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Ausgabe:

1923

Spalte:

9-11

Autor/Hrsg.:

Bertram, Georg

Titel/Untertitel:

Die Leidensgeschichte Jesu und der Christuskult 1923

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1923 Nr. 1.

weisführung macht verständlich, was man hier alles einfach
anerkennen muß', .keinem Zweifel unterliegt', .einzig
und allein erklärt', ,von größter Wahrfcheinlichkeit ift',
,mit Sicherheit folgt', .völlig unerfindbar' heißt, als .Sicherer
Beweis' gilt, .alle Züge der Geschichtlichkeit an fich trägt'
und So fort. Eine Solche Methode mag neue Ergebniffe
abwerten, richtige Schwerlich und irgendwie geficherte
ganz gewiß nicht. Hoffentlich nimmt Sie fich von den
Theologen, die ihre wiffenfchaftliche Weiterbildung zum
guten Teil mit derartiger Kleinliteratur bestreiten, keiner
zum Mutter — andere find kaum in Gefahr.

Göttingen. w- Bauer.

Bertram, Lic. Georg. Die Leidensgeschichte Jefu und der Chriltus-

kult. Line formgerchicluliche Unterfuchung. (Forschungen z. Religion
u. Literatur des Alten u, Neuen Teftaments, Neue Folge,
15. Hell.) (108S.) gr.8u. Göttingen, Vandenhoeck&Ruprecht iy22.Gz.2,5.

Eine neue, rein literarkritifch gemeinte, Untersuchung
von Marcus 14. 15 und den evangelifchen wie nach-
kanonifchenParallelen. Die einzelnenAbfchnitte entsprechen
denen des Evangeliums, alfo IA 2: die Salbung in Bethanien
Mc 14, 3—9 S. 16—18; IIB 1: der Todesgang Jefu
Mc 15, 21 S. 73, 74. Wie die Beifpiele zeigen, befleißigt
fich der Verf. der Kürze, obwohl er die neuere Literatur
in weitem Umfange heranzieht; man wird darum fein
Buch ohne Überdruß lefen, auch wenn es einem nicht
erhebliche neue Einfichten eröffnet.

Bertram glaubt allerdings ein tieferes Verständnis
der aus einzelnen Perikopen erft allmählich zu einem
Ganzen zufammengewachfenen Leidensgefchichte gewonnen
zu haben, und zwar mittelst einer neuen Methode,
auf die im Titel das Wort Chriftuskult hinweift: die Leidensgefchichte
Jefu ift ihm ,die Kulterzählung des Christentums
'. Das kultifche Bedürfnis der Urgemeinde hat die
Einzelausgeftaltung der wenigen Sicher überlieferten Tatfachen
der Paffion Jefu beftimmt, längft vor Marcus in der
mündlichen Überlieferung; aber erft im Johannesevangelium
wurde das Ziel erreicht, der Kyrios des Gemeindekultes
in alle Paffionsfzenen eingezeichnet, .wobei dann
ein zusammenhängendes Ganzes herauskommt, das aber
durchaus nicht der Logik der Gefchichte folgt, fondern
eben durch die Geftalt des Kultusheros getragen wird.'
Dabei verwendet B. einen ungewöhnlich weiten Begriff
von Kultus, nicht an gottesdienftliche Akte (etwa wie
Liturgie) denkt er, fondern an das innere Verhältnis der
Gläubigen zu ihrem Kultheros, das in allem ihrem Leben
und Glauben zum Spontanen Ausdruck kommt. Alfo
ungefähr das, was Andere religiös nennen, ein Terminus,
der B. zu blaß dünkt; außerdem will er zwifchen der
Stellungnahme der Gemeinde zur religiöfen Überlieferung
und der frommen Betrachtung des Einzelnen unterschieden
wiffen.

