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Ausgabe:

1923 Nr. 15

Spalte:

321-324

Autor/Hrsg.:

Grill, Julius

Titel/Untertitel:

Untersuchungen über die Entstehung des 4. Evangeliums. 2. Teil: Das Mysterienevangelium des hellenisierten kleinasiatischen Christentums 1923

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 15.

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diesem Glauben herausarbeitet. An Stelle der primitiven Vorstellung,
daß das Fortleben nach dem Tod das normale Los jedes Menschen
ist, tritt seit dem Exil der Olaube an die Unsterblichkeit trotz dem
Tod, veranlaßt durch die Erkenntnis von der persönlichen geistigen
Gemeinschaft des Einzelmenschen mit dem Allgott. Verf. sucht die
allmähliche Entwicklung des Unsterblichkeitsglaubens begreiflich zu
machen, wobei er neben Ps. 73 merkwürdigerweise vor allem noch
Ps. 139,7-12 benutzt; er begnügt sich mit ein paar Stellen, auf
Ps. 49 oder 16 z. B. geht er nicht ein. Die Untersuchung geht nicht
in die Tiefe; der Buchtitel ist allem nach wegen der Reklame gewählt;
der primitive Geistesglaube nimmt weitaus den breitesten Raum ein.
Der ägyptische Unsterblichkeitsglaube ist nicht beigezogen.
Tübingen. _jj Volz-

Kaatz, Rabbiner Dr. S.: Die mündliche Lehre und ihr Dogma.

2 Hefte. Berlin: M. Poppelaner 1923. (46 u. VII, 60 S.) 8°
Wie eine Zeit lang aus Unkenntnis oder anderen Gründen
behauptet wurde, das heutige Judentum habe keine
Sekten, so wird noch heute in weitem Umfange das
Dogma Mendelsohn-Hirschs nachgesprochen und vielfach
gegelaubt, daß es ein jüdisches „Dogma" nicht gebe
und nie gegeben habe. Natürlich besitzt auch die jüdische
wie jede andere Offenbarungsreligion eine ganze
Anzahl allgemeiner und besonderer Dogmen (z. B. von
dem Wesen und den Eigenschaften Gottes, vom göttlichen
Ursprünge der Heil. Schrift A. T. u n d der Tradition
, von der Totenerweckung und dem künftigen Leben,
von Israel als auserwähltem Volke usw., nur daß man
sie nicht Dogmen nennen will. Um so verdienstvoller,
weil wissenschaftlich und ehrlich, ist es, daß Kaatz das
für die jüdische Religion besonders bezeichnende Dogma
der mündlichen Lehre (d. h. der die Schrift ergänzenden
und erläuternden Tradition) zum Gegenstande einer
ebenso wissenschaftlich wertvollen wie gemeinverständlichen
, in vieler Hinsicht bahnbrechenden Schrift gemacht
hat, die ich ganz besonders unseren dogmengeschichtlich
interessierten Theologen warm empfehle, zumal
da es auf eine Unterdrückung der mutigen Arbeit
abgesehen zu sein scheint. Nach einleitenden Ausführungen
über die talmudische mündliche Lehre (Tradition
) überhaupt und über Schrift- und Traditionsdogma
behandelt Heft 1 das letztgenannte in der Haggadah,
Heft 2 dasselbe in der Halachah des Talmuds und kennzeichnet
abschließend das Wesen des Dogmas der mündlichen
Lehre. Obwohl sich der hohen Satzkosten wegen
Verf. auf das Nötigste beschränken mußte und in Einzelheiten
dies oder jenes sich auch wohl anders auffassen
ließe, hat er doch eine hervorragende Arbeit geliefert.

Leipzig. Erich Bischoff.

Grill, Prof. D. Dr. Julius: Untersuchungen üßer die Entstehung
des 4. Evangeliums. 2. Teil: Das Mysterienevangelium des
hellenisierten kleinasiatischen Christentums. Tübingen: J. C. B.
Mohr 1923. (VII, 443 S.) gr. 8° Oz. 9.

