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Ausgabe:

1923 Nr. 1

Spalte:

19-20

Autor/Hrsg.:

Wernle, Paul

Titel/Untertitel:

Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. 1. Bd.: 1. Lfg 1923

Rezensent:

Staehlin, Ernst

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19

Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 1.

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hende Befchreibung der einzelnen Stücke mit biblio-

graphifchen Hinweifen und Quellenangaben. Er hat dauernden
wiffenfchaftlichen Wert.

Zwickau. O. Cleraen.

Wernle, Prof. D. Paul: Der (chweizerilehe Proteftantismus im XVIII.

Jahrhundert. Elfter Band: Das reformierte Staatskirchentum und feine
Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), i. Lfg. (144 S.)
gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1922. Subfkr.-Pr. Schw. Fr. 4.50.
DieErforfchung der fchweizerifchen Kirchengefchichte
durch die evangelifche Theologie hat fich bis jetzt hauptfächlich
mit der Bearbeitung des Reformationsjahrhunderts
befchäftigt und darin ihre großen Leiftungen vollbracht.
Die fpäteren Zeiten des fchweizerifchen Proteftantismus
hatten noch keine umfaffende Unterfuchung und Dar-
ftellung gefunden. Man war angewiefen auf mehr oder
weniger gründliche Überblicke, wie fie Emil Bloefch in
feiner zweibändigen Gelchichte der Schweizerifch-Reformierten
Kirchen, Wilhelm Hadorn in feiner Kirchengefchichte
der reformierten Schweiz und James J. Good
in feiner Hiftory of the Swiss Reformed Church since the
Reformation bieten, oder auf einige Monographien, wie
etwa die Kirchliche Statiftik der reformierten Schweiz
von Georg Einsler, die Gefchichte des Kirchengefangs
in der deutfehen reformierten Schweiz von Heinrich Weber,
die Gefchichte der deutfehen Bibelüberfetzungen in der
fchweizerifch-reformierten Kirche von J. J. Mezger, die
Zürcher Kirche vor der Reformation bis zum dritten
Reformationsjubiläum nach der Reihenfolge der Zürcher
Antiftes von G. R. Zimmermann oder die Gefchichte des
Pietismus in den fchweizerifchen reformierten Kirchen
von Wilhelm Hadorn, um nur die wichtigften zu nennen.
Daneben exiftierte wohl noch ein gewaltiges Material in
den verfchiedenften Aktenpublikationen, in zahlreichen
Biographien, inZeitfchriften und kleinen Veröffentlichungen,
aber es war faft unüberfehbar zerftreut. Und noch eben-
foviel oder vielleicht noch mehr ruhte ungedruckt und
verborgen in den Staats- und Kirchenarchiven fowie in
Privatbefitz. So konnte man bisher von den der Reformationszeit
nachfolgenden Jahrhunderten der fchweizerifchen
Kirchengefchichte nur ein ganz unvollkommenes
Bild gewinnen.

Nun eröffnet Wernle gleichfam eine neue Periode der
fchweizerifchen Kirchengefchichtsfchreibung, indem er,
der fchon die fchweizerifche Reformationshiftorie fo reich
befruchtet hat, auch der zweiten fchöpferifchen Periode
des fchweizerifchen Proteftantismus, dem 18. Jahrhundert,
eine Unterfuchung und Darfteilung größten Stiles widmet.
In einer unermüdlichen Arbeit von etwa drei Luftren hat
er alles gedruckte und ungedruckte Material, das ihm
irgendwie erreichbar war, verarbeitet und zu einem Ge-
famtbilde, in dem fowohl die kleinften Züge, die fich irgendwie
ermitteln ließen, wie die großen Geftalten etwa eines
Rouffeau, Lavater oder Peftalozzi, ihre Stellung erhalten
follen, zufammengeordnet. So wird das Werk unter einem
gewiffen Gefichtspunkte eine Gefchichte des Geifteslebens
der Schweiz im 18. Jahrhundert bringen, und man darf
es wohl etwa den Werken von Hettner und Lecky an
die Seite ftellen.

Bis jetzt liegt von dem dreibändigen Werke die erfte
Lieferung des erften Bandes vor. Sie bringt zunächft
auf 90 Seiten eine Darftellung des reformierten Staats-
kirchentums in feiner äußerlich faßbaren Erfcheinungs-
welt. In einer gewiß auch für andere Länder noch nicht
erreichten Vollftändigkeit ift hier ein Bild von dem
vielgeftaltigeu Organismus eines über ein kompliziertes
politifches Gebilde und über deutfch.es, franzöfifches und
rhaetoromanifches Kulturgebiet fich erftreckenden orthodoxen
Staatskirchentums entworfen und find die oft fo
fchwierigen Verhältniffe durch eine einfache, lebendige,
temperamentvolle Darftellung durchfichtig gemacht, fo
daß man unwillkürlich mit jenen alten Gefchlechtern mitlebt
, mitleidet und fich mitfreut. Befonderes Intereffe
bieten etwa, um nur einiges aus der Fülle hervorzuheben,

der damalige Betrieb der Armenpflege oder die Entwicklung
, die der Zwinglifche und der Calvinifche Typus
genommen haben.

