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Ausgabe:

1923 Nr. 14

Spalte:

309-310

Autor/Hrsg.:

Fleischmann, Albert

Titel/Untertitel:

Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Natur- u. Geisteswissenschaft 1923

Rezensent:

Titius, Arthur

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809

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 14.

310

thesenbildung fortdauern wird, bleibt abzuwarten. An
Anzeichen dafür, das I.s Auffassung einer in Psychologie
und Biologie bereits überwundenen Phase der Wissenschaft
angehört, fehlt es nicht. Jedenfalls dürfen wir
betonen, daß Logik, Psychologie, Ethik und Religions-
philosophie der ihnen gelungenen Erfassung der geistigen
Wirklichkeit im Vergleich mit der wirklichen Leistung
jener Hypothesen sich nicht zu schämen brauchen.

Fleischmann, Prof. Dr. Albert u. Grützmacher, Prof. Dr.
Richard: Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen
Natur- u. Geisteswissenschaft. Ein Rhu; jrenicinverst. Vorlesungen
f. Hörer aller Abteilungen, gehalten a.d. Erlanger Univ. im Winter
1921/22. Leipzig: A. Deichert 1922. (189 S.) 8". Gz. 4,2.

Daß zwei Vertreter so verschiedener Fachwissenschaften
, wie es Zoologie und Theologie sind, sich zu einer
Vorlesung für alle Fakultäten zusammenfanden, ist höchst
anerkennenswert. Die dafür erforderliche gleichartige
Stellung ist in der stark kritischen Einstellung gegenüber
dem Evolutionismus gegeben, doch halten sich beide
Forscher im übrigen ganz selbständig und bleiben innerhalb
ihres eignen Wissensgebietes stehen. Fleischmanns
Bekämpfung des Evolutionismus als einer rein spekulativen
Hypothese ist aus seinen Schriften über Deszendenztheorie
1901 und über die Darwinsche Theorie 1902
bekannt. Im Vorliegenden macht er insbesondere die
neueren Forschungen über Variabilität und Erblichkeit
gegen den Darwinismus geltend und führt diesen letztlich
auf eine Verwechslung der systematischen Ordnung
Linnes mit einem realen Zusammenhang der Tierklassen
zurück. Am besten gelungen und sehr lesenswert ist die
Ausführung über den Tierkörper als lebende Einheit, die
am Haubtier, am Pflanzenfresser, an Vogel, Schlange und
Fisch sehr anschaulich gemacht wird. Es wäre sehr
dankenswert, wenn F. diese Darstellung zu einer eingehenden
Betrachtung über die so wichtigen und doch
so dunkeln Tendenzen organischer Korrelation und
Symmetrie erweitern wollte. Als warmen Freund der
Entwicklungslehre bekennt sich F. dort, wo sie empirischer
Forschung zugänglich ist d. h. auf dem Gebiete der
Embryologie und Gewebelehre; aus genauer Kenntnis
heraus illustriert er den Sachverhalt am Werdeprozeß der
Honigbiene. Unfruchtbar dagegen erscheint ihm die Erörterung
über die Phylogenese, die rein spekulativ bleiben
müsse. Auch in den paläontologischen Funden erblickt
er keinen Beweis für die Wahrheit der Artveränderung
; an diesem Punkte ist, soweit ich sehen kann,
seine Stellung in der Fachwissenschaft sehr isoliert; bedauerlich
ist besonders, daß er über die neueren Funde
menschlicher Reste sich gänzlich ausschweigt. — ürütz-
macher verfolgt den Entwicklungsgedanken auf dem
Gebiet der Geisteswissenschaften; in wechselseitigem
Zusammenhang mit jenem steht „als sein Ausdruck und
seine Bestätigung eine optimistisch gestimmte, rational
gerichtete, immanent-monistische Weltanschauung". Indem
mit dieser die Universalgeschichte, die Kulturgeschichte
Europas, die Geschichte des sittlichen Lebens
und seiner Ideale, die allgemeine Religionsgeschichte,
die Christentumsgeschichte konfrontiert werden, zeigt
sich, daß keinesfalls alle Gebiete der Wirklichkeit sich
in denselben Denkrahmen fassen lassen, sondern die verschiedenen
Lebensgebiete eine eigne Art von Bewegung
zeigen; ferner daß Stetigkeit und Fortschritt nur auf
begrenzten Strecken wahrnehmbar sind und insbesondre
an den größten geschichtlichen Schöpfungen ihre Grenze
finden. Wie wir in der Geschichte der Philosophie
ein Neben- und Widereinander verschiedener Grundtypen
antreffen, so in der Kunst; insbesondere ist Europas
Kulturgeschichte durch Kampf und Vermischung
zweier beharrender Grundformen, des antiken und christlichen
, in ihrer Eigenart bestimmt. Auch der Wechsel
der sittlichen Ideale verläuft nicht in der Form der Entwicklung
; die Kraft, welche die Idee des Guten in der
Wirklichkeit zeigt, berechtigt ebenfalls nicht zu Optimismus
; vollends verstärkt die Religionsgeschichte mit ihren

