Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1923 Nr. 14

Spalte:

292-293

Titel/Untertitel:

Vishnu-Narayana. Texte zur indischen Gottesmystik. Aus dem Sanskrit übertragen von Rudolf Otto 1923

Rezensent:

Glasenapp, Helmuth

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

291

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 14.

292

Nun soll sich die Ausscheidung der angeführten Verse aber auch
durch eine sprachliche Beobachtung bestätigen. Hölscher
weist auf das „präteritale Waw-Perfektum" hin, das in unserer Erzählung
mehrfach vorkommt. Dieser Hinweis hätte doch eigentlich
nur dann Sinn, wenn dieses Waw-Perfektum in der alten Erzählung
vollständig fehlte und wie in andern Zusätzen (z. B. 23,4c) in 23,8a 9
vorkäme; das aber ist nicht der Fall. Diese Verse, auf die allein es
ankommt, werden von dieser sprachlichen Beobachtung nicht berührt.

Aber die Ausscheidung jener Verse stützen auch sachliche Erwägungen
. Wie kann, so fragt Hölscher, wenn Josia so radikal mit
den Höhen umging, so kurz darauf (man denke an Jerm. 18, 13—17;
13, 27) alles schon wieder da sein? Darauf ist zu erwidern: Hölscher
erklärt mit starker Betonung und mit vollem Recht die Reinigung des
Tempels in Jerusalem durch Josia für historisch. Aber gerade in
Jerusalem ist, wie z.B. Ez. 8—11 zeigen, nach einem knappen
Menschenalter bereits alles wieder beim Alten: Fremde Idole, der
Kult fremder Oestirngottheiten usw. Wie viel leichter ist es, sich zu
denken, daß auf 'den Höhen in den Dörfern, der alte Bauernkult, der
durch eine räumliche ferne Obrigkeit gewaltsam ausgerottet war, sehr
bald wieder aufkommen konnte! Besonders nachdrücklich betont H.
eine andere Beobachtung. Der Unterschied zwischen II. Reg. 23,8a 9
(Fernhaltung der Höhenpriester vom Kult in Jerusalem) und Deut. 18, 6
(Ausdrückliche Erklärung, daß jeder Höhenpriester in Jerusalem
opfern darf) beweist, daß das Deut, nicht das Oesetz des Josia gewesen
sein kann. Das Gegenteil ist richtig. II. Reg. 23 ,9 setzt voraus
, daß die Höhenpriester Anspruch haben und erheben, in Jerusalem
zu opfern. Dieser Anspruch muß doch irgendeinen Grund gehabt
haben. Er erklärt sich aufs Einfachste, wenn ihn gerade das neue
Gesetz den Höhenpriestern gegeben hat. Wenn Deut 18,6 nicht da
wäre, müßte man es als Voraussetzung zu U.R. 23,9 geradezu erfinden.

Damit berühren wir eine andere Stütze des Hölscherschen Neubaus
der israelitischen Literaturgeschichte: „Das sind alles praktisch
ganz undurchführbare Vorschriften, die sich nur daraus begreifen, daß
der Gesetzgeber die für die unmittelbar bei den Ortschaften gelegenen
Lokalheiligtümer passenden Bräuche einfach mechanisch nach
Jerusalem verlegt hat, ohne die praktischen Konsequenzen durchzudenken
" (S. 134). Es will mir nicht eingehen, warum dieser „unpraktische
Idealismus", der in der Tat das Deuteronomium kennzeichnet
, vor dem Exil unmöglich sein soll. Gerade der soeben erwähnte
Unterschied zwischen der Forderung des Gesetzes in Deut.
18,6 und der Ausführung in der Kultusreform des Josia (II. Reg.
23,9) zeigt, wie sich die Lebensfremdheit des Gesetzes vom ersten
Augenblick an gerächt hat. Um so begreiflicher, daß es sehr bald
und an vielen Stellen nur noch Theorie und das von ihm Bekämpfte
wieder allenthalben Brauch war.

So kann ich mich einstweilen — H. stellt weitere
Ausführungen in Aussicht — nicht davon überzeugen,
daß Hölschers Einwände gegen die alte Hypothese de
Wettes begründet sind. Viel zu leicht geht erm. E. auch
darüber hinweg, daß er an ihre Stelle keine andere zu
setzen vermag: die Frage, was für ein Buch denn nun
die Grundlage der Reform des Josia gewesen sei,
schiebt er einfach bei Seite: „Damit stellt man an unsere
literarische Überlieferung Ansprüche, die sie ihrer ganzen
Natur nach nicht erfüllen kann und die deshalb auch
nicht gestellt werden dürfen" (Eucharisterion S. 213).
Vollends bedenklich aber wird die Sache, wenn man
sieht, welche Folgerungen sich aus dieser neuen Lösung
der Deuteronomiumsfrage ergeben: Wenn der Mantel
fällt, so muß der Herzog mit: „Das Hesekielbuch" kann
natürlich nicht um die Wende des Exils geschrieben
sein, wenn das Deuteronomium nachexilisch ist. Es ist
„also im wesentlichen ein späteres Pseudepigraph", auf
Grund der sehr spärlichen Hinterlassenschaft des alten
Propheten Hesekiel zwischen 500 (Deuteronomium) und
und 445 (Nehemia) entstanden. Die Reform Esras,
einschließlich der Persönlichkeit des Esra selbst, „ist ein
legendenhafter Reflex der Reformen, die sich seit der
zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts in der Judenschaft
vollzogen haben". Aber, von vielem andern, das hier
zu weit führen würde, abgesehen, ist es wirklich ein
wahrscheinliches Bild, wenn nun Deuteronomium, Hesekielbuch
, Heiligkeitsgesetz und die Grundschrift des
Priesterkodex, in den engen Zeitraum von nicht hundert
Jahren zusammengedrängt werden?

