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Ausgabe:

1923 Nr. 14

Spalte:

307-309

Autor/Hrsg.:

Ingenieros, José

Titel/Untertitel:

Prinzipien der biologischen Psychologie 1923

Rezensent:

Titius, Arthur

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307

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 14.

30»

wiß Sache des „Stilgefühls"; ich aber habe den Eindruck,
daß zwischen der Geistigkeit Plotins und derjenigen
Piatons noch eine erhebliche und prinzipielle Differenz
besteht. Doch kann ich das hier nicht weiter ausführen.
— Der Abschnitt „Text und Uebefsetzung" gibt zunächst
die echten, dann ohne Uebersetzung die unechten Briefe.
Die Uebersetzung ist in erster Linie als Kommentar gedacht
— hätte darum aber auch wohl mit größerer Vorsicht
Unklarheiten wie 343 d. f. vermeiden müssen —,
und soll durch den in vieler Hinsicht wertvollen eigentlichen
Kommentar nur ergänzt werden. Dieser bildet
nebst einem Register den Schluß der sehr dankenswerten
Arbeit.

Königsberg i. Pr. Goedeckemeyer.

Ingenieros, Prof. Jose: Prinzipien der biologischen Psychologie
. Übersetzung a. d. Spanischen v. Julius Reinking. Mit einer
Einführung v. Wilhelm Ostwaid. Leipzig: Felix Meiner 1922. (XII,
397 S.) 8°. Gz. 10.

Von einem naturalistischen Realismus aus, dessen
klarsten Ausdruck er bei Wilh. Ostwald findet (S. 369)
hat der spanische Autor ein Werk geschaffen, das zwar
vom üblichen Inhalt der Psychologie wenig enthält, aber
die psychischen Funktionen der lebenden Organismen
aus biologischen Tendenzen heraus phylogenetisch und
ontogenetisch zu verstehen und insbesondre ohne alle
„übernatürlichen" Faktoren, wie Geist, Seele, Zweck,
Schöpfung und dergl. zu begreifen versucht. Daß dabei
viel hypothetisch bleibt, ist 1. durchaus bewußt, aber er
meint eben, daß auf seine Hypothese die biologische
Wissenschaft selbst hinweist in Gegensatz zu Wundts
verstecktem Dualismus oder Bergsons Intuitionismus.
Die Durchführung geschieht mit so anerkennenswerter
Konsequenz, Klarheit und Sachkunde, daß man auch von
einem ganz andern Standpunkte aus der Geschlossenheit
seiner Darstellung mit Interesse folgt. Es kommt hinzu,
daß die reichlichen Mitteilungen aus der Literatur sich
überwiegend auf romanische Autoren beziehen, die uns
weniger bekannt sind und viel Neues bringen. Nach einleitenden
Betrachtungen über die „wissenschaftliche"
Philosophie als Metaphysik der Erfahrung wird die
Kontinuität der Entwicklung von der Materie bis zur
„bewußten Persönlichkeit" und zur Denkfunktion vorgeführt
, worauf methodologische Ausführungen („die
psychologischen Methoden"; „die biologische Psychologie
") den Schluß machen.

Die vorgeführte Entwicklung von der Materie zum
Denken läßt sich etwa so skizzieren: In der Entwicklung
der Energie auf der Erde sind die verschiedenen Arten
der Materie aus einander entstanden, von der einfachsten
atomistischen und molekularen Konstitution ausgehend
bis zur kompliziertesten. Die Erwerbung neuer physikalisch
-chemischer Eigenschaften im Laufe dieser Entwicklung
resultiert aus den neuen intraatomistischen und
intramolekularen Gleichgewichtszuständen. Von den intensivst
radioaktiven bis zu den organisierten und „lebenden
" Formen energetischer Kondensation reicht eine
ununterbrochene Entwicklungsreihe, von der wir freilich
nur eine gewisse Anzahl Zwischenglieder kennen. Gewisse
atomistisch-molekulare Bedingungen wandeln sich
in Eigenschaften um, welche wir Lebensfunktionen
nennen. Die Erwerbung dieser Funktionen ist ein natürliches
Ergebnis der Strukturveränderungen; denn jede
Verschiedenheit der Zusammensetzung überträgt sich in
eine Verschiedenheit der Gleichgewichtsform und der
entsprechenden Funktionen. Reizung ist die Modifizierung
der physikalisch-chemischen Gleichgewichtsbedingungen
eines lebenden Organismus durch den Einfluß der
aut ihn einwirkenden Energien seitens des Mediums, in
dem er lebt; Bewegung ist Wiederherstellung des Gleichgewichts
durch die Reaktionen der ausgelösten und umgewandelten
Lebensenergie. Die psychischen Funktionen
sind daraus in der natürlichen Entwicklung entstanden
als Funktionen der Anpassung oder des Schutzes
des Organismus. Dabei ist die Entwicklung des Stammes
(phylogenetisch), der sozialen Gruppe (sociogenetisch)

