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Ausgabe:

1923 Nr. 1

Spalte:

378-379

Autor/Hrsg.:

Clemen, Otto

Titel/Untertitel:

Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte aus Riga, Reval und Mitau 1923

Rezensent:

Zscharnack, Leopold

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377

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 18.

Stadtobrigkeit der geistlichen Bettelei nicht zu Leibe
gehen kann.

Hat die Reformationszeit für die „geschlossene"
Armenpflege an prinzipiell Neuen nur das gebracht,
daß im Hospital nun auch auf die Heilung der Kranken
Bedacht genommen wird und daß die Elendenherberge
allen armen Wanderern offensteht, so bringt sie in der
„offenen" Armenfürsorge eine Neuerung von größter
grundsätzlicher Tragweite, in der der Übergang vom
mittelalterlichen zum neuzeitlichen Fürsorgewesen beschlossen
liegt: die Armenpflege wird vollständig kommunalisiert
, auch die kirchlichen Anstalten sind gehalten,
ihre Almosenleistungen an das städtische Armenamt abzuliefern
. Das Singen der „armen Schüler" ausgenommen
(die erst in der zweiten Hälfte des Jahrh. vom Almosenamt
erhalten werden), ist jeglicher Bettel, auch der
geistliche, verboten. Dafür hat jeder eingesessene Arme
grundsätzlichen Anspruch auf Versorgung aus dem neugeschaffenen
„gemeinen Almosen". Gespeist wird dieses
aus Sammelbüchsen und Kollekten in den Kirchen, aus
Zuwendungen der Bürger und der kirchlichen Anstalten;
dann fallen ihm, seit 1529, nach dem Wunsche der Kon-
ventualen, das Kloster St. Marx mit seinem Vermögen
und andre Klostergefälle zu, die indes nur etwa ein
Drittel der aufgewendeten Summen lieferten. Diese Almosenordnung
von 1523 ist nicht etwa ein Werk der
Straßburger Reformatoren, die zur Zeit ihrer Beratung
noch gar nicht in Straßburg waren, sondern der Magistratspersonen
, vorab Matthis Pfarrers, die bedeutendste
Persönlichkeit nach Jakob Sturm und ein eifriger Anhänger
der Reformation. Sie hat zur Voraussetzung die
Nürnberger Ordnung von 1522, neben der sie die wichtigste
Armenordnung der Zeit ist. Beiden aber liegen
deutlich zu Grunde Luthers Forderungen im Sermon
vom Wucher und der Schrift an den Adel, wie sie so
absolut vorher nicht erhoben worden waren: schlecht-
hinniges Verbot der Bettelei, auch der geistlichen, Versorgung
der eigenen Armen durch jedes Gemeinwesen;
so entstammen sie Antrieben aus Luthers schöpferischer
Zeit. Diese Zusammenhänge, die er, unter Mitberücksichtigung
der Yperner Ordnung von 1525, schon in der
Histor. Vierteljahrsschrift (Über die ältesten Armenordnungen
der Ref.-Zeit, Bd. 17, 1914/15, 187 ff. 361ff.)
ausführlich nachgewiesen hatte, legt W. hier, katholischen
Forschern gegenüber, noch einmal in überzeugender
Weise dar (bes. S. 200 ff.). Ist Straßburg von
Nürnberg abhängig, so hat es dafür durch die Berufung
eines besondern Almosenschaffners, des trefflichen
Lucas Hackfurt, sein Almosenamt weiter ausgebaut und
in seiner Selbständigkeit gesichert, so daß es „dauernd
eine weltliche Gemeindeanstalt mit selbständigem Vermögen
" (207) blieb, während in Nürnberg und vielerorts
sonst die Armenpflege aufs neue der Kirche unterstellt
und damit um ihre finanzielle Selbständigkeit und
ihre Leistungsfähigkeit gebracht wurde. Ein Hauptruhmestitel
der Stadt Straßburg ist, daß sie, entgegen
dem Wortlaut ihrer Ordnung und im Gegensatz zu den
meisten andern evangelischen Städten, den fremden Notleidenden
fast so viel Entgegenkommen bewies wie den
einheimischen und in Zeiten der Teurung und des Kriegselendes
deren Tausende längere Zeit beherbergte. So
bietet W.s Arbeit eine höchst anschauliche Einzelillustration
zu Uhlhorns Gesamtdarstellung. Daß für die
Reformationsgeschichte allerlei abfällt, ist selbstverständlich
, vgl. z. B. die Nachweisungen über die Verteilung
der Klostergüter an die einzelnen Anstalten.