unberechenbaren Wandlungen, Hebungen und Senkungen
den Eindruck des irrationalen, pessimistisch stimmenden
Eindrucks der Wirklichkeit, und dieser Pessimismus wird
nicht durch einen entwicklungsgeschichtlichen Glauben
an die irdische Zukunft überwunden, sondern durch das
mutige Vertrauen auf eine wirklich religiöse Ueberwelt.
Im Entwicklungsgedanken sind exakte Wissenschaft und
religiöser Glaube eine unnatürliche und für beide Teile
unerträgliche Verbindung eingegangen, die es zu lösen
gilt. Diesem Urteil stimme ich, soweit es sich um den
Entwicklungsgedanken als Weltanschauung im obigen
Sinne handelt, vollinhaltlich zu und kann auch die eindrucksvolle
Begründung, die G. bietet, nachzulesen nur
empfehlen. Vielleicht wäre die Ausführung noch wirksamer
, wenn stärker hervorgehoben wäre, in welcher
Form' wir das Entwicklungsprinzip auf dem Boden alles
wissenschaftlichen Erkennens anerkennen und üben: als
heuristische Methode, welche die Stetigkeit des Werdeprozesses
und die Korrelation aller seiner Teile aufzuweisen
bemüht bleibt; ferner hätte stärker geltend gemacht
werden dürfen (wozu Ansätze nicht fehlen), daß eine solche
Stetigkeit sich unverkennbar auf vielen Gebieten mindestens
periodisch nachweisen läßt und daß auch Gegen-
[ sätze vielfach zu höheren Einheiten verwoben werden.
Nicht zustimmen kann ich der völligen Lösung des religiösen
Glaubens von einem „entwicklungsgeschichtlichen
" Glauben an die irdische Zukunft. Diese Verbindung
hat bereits große historische Wirkungen gehabt;
sie ist auch die notwendige Voraussetzung des ethischen
Idealismus, soweit dieser über die Selbstbewahrung hinausgeht
; sie hat endlich im Urchristentum und im
Christentum der Reformation (wie selbstverständlich im
abendl. Katholizismus) starke Wurzeln.

Berlin. Titius.

Bub er, Martin: Ich und Du. Leipzig: Insel-Verlag. (138 S.) 8*
Ein dithyrambisch-mystischer Erguß, mit Aphorismen
beginnend, dann zu längeren Ausführungen fortschreitend
, doch stets schulmäßig-wissenschaftliche Form
und den Anschein erschöpfender Vollständigkeit vermeidend
. Alle Einzelheiten mit Klarheit zu durchdringen,
wird Wenigen gegeben sein, aber an dem Ganzen als
einem energischen Versuch, zum Wesen der Religion
vorzudringen, habe ich meine Freude: Zwei Grundhaltungen
des Menschen gibt es; wählen wir als ihren
Ausdruck Ich-Du und Ich-Es. Das Reich des Es ist die
Welt der Erfahrung in ihrem räumlich-zeitlich-kausalen
Zusammenhang. Aber die Welt der Erfahrung, auch
wenn wir die „innere" und die „geheime" hinzunehmen,
also das ganze Reich der Kausalzusammenhänge erschöpfen
, ist nicht das Ganze; nie erschöpft sich darin
das ganze Wesen; wohl aber/wo Du gesprochen wird;
hier entsteht die Welt der Beziehung, am ausdrücklichsten
den Menschen gegenüber, aber ebenso, wenn
auch unsagbar, den Kreaturen und den geistigen
| Wesenheiten gegenüber. Vor der Unmittelbarkeit der
Beziehung wird alles Mittelbare unerheblich; sie ist zeit-
| los gegenwärtig; wer dagegen sich an den Dingen ge-
I nügen läßt, die er erfährt, lebt nur im Gewordenen in
der Vergangenheit. Mit jener Welt der Beziehung' ist
nicht eine Ideenwelt, eine Welt des Überbaus gemeint
| sondern die wirkliche; sie ist auch nicht als eine Welt
j des Gefühls gemeint, wiewohl sie von Gefühlen um-
! spült wird, sondern als metaphysische und metapsychi-
j sehe Wesensbeziehung, die eine Gegenseitigkeit" des
Wirkens einschließt. Auf diese wahre ursprüngliche Einheit
, die gelebte Beziehung kommt alles an. In Mana
oder Orenda der Primitiven findet B. eine Andeutung
; davon, ein „immer neues Aufblitzen, Ausfahren und Sich-
[ hinwirken der Kraft", das nichts mit Allbeseelung, nur
! mit dem Trieb zur Allbeziehung zu tun hat; im Kinde
i hegt diese Ursprunglichkeit des Beziehungsstrebens zu
tage als Kategorie des Wesens, Seelenmodell, „das eingeborene
Du". Am Du wird der Mensch zum Ich und
I erst, indem er sich zum Ich zusammenfindet, stellt er
I auch die Dinge in ihren geordneten Zusammenhang