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Ausgabe:

1923 Nr. 15

Spalte:

330-331

Autor/Hrsg.:

Jörgensen, A. Th.

Titel/Untertitel:

Filantropiens Förere og Former i det nittende Aarhundrede 1923

Rezensent:

Scheel, Otto

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329

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 15.

330

parallel läuft, und deren Herausarbeitung aus ihren bei Cocceius oft
nur versteckten Spuren ein besonderes Verdienst Schrenks ist. Indem
Cocceius den siebenfachen periodischen Rhythmus des Reichs unter den
Feinden bis in die Gegenwart und an das Ende der Dinge weiterführt,
gewinnt er ein aktuelles Moment seiner Reichsbetrachtung, durch das
er besonders mächtig auf seine Zeit gewirkt hat.

In Summa wird als das Charakteristische bei Cocceius
erkannt einmal die prinzipielle Durchbrechung des
aphoristischen Dogmatismus durch die geschichtlich belebte
Bewegung, etwas wie eine stufenmäßige Qnaden-
erziehung des Menschengeschlechts, die der barocke
heilsgeschichtliche Theologe in die Systematik gleich
von 2 Zentralmotiven aus hereinträgt, dann neu und bes.
wichtig zweitens, daß dieser große Schrifttheologe nicht
nur der Höhepunkt der Föderaltheologie, sondern vor
allem der „erste große Reichstheologe" gewesen ist.
Hiermit ist in der Tat nicht nur eine gründliche, auch eine
stark bereicherte Kenntnis des Mannes gegeben, für den
das regnum Dei — in schärfster moderner Fassung als
„Herrschen Gottes" — das Hauptthema seiner Korrespondenz
und seines ganzen Lebens war. Die ältere Darstellung
des Cocceius erscheint durch Schrenks aus genauster
Kenntnis der Quellen geschöpfte Ergebnisse
antiquiert.

Es bleibt die Frage, wie weit Schrenk die Einstellung
des Cocceius in den weiteren Rahmen des älteren
Protestantismus gelungen ist.

Ebenfalls sorgfältig und ältere Forschungen gut zusammenfassend
sind die beiden Kapitel über die Geschichte der Föderaltheologie vor
Cocceius und über die Idee des Reiches Gottes im Zeitalter der Reformation
, die den beiden Hauptteilen Schrenks vom Bund und vom
Reich vorausgesetzt sind. Die niederländische Föderaltheologie stammt
teils mehr direkt, teils und besonders über die deutsch reformierte
Kirche, Bremen, Herborn, Marburg, Heidelberg hinweg aus der reformierten
Auseinandersetzung mit dem Täufertum, zumal in Zürich; die
Verwendung der Bundesidee bei der Taufe im v o 1 k s kirchlichen
Interesse sollte die Wiedertäufer oder „Bundgenossen" widerlegen.
Doch kommen Einflüsse Melanchtthons, nicht so des Lutherschülers,
als des Humanisten, die naturrechtliche Motive weitergeben, milt
herein. Wemi später neben Cocceius selbst nicht ohne gegenseitige
Berührung eine staatsrechtliche säcularisiertc Parallele zur Reichstheologie
in Hobbes und Hoocker und ihren Ideen vom „Staatsvertrag"
einherläuft, so scheint Schrenks Hindeutung, daß hier noch Probleme
vorliegen, vielleicht darin erweitert werden zu müssen, daß überhaupt
auf humanistisch-deistische Untergründe der bei Cocceius biblizistiscb
geprägten Gedanken noch mehr zu achten wäre. Ich bin hier nicht
genug orientiert, um mehr als eine Frage wagen zu können. Cocceius
verlöre dann vielleicht etwas von der Betonung, die ihm Schrenk gibt,
um so mehr, als sein eigentliches Hauptverdienst nach Schrenk, die
Reichsidee, doch zu den allgemeinsten religiösen Ideen der Reformationszeit
gehört. Schrenk selbst bietet darüber eine sehr gut orientierte
Ubersicht und macht auch selbst erstmalig darauf aufmerksam,
daß Cocceius Reichstheologie in Episcopius noch einen besondern humanistischen
Vorläufer besitzt, von dem er dann freilich den Cocceius sofort
wieder möglichst weit abrücken läßt. Ohne Zweifel ist es ganz richtig
, daß in Cocc. Reichstheologie sich auf dem Boden eines Barockbib-
licismus mannigfache Elemente einer Reichslehre bes. aus Calvinismus und
Täufertum, auch Staatskirchentum wie in einem Sammelbecken, weniger
w'e in einem Brennpunkt zusammengefunden haben. Wie hoch aber
diese Hauptleistung des Cocceius eigentlich einzuschätzen ist, kann
erst aus ihren Wirkungen auf die weitere Entwicklung ganz abgelesen
werden.