Gerade nach der Lektüre diefes Buches möchte ich
B.'s Sprachgebrauch nicht empfehlen; wenn hier nicht fo
viel aus Worten und Begriffen gemacht, Form-Debatte
geführt würde, ergäbe Sich wahrscheinlich, daß der Abitand
Bertrams von den meiften Mitforfchern grundsätzlich
ein befcheidener ift; die Frömmigkeit (= Kult) der
Gemeinde, wenn fie überhaupt etwas Befonderes fein
follte, pflanzt fich in der Überlieferung doch immer nur
durch das Zeugnis Einzelner fort, und Einzelne haben fie
immer maßgebend beeinflußt. Das Motiv der Kyrios-
verehrung bei der Entwicklung aller evangelifchen Überlieferung
ift längft anerkannt (auch in dem, nur mißverständlichen
, Namen Gemeindetheologie Steckte es), allerdings
als eins neben andern: aber auch B. kommt um die
Zulaffung z. B. polemifcher, apologetifcher, katechetifcher
Motive nicht herum. Die Schwärmerei, mit der unfer
Neuromantiker die vollendete Kunft des 4. Evangelisten
immer wieder preift, obwohl er fleht, wie weit fich Johannes
von den realen Tatfachen entfernt hat, führt ihn
zu Paradoxieen wie der auf S. 99, Gefchichte und Religion
feien zwei Größen, die fich fchlechthin ausfchließen; fie
veranlaßt ihn, die Kultgefchichte gegenüber der .wirklichen
' als höhere, wahrere einzufchätzen — fogar von
den echten Zügen der Weisfagung vermag er zu reden —;
ihr ift es zuzufchreiben, daß bisweilen B. ganz aufhört
als Forfcher zu verhandeln und die Sprache des Myfta-
gogen ergreift; fo S. 37 u. A.: ,wer Joh. 13, 30 das Schlußwort
: Es war aber Nacht auf fich wirken läßt, der erlebt
noch einmal die Stimmung diefer letzten Stunden im
Leben des Herrn, die fich in dem Bericht von der wunderbares
Wiffen offenbarenden Bezeichnung des Verräters
für alle verständlich konkretisiert hat. .. In diefem Wort
wird das Todesgrauen von Gethsemane, der Kummer
über die Schwachheit der Jünger, die bange Ahnung (!)
des Verrates zufammengefaßt.' Ob felbft Origenes das
geschrieben hätte? Die Abfchnitte der Einleitung S. 1—8
und des Schluffes S. 96—102 find am reichsten mit Solchen
Verfliegenheiten verfehen — zu denen fich Trivialitäten
zwangsläufig gefellen; ich würde den Wert der Studie B.'s
durchaus auf die dazwischenliegenden Einzelunterfuchun-
gen beschränken, trotzdem fie mich an keinem Punkte
eines Befferen belehrt haben. Jedenfalls ift B. ernftlich
bemüht, unbefangen zu urteilen; überfkeptifch, was ich
faft fürchtete, ift er nicht einmal. Nur macht er von ge-
wiffen Gesichtspunkten, wie dem der andersartigen antiken
und religiöfen Pfychologie, einen faft naiven Gebrauch
und fällt absonderliche Urteile. Daß die Jünger Mc 14,
26—31 durch die Vorausfage ihrer Flucht gegen jeden
Vorwurf falviert werden follen, daß alles Sträuben der
Menfchen gegen folche Vorankündigungen nichts helfen,
ja fogar als Frevel angefehen werde, müßte doch auch
dem Petrus und dem Judas zugute kommen. Sind die
Beiden bei Mc denn auch falviert? — Oder eine ganz
andersartige Unvorsichtigkeit S. 50: ,An hiftorifchem Material
werden fämtliche Evangelisten ungefähr die Selben
Notizen zur Verfügung gehabt haben', oder S. 96: Spruch-
fammlungen, die auf den großen Rabbi Jefus von Naza-
reth zurückgeführt wurden, mochten Schon zu Jefu Lebzeiten
umlaufen. — S. 3: Dem Kern der Erzählungen
gegenüber zeigen alle Evangelisten die gleiche Treue.
Auch Johannes' eigenartiger Erzählungsbeftand wird . . .
weniger aus der Willkür der Evangelisten als aus der
Befonderheit der ihm vorliegenden Tradition zu erklären
fein. Auf eine innerhalb der Leidensgefchichte fo fundamentale
Frage wie die nach dem Todestag Jefu, ob 14.
oder 15. Nisan und ob ein Freitag, geht B. gar nicht erft
ein, ihm genügt es: Wir kennen weder den Tag des
letzten Mahles Jefu noch das Datum feines Todes. An
chronologischen Feststellungen nehmen die Evangelien
kein Intereffe. Ihre Überlieferung fei chronologifch unergiebig
, weil kultifch beftimmt: .Riten und Fefte haben
gefchichtsbildende Kraft.' Gewiß, aber wodurch ift denn
der Sonntag zum Auferftehungsfeft geworden? Was B.
über das Verhältnis der jerufalemifchen Urgemeinde zum
Tempeldienft bemerkt, und andrerseits über die Unmöglichkeit
, helleniftifchen Chriftuskult von dem jerufalemifchen
fcharf zu fcheiden, bestätigt den Eindruck, daß unferm
Literarkritiker die Anfchauung von dem, was damals
wirklich gewefen war, noch nicht genügend plaftifch geworden
ift, daß er Sie vielmehr durch eine Menge von
Abstraktionen und Konstruktionen niederhält. Nicht bloß
S. 101, wo er für Mc die Aufgabe Stipuliert, daß .unabhängig
davon (?) ein Leben Jefu gefchrieben werden Sollte,'
verrät er, daß er die modernen Schleier, die ihn von
feinen Gegenständen trennen, längft nicht alle abgeworfen
hat. Er kritifiert fcharffinnig, um fich blickend, wahrheitsliebend
, aber halb Sentimental und halb weihrauchbefangen
.

Eine kleinere Einwendung gegen dies Buch darf ich
nicht ganz unterdrücken. Es zeigt Spuren — gottlob
nicht in der Sprache — einer gewiffen Affektiertheit, die
nicht Mode werden darf. Wenn der Verf. Schon in Seinen
Siglen der goldigften Inkonfequenz fröhnt, bald Apg. bald
Akt abkürzt und Akta oder Karpi neben Maccabaeer, Col
neben Kol fchreibt, beabfichtigt er nun erft den Brauch