Auf 21 Seiten folgt dann eine Darfteilung des altreformierten
Geithes. Wieder zeigen fich hier die Vorzüge
der Wernlefchen Art: Kenntnis des gefamten ein-
fchlägigen, in Liturgien, Katechismen, Gebetbüchern, Erbauungsbüchern
ufw. beftehenden Materials und klare,
kräftige Hervorhebung des Entfcheidenden. Wernle
charakterifiert einmal (S. 103) den altreformierten Geift
zufammenfaffend dahin: „Der allmächtige Weltengott, der
den kleinen armen fchuldigen Menfchen dennoch zu feinem
Kind und Diener haben will und ihn trotz aller
feiner Schuld nicht von fich flößt, fondern näher zu fich
zieht, das, einfach gefagt, ift die Summe der Religion";
und es läßt fich fragen, ob er nicht beffer von diefem
Gefichtspunkt ltatt von der religiöfen und fittlichen Verpflichtung
ausgegangen wäre; die „Verbindung der per-
fönlichen Erfahrung mit dem Gedanken vom Sündenfall
Adams und der Erbfünde, fowie mit dem Kreuzestod
Chrifti" wäre dann wohl weniger „künftlich", fondern
organifcher erfchienen. Im übrigen ift es faft fchade,
daß diefer Abfchnitt nicht ein wenig länger geraten ift,
und daß nicht einzelne Geftalten fich aus dem Gefamt-
bilde deutlicher abheben; vielleicht haben buchhänd-
lerifche Bedenken bei diefer Befchränkung mitgewirkt;
und fchließlich follen ja auch diefe erften Kapitel nur
den Hintergrund für die Darfteilung des Pietismus und
der anderen neuen Bewegungen bilden.

Und zu diefer Darfteilung des Pietismus geht nun
der folgende Hauptabfchnitt über und führt damit in
das Zentrum des Wernlefchen Werkes. Gleich in der
Einleitung begründet Wernle, warum er den Pietismus
als Ausläufer des orthodoxen Staatskirchentums behandelt
: trotz feinem modern anmutenden Subjektivismus
fei er doch überall an die Ideale des alten Chriftentums
gebunden; „die Größe des Pietismus befteht gerade
darin, daß er unmittelbar vor der Krife des alten Chriftentums
noch einmal deffen parodoxe Eigenart wuchtig und
maffiv zur Erfcheinung bringt, damit es ftatt nur in toten
Büchern in lebendigen Geftalten zu den fernften Gefchlechtern
rede." Ein erfter Unterabfchnitt behandelt
das Täufertum im 18. Jahrhundert und ergänzt das von
Ernft Müller in feiner Gefchichte der bernifchen Täufer
gelieferte Bild befonders aus der Korrefpondenz von
Herrenhutern; in den Literaturangaben hätte vielleicht
das von Chriftian Hege und Chriftian Neff feit 1912
herausgegebene Mennonitifche Lexikon noch genannt
fein dürfen. Dann werden wir mit den verunglückten
Verfuchen einer pietiftifchen Kirchenreform aus dem
Ende des 17. und dem Anfang des 18. Jahrhunderts bekannt
gemacht: Bafel, Neuenburg und Genf weifen einft-
weilen noch keine folchen auf, weil die mildere Richtung,
die ein Werenfels, Ofterwald und Turretini in diefen
Städten vertraten, dem durch das herrfchende Syftem
beeinträchtigten Glaubensleben vorerft ein Ventil bedeutete
; um fo mehr hat das wuchtige Berner Staatskirchentum
mit pietiftifchen Regungen zu fchaffen; nach
ihm auch Zürich, die Oftfchweiz und Schaff häufen; fein
werden die Führer herausgearbeitet, in Bern Samuel
König und Beat Ludwig von Muralt, der Verfaffer der
„Lettres sur les Anglais et sur les Frangais", in Zürich
Hans Kafpar Efcher und Hans Jakob Ulrich, „der
Klaffiker des älteren Pietismus", ferner Chriftof Stähelin,
„ein St. Gallifcher Spener, ins Calvinifche und Schwei-
zerifche überfetzt", endlich Hans Konrad Hurter in
Schaffhaufen, ein Franckefchüler. Aber alle diefe Ver-
fuche fchlagen, aufs Ganze gefehen, fehl; und fo wird
der Pietismus bald auf die Bahn des Separatismus getrieben
. Davon beginnen eben noch die letzten Seiten der
erften Lieferung zu handeln und entlaffen uns fo mit heißem
Verlangen nach der Fortfetzung des prächtigen Werkes.
Thalheim i. Aargau. Ernft Staehelin.