Daß der ehrwürdige Senior der evangelisch-theologischen
Fakultät in Tübingen in seinem 83. Lebensjahre
dem 1902 erschienenen ersten Bande seiner Untersuchungen
über die Entstehung des vierten Evangeliums
einen zweiten, abschließenden hat folgen lassen können,
wird er selbst und werden alle seine Freunde als seltenes
Glück empfinden. Das Buch zeigt ihn auch noch
im Vollbesitz seiner Kraft, ja es stellt wohl seine bisher
glänzendste schriftstellerische Leistung dar. Gr.
erweist sich in ihm als auf den verschiedensten Gebieten
zu Haus; er beherrscht nicht nur das alte und
neue Testament, sondern auch die griechische und (auf
Grund der Originalquellen) die indische und persische
Religion. Er ist mit allen Seiten des von ihm behandelten
Problems vertraut und kennt die Literatur darüber in
einem seltenen Umfang. Ich selbst bin ihm noch dafür
dankbar, daß er nicht nur meine religionsgeschichtliche
Erklärung des N.T.s, die ja auch sonst als Nachschlagebuch
viel benutzt wird, sondern ebenso meine
spätem Veröffentlichungen über das N.T. berücksichtigt
, die z. B. in dieser Zeitung zumeist totgeschwiegen
worden sind.

Ich kann ihm auch mit Bezug auf den vierten, Entstehung
und Zweck des Schriftwerks behandelnden Abschnitt
, selbst wo ich früher anders urteilte, in weitem
Maße zustimmen; namentlich der ephesische Aufenthalt
des Apostels Johannes ist mir nicht mehr so sicher wie
früher und wie Loofs, der ihn seither (Wer war Jesus
Christus? 93 ff.) als geschichtlich zu erweisen suchte.
Dagegen halte ich den vierten Evangelisten immer noch
für einen Judenchristen und glaube, daß, wenn auch
nicht Ignatius, so doch Polykarp von der johanneischen
Literatur abhängig ist. Ich sehe auch keinen genügenden
Grund, das vierte Evangelium erst nach dem Barkochba-
Aufstand anzusetzen; ja wenn in der Aelia Capitolina
durch Hadrian neben Zeus als Erster Dionysos zu Ehren
gebracht worden ist, so erscheint es mir gerade schwer
denkbar, daß „Johannes" ihn als Typus auf Jesus betrachtet
habe, wie es doch die Hauptthese Gr.s ist.

Er bereitet sie in einem ersten Abschnitt zunächst
durch die Behauptung vor, die „Zeichen" des Johannesevangeliums
sollten nicht Glauben wecken, sondern bestätigen
und stärken, und das Wunder von Kana solle
auf die durch Jesus zu bewirkende Steigerung, Veredelung
und Vollendung der menschlichen Lebensfreude
hinweisen. Daraus wird nämlich gefolgert, dieser gelte
als das Gegenbild zu Dionysos, und entsprechend werden
(im zweiten Abschnitt) nun auch zahlreiche andere Stellen
erklärt.