und der Individuen (ontogenetisch) zu beachten. Die
Stufen der menschlichen individuellen Psychogenie entsprechen
in der intellektuellen wie in der affektiven Entwicklung
denen der Psychogenie innerhalb der Arten, bis
vom 15. Lebensmonat an die spezifisch menschliche
geistige Entwicklung beginnt. So unterschieden Reizbarkeit
des Protoplasmas und schöpferische Vorstellungskraft
sind, ein Wesensunterschied ist zwischen ihnen nicht
vorhanden. Auch das Bewußtsein läßt sich als eine selbständige
, autonome, dem biologischen Phänomen übergeordnete
Realität nicht begreifen; es ist „nichts als ein
Beschreibungsmerkmal gewisser psychischer Phänomene,
die nur unter bestimmten Bedingungen bewußte sind".
Bewußt ist ein Reiz, wenn er mit der früheren Erfahrung
in Beziehung stehende Reaktionen bewirkt. Die sog.
Einheit des Bewußtseins ist von der physiologischen
Einheit des Organismus abhängig, diese Einheit ist eine
dynamische oder funktionelle, nicht eine statische. Die
Summe der besonderen bewußten Erfahrungen bildet die
bewußte Persönlichkeit, die im ganzen abbaubar erscheint
, von wellenförmiger, dynamischer und in stetiger
Bildung begriffener Intensität und den Modifikationen
der organischen Persönlichkeit und besonders denen des
Zentralnervensystems untergeordnet. Auch die Denkfunktion
ist nur ein Spezialfall der komplexen lebensnotwendigen
Funktionen. Alle Lebewesen „denken" mit
ihrem ganzen Organismus d. h. erwerben experimentell die
strukturellen und funktionellen Modifikationen, welche
der Anpassung an ihre Umwelt am günstigsten sind.
Korrekt „logische" Vorstellungen und Urteile sind auch
beim Menschen ein Ausnahmefall. Die tatsächlichen
Werkzeuge seiner Erkenntnis sind die rudimentären, in-
pliziten, unbewußten, affektiven, gewollten, imaginären,
sophistischen, krankhaften, sozialen, kontradiktorischen
u. a. Vorstellungen. Auch in der ethischen Entwicklung
darf man nicht „metaphysische Transzendentalitäten"
suchen; es gibt keine unveränderlichen ethischen Prinzipien
. „Nichts berechtigt zu der Auffassung, daß die
herrschenden Gesetze einer gewissen Epoche und an
einem bestimmten Orte, abstrakt genommen, besser oder
schlechter als die andern sind. Es läßt sich nur behaupten
, daß sie der im Namen einer sozialen Klasse oder
einer Partei aufstellenden Gruppe am nützlichsten sind.
Jedes Ideal ist ein Glaube an die Möglichkeit einer Vervollkommnung
. Alle können Idealisten sein, wenn sie an
ihrer Lehre sich entzünden können. Mangel an Idealen
ist Versklavung im Bereiche der unmittelbaren Wirklichkeit
.

An die letzte Wendung sei eine Schlußbemerkung
[ angeknüpft; zweifellos kann auch die Einbettung der
Psychologie in Biologie und Energetik als ein Erkennt-
| nisideal aufgefaßt werden. Die Naturbedingtheit unserer
bewußten Persönlichkeit immer vollständiger und tiefer
zu erfassen, ist gewiß ein Gebot nicht nur der Klugheit,
sondern auch der inneren Wahrhaftigkeit. Aber die von
I. geübte Betrachtungsweise bleibt eine rein phänomenologische
. Was er gibt, ist nur ein Kaleidoskop. Welchen
Sinn die von ihm angeführte Entwicklung hat und welche
Wesenskräfte darin wirken, darüber bleibt er die Antwort
schuldig; aber ohne Sinngebung und ohne Wesenhaftig-
keit gibt es kein Ideal, sondern nur „Versklavung im Bereiche
der unmittelbaren Wirklichkeit". Zur Sinngebung
aber fordern auch die Tatsachen der Biologie auf (Leben
und Einheit der Organismen), noch mehr die Tatsachen
der Psychologie (die Bewußtseinsakte, die Bildung zur
Persönlichkeit), die Erschließung eines Wesenhaften bedeuten
. Sobald wir aber Sinngebung fordern, kommen
wir über das Stetigkeitsaxiom, das höchstens in der
Größenrechnung durchführbar ist — und selbst dort nicht
rein! — hinaus zur Diskontinuität des Weltgeschehens,
zur Zerlegung in ursprünglich unterschiedene Elemente,
zugleich zur Erfassung eines über alle Unterschiede übergreifenden
Wesenhaften, das eben darum mit dem unmittelbar
Gegebenen nicht eins sein kann. In welchem
Maße in der biologischen Wissenschaft der Drang zu
einer alle gesicherte Erkenntnis weit überfliegenden Hypo-