Diese Kritik der literaturgeschichtlichen Voraussetzungen
Hölschers, die wegen des Neuen, das hier geboten
wird, ausführlich sein mußte, soll aber nicht verdunkeln
, daß das Buch seiner Absicht und seinem eigentlichen
Inhalt nach eine Geschichte der Religion
Israels und des Judentums ist. In sechs Kapiteln
behandelt es die vorgeschichtliche Entwicklung (S. 1
bis 52), die altisraelitische Zeit (S. 53—88), das assyrischbabylonische
Zeitalter (S. 89—115) das persische Zeitalter
(S. 116—159), das hellenistische Zeitalter (S. 160
bis 196) und das römische Zeitalter (S. 197—251).
Schon in dieser Übersicht tritt hervor, daß das assyrisch-
ibabylonische Zeitalter, die eigentlich klassische Zeit der
israelitischen Religion, auffallend kurz behandelt wird.
Dieser Abschnitt muß sich mit 26 Seiten begnügen,
während der Anfang der Entwicklung in der vorgeschichtlichen
Zeit und ebenso ihr Ausklang in der
römischen je das Doppelte an Raum umtassen. Wahrscheinlich
erklärt sich diese Ungleichmäßigkeit in der
Behandlung daraus, daß H. über „die Propheten" ein
besonderes Buch geschrieben hat. Auch seine literaturgeschichtlichen
Anschauungen verringern freilich den
Stoff des Bildes der vorexilischen Zeit. So setzt er
z. B. die Entstehung des elohistischen Erzählungswerkes,
das er bis ans Ende der Königsbücher glaubt verfolgen
zu können, ins 6. Jahrhundert. Aus den Schriften der
Propheten aber fällt für ihn alles Eschatologische dahin
Mit starker Betonung, aber, wie ich glaube, mit
unzureichenden Gründen spricht er sich gegen die Annahme
einer altisraelitischen vorexilischen Eschato-
logie aus.

Daß ein so ausführliches Bild der vorgeschichtlichen
Religion das Buch eröffnet, hat man (Eißfeldt in den
Theol. Blättern) mit Unrecht getadelt. Das Alte Testament
bietet dafür so reichen Stoff, daß es m. E. nicht richtig
gewesen wäre, ihn nicht auszuwerten, sich nicht aus
diesem Stoff den Unterbau zu schaffen, auf dem sich das
erhabene Gebäude der israelitisch-jüdischen Religion erhebt
. Aber freilich sollte dieses Bild der primitiven Religion
nun wirklich aus dem Reichtum des Alten Testaments
erwachsen, durch Gruppierung und Deutung einzelner
Stellen vor dem Leser sich aufbauen. Statt dessen
erhalten wir eine sehr ausführliche Skizze der Anschauungen
von Wilhelm Wundt, die durch das alttestament-
liche Material nur hin und wieder illustriert werden.
Der Verfasser würde das sich auf diesem Gebiet besonders
leicht einstellende Gefühl des Unbehagens über
eine willkürliche und aus der Phantasie stammende
Konstruktion verringert haben, wenn er überall vom A. T.
ausgegangen wäre.

Das führt mich auf einen Einwand, den ich gegen
die Polemik des Verfassers habe. Nicht selten tut er
eine ihm nicht zusagende Anschauung damit ab, daß er sie
als ein Phantasiebild, als romanhaft, als Roman bezeichnet
. Und er hat offenbar — davon war schon im Eingang
die Rede — das Empfinden, daß seine Arbeitsweise
grundsätzlich anderer Art sei. Indessen auch das von
ihm gezeichnete Bild zeugt von einer lebhaften Phantasie
und ruht auf kühnen Kombinationen. Und die Basis,
über der er baut, ist kaum breiter als die der von ihm Getadelten
. Vielleicht sind Bücher, die so geschaffen werden
, auch wenn sich ihr Ergebnis nicht bestätigt, für die
wissenschaftliche Diskussion bisweilen fruchtbarer als
die allzu vorsichtigen und „strengen".

Ich möchte schließen mit dem kurzen aber nachdrücklichen
Hinweis auf den Wert namentlich der letzten
Abschnitte des Buches, in denen Hs. Darstellung im besonderen
Maße auf dem Grunde eigner Studien ruht
und mit der Hervorhebung der straffen und gleichwohl
an allen Stellen, die ich daraufhin überdacht habe,
reichen Orientierung, die die Anmerkungen dem Lernenden
bieten.

Gießen. Hans Schmidt.

Vishnu-Narayana. Texte zur indischen Gottesmystik. Aus

dem Sanskrit übertragen von Rudolf Otto. 3.-5. Tausend. Jena:
E.Diederichs 1923. (231S.) 8° = Die Religion im alten Indien.
Bd. 3. = Rel. Stimmen der Völker. Gz. 4,5; geb. 7.

Otto hat sich das Verdienst erworben als erster in
Deutschland auf die große Bedeutung der Theologien
der vischnuitischen Hindusekten nachdrücklich hinge-