Dabei sind auch nach Gr. selbst die einen deutlicher als
andre; es frägt sich aber, ob wenigstens gleich zu Anfang des Evangeliums
die Bezugnahme auf den Gott so unverkennbar ist, daß die
Leser ihn auch an weniger einleuchtenden spätem Stellen doch wiederfinden
mußten. Ich bespreche also im Unterschiede von ihm die in
Betracht kommenden Abschnitte in der Reihenfolge, in der sie im
Evangelium stehen, und kann da allerdings zunächst in der Aussage
über den Täufer (nicht Jesus!) 1,7: outoc rjXH-tv zic lurcprij()t«»', Iva
fiuQTVQ^ari ntQi tov qianos keinen Hinweis auf den weissagenden
Dionysos sehen. Auch wenn Gr. das Wort V. 11 (in sein Eigentum
kam er und die Seinen nahmen ihn nicht auf) mit der Bezeichnung
des Dionysos als inuxulmog, bez. der Sitte, bei der Einweihung in
die Sabazios (!) - Mysterien dem Mysten, um ihn dadurch mit dem
Gott zu vermählen, eine goldene Schlange durch den Schoß zu ziehen,
zusammenbringt, so ist das gewiß eine sehr kühne und fernliegende
Deutung. Geht es dann weiter: so viele ihn aber aufnahmen, ihnen
hat er die Macht gegeben, Gottes Kinder zu werden, die nicht aus
Blut und nicht aus Fleisches-, nicht aus Manneswillen, sondern aus
Gott gezeugt sind, so sieht Gr. darin wohl zugleich eine Anspielung
auf die Menschwerdung des Logos, von der ja dann V. 14 die Rede
ist, ohne daß doch s. M. n. der Ausdruck um'oy£vi<; auf sie bezogen
werden dürfte, und konnte daher fortfahren: „haben wir es ... im
Prolog... christologisch mit dem Oeheimnis einer vorzeitlichen und
zeitlichen Zeugung zu tun, lo lag für die vergleichende Betrachtung
des Evangelisten . . . schon zum Eingang die religionsgeschichtlich-
mythologische Parallele der doppelten Geburt des Dionysos (durch
Semele und Zeus) vor." Aber auch darauf wäre mindestens kein Leser
gekommen, der nur das Vorhergehende kannte; ja daß „die vom
ava(j>iqtLv der LXX abweichende Wahl von a'iqsiv" V. 29 auffällig sei
und an das xa&aifttf des Dionysos erinnere, bezeichnet Gr. selbst
nur als eine Möglichkeit.

Und haben wir nun wirklich in 2,1 ff. die „verblüffendste Darstellung
Jesu in seiner antitypisch-dionysischen Rolle?" Wie Dupuis
Barrows und Heitmüller, die Gr. selbst anführt, erklärten die Geschichte
auch schon Robertson, A. Meyer, Bousset, Windisch, Dibe-
lius, Bultmann, Vürtheim, Jakoby aus der bekannten Kultsage von
Andros, ja Gr. verweist noch darauf, daß Dionysos seine wundersame
Gabenfülle am Tage seiner Vermählung offenbart und daß der Hauptfesttag
der attischen Dionysien oder Anthisterien der Tag der Choen
war, an dem jeder Gast seinen Jfoft auserlesenen Weines bekam. Selbst
die Joh. 2 erwähnte Mutter Jesu deutet er auf Semele: „sie gerade,die
... den Pflegerinnen des Gottes, den Wassernymphen". . . besonders
nahesteht, läßt erraten, warum die Mutter Jesu es ist, die ihn zur
Verrichtung des Weinwunders antreibt." Schließlich soll auch der Name
der Örtlichkeit an nJJJj, Rohr und die sumpfige Umgebung der

Dionysosheiligtümer oder den Thyrsos erinnern, oder endlich an die
Stadt Kuvta gegenüber der Insel Lesbos, „einer Hauptstätte des
Dionysoskults". Oewiß sieht Gr. selbst in alle dem nur Bestätigungen
seiner Erklärung des Weinwunders; aber auch diese selbst ist
nicht sicher. Sie wäre es nur, wenn sie andre Züge in derselben Erzählung
oder im Vorhergehenden verlangten, und das ist eben nicht der Fall.

Damit ist freilich auch die Hauptstütze für die Gr.'sehe „Lösung
des johanneischen Problems" gefallen; die andern Beweise für sie sind
erst recht nicht einleuchtend, ja gelegentlich geradezu bedenklich. So
erklärt er den Umstand, daß der vierte Evangelist den zu der „allbeherrschenden
Logosidee" eigentlich nicht passenden Einzug in Jeru-