So geht man mit bes. gespannter Erwartung an den
Schlußteil des Buchs: die cocceianische Gedankenwelt
•n ihren geschichtlichen Auswirkungen. Noch gespannter
wäre man, wenn an dieser Stelle an einem solchen
Glanzbeispiel wie der Föderaltheologie eine bewußte
Nachprüfung der westlichen Orientierung über den Pietismus
erfolgte. Leider fehlt aber nicht nur diese, grade
dieser für die größere Geschichtsschreibung entscheidende
Schlußteil hält sich überhaupt nicht mehr ganz auf
der bisherigen Höhe des Buchs. Allzu kurz, eigentlich
ni'r in Skizzenform, werden uns die Einflüsse des Cocce-
jus auf die Separatisten, auf die ruhige reformierte kirchliche
Entwicklung, auf die lutherische Kirche (Spener,
Manis, Franke, Bengel, Crusius), auf die überkonfessionellen
Vorläufer der westlichen Erweckung Collen-
busch, Hasenkamp, Menken und endlich auf die Erlanger
■Theologie von Hofmanns vorgeführt. Die Idee ist deutsch
nur die, den Anteil des Cocceius bei dem an sich
unbestreitbaren Einstrom des Pietismus aus dem Westen

nach dem Osten genauer zu verfolgen. Auch hier liegt
an und für sich überall ernste Arbeit vor. Besonders
bemerkenswert ist die erstmalig auf Grund des Nachlasses
des reformierten Erlanger Professors Chr. Krafft
versuchte genauere Erfassung des Einflusses, den dieser
Mann — als Vermittler indirekt — cocceianischer Ideen —
auf von Hofmann geübt hat. Aber es wird zumeist die
Tatsache der Nennung und Verwertung cocceianischen
Gutes nur einfach registriert, indessen nicht gegenüber
andern Einflußquellen wirklich abgewogen. Besonders
vermisse ich das bei den Separatisten. Wenn Petersen
sich selbst vor allem auf Spener und Böhme zurückführt
und von der Orthodoxie des „Weigelianismus" und
Chiliasmus angeklagt wird, so wird man die Herübernahme
coccejanischer Apokalypsenauslegung bei ihm
nur als gelegentliche Verwendung für eine an sich im
Luthertum eigen gewachsene Grundstimmung werten.
In dieser Weise haben schon seit 1600 die lutherischen
Enthusiasten und Vorläufer des Pietismus alles erreichbare
fremde Gut gesammelt und verwendet, der separatistische
Pietismus ganz besonders auch englische Literatur
. Ebenso ist es beim kirchlichen lutherischen Pietismus
. Da Schrenk die spezielle Problematik des lutherischen
Pietismus, ja, vielleicht überhaupt diesen Pietismus
nicht ganz genügend kennt, überschätzt er die
Verwendungen und Lobsprüche des Cocc, mit denen die
Pietisten ja allem nur Erbauung Fördernden gegenüber
so schnell zur Hand sind. Hierdurch werden auch die
Nachweise späterer indirekter Einwirkungen des Cocceius
mitentwertet, und auch der doch recht unsicher bleibende
Kanzelcocceianismus wird als Übermittler cocceianischer
Ideen das Bild nicht ändern können. So scheidet man
von dem Buch mit Dank für die wissenschaftliche Bereicherung
in der Kenntnis des Cocceius und seiner Vorläufer
, und mit dem Wunsche, daß das damit gebotene
Material bald bei einer neuen umfassenden Durchprüfung
der Ursprünge des Pietismus Verwendung finden möge.
Die Nachweise Schrenks über den Einfluß des Cocceius
in das Lutherturn bleiben inbezug auf ihren wahren Wert
noch unabgewogen und können den Rezensenten in der
Überzeugung nicht erschüttern, daß es sich in der Zeit
des Pietismus in England, reformiertem Westen und
lutherischem Osten überall um eigengewachsene Gebilde
handelt, nur daß im Westen die Entwicklung dem
Osten voraus ist und infolgedessen hin und her formale
Übernahmen westlichen Gutes stattfinden. Die tiefere
Einheit der 3 Erscheinungen aber kann nicht durch einfache
Übernahme erklärt werden, sondern muß in viel
tiefer liegenden Untergründen gesucht und gefunden
werden.

Greifswald. W. Koepp.

Jörgensen, A. Th.: Filantropiens Förere og Former 1 det
nittende Aarhundrede. Kopenhagen: Vlg. Gyldendal 1021. (191S.)

Ein Referat ist hier nicht möglich. Der Bilder
sind zu viele. Es muß mit einer allgemeinen Anzeige
sein Bewenden haben. Nach einem kurzen Überblick über
die Not und die Philanthropie an der Schwelle des
19. Jahrhunderts werden im ersten Hauptabschnitt die
philanthropischen Führer und ihre Leistungen gezeichnet
. Der Verfasser macht die zeitlichen Einschnitte
1848 und 1890. Für die erste Periode bis 1848 ist bezeichnend
, daß fast ausschließend einzelne Persönlichkeiten
die philantropische Arbeit tun. Mit Ausnahme
Englands sind die Verhältnisse in der Regel so, daß der
Staat nur so weit die Initiative ergreift, als das Interesse
des Fürsten reicht. Wo die Gesellschaft ernstlich sich philanthropischen
Aufgaben zuwendet, müssen die Gemeinden
die Lasten tragen; aber selbst in den Gemeinden sind es
einzelne Personen, welche Reformen verlangen und
durchsetzen. Die Initiative liegt im wesentlichen bei
Privatpersonen, die von der Not ergriffen auf Abhilfe
bedacht sind und gewöhnlich neue Einrichtungen schaffen
, die wiederum gewöhnlich einen privaten Charakter
haben. Das Jahr 1848 bringt die Änderung. Jetzt erhebt
sich die Demokratie. Die philanthropischen Ideen ergreifen
das Volk. Die Zeit von 1848—1890 erhält ihr Ge-