt und wird sich weiter bewähren
; daß es seinen Zweck immer besser erfülle, ist
mein Wunsch, und dem wollten meine Bemerkungen
dienen.

Marburg. R. Bultmann.

Rou6tdeJourneI,M.J, S.J.: Enchiridion patristicum. Loci
ss. patrum, doctorum, scriptorum ecclesiasticorum. Ed. 4 et 5.
Freiburg i. Br.: Herder & Co., 1922. (XXVIII, 801 S.) 8°

Qz. 10,-; geb. 11,4.

Daß diese zum ersten Male 1911 erschienene Sammlung
bereits eine 4. Auflage erlebt, ist nicht verwunderlich
, denn sie ist höchst zweckentsprechend ausgeführt
worden. Neben den Enchiridien von Denzinger und
Kirch will sie in reichem Umfang aus den alten Kirchenvätern
— bis zu Johannes Damasc. herab — die Stimmen
sammeln, die als Bestätigung der katholischen Glaubens
- und Sittenlehren dienen können, und das Auffinden
der einzelnen Stellen, ohne daß diese nach fremden Gesichtspunkten
durcheinander geschüttelt werden, bequem
machen. Um in allen Teilen der katholischen Welt gleich
brauchbar zu sein, durfte das Buch nur in lateinischer
Sprache erscheinen, doch wird alles Griechische in der
Ursprache mitgeteilt, eine Übersetzung hinzugefügt. Daß
das Latein scholastisch schmeckt, mit ,scripturisticas
protoparentes, habitudo eius ad (Verhältnis zu) u. dgl.
aufwartet, ist kein Unglück. Denn der Herausgeber
drängt sich mit seiner eignen Sprache wirklich nicht
auf, von S. 1—758 redet er zu uns fast nur durch
Zahlen.

Auf die dargebotenen Texte kann man sich verlassen
; sie sind auch nicht tendenziös zurechtgemacht,
d. h. nie, soviel ich sehe, ist durch Herausreißen aus
dem Zusammenhang ein dem Autor fremder Gedanke
gewonnen worden; und in den Hauptabschnitten gelingt
es dem Sammler, den Leser vergessen zu lassen, daß er
nur Exzerpte, im Dienst eines fremden Interesses veranstaltet
, empfange: man kommt an den Geist des Augustinus
, Tertullians und des Damaszeners selber heran.
Trotz peinlicher Sorgfalt sind doch einzelne Druckfehler
eingeschlichen, z. B. in Nr. 61: ävay€vvrj^rj/.ievt 2189
manifestandum st. — ndam, 367 ist vor calciatum „vesti-
tum et" ausgefallen. Wo der Leser über Migne nicht
verfügt, wird bisweilen die Identifizierung von Stellen
außerordentlich erschwert, wie wenn bei Gregors von
Nyssa Werk c. Ennomium trotz des abnormen Umfangs
der einzelnen Bücher nur „L. 1,3" vermerkt wird. De J.
berücksichtigt, wo neue kritische Ausgaben vorliegen,
grundsätzlich auch diese neben dem Migne-Text, will
ebenso in der lateinischen Version bei Griechen, wo
das Verständnis dadurch gefördert wird, bessernd eingreifen
: hier vermisse ich indes öfter den nahegelegten