Der zweite Teil bietet auf fast 300 Seiten, eine
musterhaft sorgfältige Auswahl von Urkunden und
Aktenstücken, wobei das Almosenwesen der Reformationszeit
den breitesten Raum einnimmt. Mit dem wichtigsten
Dokument, der Almosenordnung von 1523 (Nr.
43 u. 48), sind zu vergleichen die Armenordnungen von
Nürnberg, Kitzingen, Regensburg und Ypern. die W. im
Archiv f. Ret.-üesch. X, 242 ff. XI, 1 ff. kritisch ediert
und in der Histor. Vierteljahrsschrift (s. o.) auf ihr
Verhältnis untersucht hat. Bemerkenswert sind überdies

der Bericht des Diakonus Berner von 1531 (Nr. 204)
über die Armenordnungen zahlreicher von ihm besuchter
evangelischer Städte und die vielen Eingaben Hackfurts
an den Magistrat, die seiner Tüchtigkeit wie seinem
warmen Herzen ein glänzendes Zeugnis ausstellen. Ein
Auszug aus Hackfurts Register über die Unterstützung
auswärtiger Armer 1530—47 (Nr. 197) bietet zahlreiche
reformationsgeschichtlich interessante Namen.

Bonn. Anrieh.

Clemen, Prof. D.Dr. Otto: Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte
aus Riga, Reval und Mitau. Berlin : F. Wurtz 1919.
(281 S.) 8° = Baltische Bücherei Bd. 19.

Der vorliegende 19. Band der „Baltischen Bücherei
", der durch Schuld des Rezensenten erst jetzt zur Anzeige
kommt, ist nicht die einzige literarische Kriegsfrucht
Otto Clemens; er hat bekanntlich in derselben
Bücherreihe als Bd. 3 „Die Briefe an Elisa von der
Recke" nach den Originalen in der Mitauer Museumsbibliothek
herausgegeben und als Bd. 7 mancherlei „Aus
Kurländischen Reisetagebüchern" veröffentlicht, — abgesehen
von Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften.
Auch die im vorliegenden Band gesammelten 54 Beiträge
meist geringen Umfangs zeigen wieder die engen Beziehungen
dieser Ostseeprovinzen zum deutschen Geistesleben
, mag es sich um Literarisches, Künstlerisches oder
Wissenschaftliches, um Funde aus dem Reformationsjahrhundert
oder um Briefe und Personencharakteristiken
aus der Zeit der Aufklärung und des deutschen Idealismus
oder um Gegenwärtiges handeln. Theologisch interessiert
nur Weniges. Der erste Aufsatz über das Straßburger
Würfelbuch von 1529, das Cl. in Mitau fand,
ist inzwischen durch Alfred Goezes Faksimiledruck
dieses zu den Orakel- oder Losbüchern gehörigen Schriftchens
mit seiner ausführlichen Einleitung überholt. In
Reval fand Cl. (S. 269 ff.) eine Anzahl niederdeutscher
Lutherdrucke, die bisher unbekannt waren oder, obwohl
bibliographisch bekannt, doch auch den betreffenden
Mitarbeitern der Weimarer Ausgabe nicht zu Gesicht gekommen
waren (darunter das „Betbüchlein", Hamburg
1523, und dessen 2. Bearbeitung, Wittenberg, Melchior
Lotther d. J. 27. April 1523; die mit Luthers Vorrede
versehene Öconomia Christiana des Justus Menius,
Magdeburg 1532). Cl. gibt hier aber nur die Titel an,
während andere seiner Aufsätze die Texte in extenso
geben. Besonders interessieren ihn Briefe und Tagebücher
. Das daraus Mitgeteilte bezieht sich häufig auf
den Kreis der Elisa von der Recke. In dem Brief des
als Göttinger Theologen bekannten Joh. Benj. Koppe
S. 39 f. interessiert die auf Kants von ihm bekanntlich
abgelehnte Berufung an das Mitauer Petrinum (1775)
bezügliche Stelle. Das Tagebuchexzerpt über Klopstock
S. 51 ff. enthält ein für Rlopstock kennzeichnendes
Lob der Metaphysik Leibnizens und Joh. Hnr. Lamberts
auf Kosten Kants, dem es an mathematischer Deduktion
mangele. Die Skizze „Ein Livländer und preußischer
Feldwebel als Verehrer Gellerts" (S. 41 ff.) illustriert
gut die seelsorgerliche Wertung Gellerts in weiten Volkskreisen
. Von den drei bisher unbekannten Wieland-
briefen (S. 56—69) nimmt der vom 1. Aug. 1789 Stellung
im Streit um Joh. Aug. Starck, seinen Krypfo-
calvinismus und seine Kritik an Elisa von der Recke, die
„so verehrungswürdige Frau", die er gegen jenen „ge-
fühl- und schamlosen" Menschen in Schutz nimmt. Von
sonstigen Skizzen nenne ich noch die S. 12 ff. über Paul
Fleming in Reval, wo der Dichter 1635/36 und 1639
geweilt hat, und die auf Goethe bezüglichen (S. 78—106).

Cl.s Veröffentlichungen verfolgen ja den Zweck, zu
einer intensiveren Beschäftigung mit der Kultur, den
Sprachen und dem Volkstum der Ostseeprovinzen anzuregen
. Er erstrebte unter dem Einfluß der deutschen
Kriegserfolge im Osten Hand in Hand mit Anderen den
energischen Ausbau von Verbindungen, die immer wieder
einmal in früheren Zeiten angeknüpft, aber nicht weitergeführt
waren; er erinnert z. B. an die auf eben dieses
Ziel gehenden wissenschaftlichen Bemühungen Johann