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Ausgabe:

1923 Nr. 12

Spalte:

257

Autor/Hrsg.:

Schrempf, Christoph

Titel/Untertitel:

Friedrich Nietzsche 1923

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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257

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 12.

258

Aenderungen hingewiesen werden müssen. Wenigstens
ist an Mulert die Bitte zu richten, daß er im Vorwort
zum 2. Bd. über jede kleinste von ihm selbst vorgenommene
Umgestaltung berichte und durch eine synoptische
Tabelle der Seiten beider Auflagen die Benutzung
der bisherigen Schleiermacher-Literatur weiterhin
möglich mache. (Was das Register am Ende betrifft
, so muß ich Stanges kritischen Bemerkungen im
Theol. Literaturblatt Nr. 6 dieses Jahres im großen
und ganzen beistimmen). Daß andrerseits die Herausgabe
eines solchen Werkes eine erstaunliche Mühe verursacht
und daß Mulert offenbar keine Mühe gescheut
hat, das sei zuletzt gern und dankbar anerkannt.

Münster i.W. G. Wchrung.

Schrempf, Christoph : Friedrich Nietzsche. Göttingen: Vanden-
hoeck u. Ruprecht 1922. (128 S.) 8° = Die Religion der Klassiker.
Hrsg. v. Gust. Pfannmüller. 9 Bd. Oz. 2; geb. 3.

Dies Heft ist entschieden das bedeutendste, das in
der „Religion der Klassiker" bisher erschienen ist, ja
das Beste und Scharfsinnigste, was bisher von theologischer
Seite — Sehr, verzeihe mir, daß ich ihn dennoch
zu unsrer Sippe zahle — an Nietzsche-Kritik geleistet
worden ist. Aber es zu besprechen, ist fast eine Unmöglichkeit
.

Schr.s Thema ist: N.s Verhältnis zum Christentum. Er behandelt
es, indem er mit N. in eine Zwiesprache über seine Aeußerungen zum
Gegenstande eintritt. Dabei nimmt er N.s Schriften einzeln in der
Reihenfolge ihrer Entstehung durch, greift die für seine Aufgabe
wichtigen Punkte heraus und macht zu ihnen seine Einwendungen.
Bei dieser Methode fällt alles Gewicht auf die Einzelbemerkungcn
Um so mehr, als Sehr, eine Durchführung bestimmter Gesichtspunkte
in der Kritik und die Erarbeitung eines geschlossenen Bildes nicht
ausdrücklich anstrebt, sondern sich dem Stoffe ganz überläßt. Nur
Sehr, durfte sich dies Verfahren erlauben. Denn nur er ist folgerichtig
genug, um sich dabei nicht zu verlieren. Das letzte Motiv seiner Fragen
ist immer wieder: kann man mit diesem Gedanken Ernst machen, als
Denker und als Mensch Ernst machen? und hat N. mit ihm in dem
einen oder andern Sinne Ernst gemacht? Das Ergebnis ist für N. allemal
vernichtend. Aber der Leser lernt durch das Gericht hinzu auch
für sein Nietzscheverständnis. Gerade darum, weil hier eine Einseitigkeit
bis zum Ende durchgeführt ist.

Das Endurteil Schr.s über N.s Verhältnis zu Jesus und zum
Christentum läßt sich am besten mit zwei Worten Schr.s geben:
1. „Der Typus Christenheit ist dadurch charakterisiert, daß der
Glaube an das ewige Leben als zeitliches Glück geschätzt wird. Dadurch
kommt der Typus „Nietzsche" in Konkurrenz mit dem Typus
„Christenheit", während „Jesus" und „Nietzsche" nie in Konkurrenz
kommen können, da dieser sich nur an Menschen wendet, die ein
ewiges Leben nicht brauchen (und deshalb für Wahn halten), jener
sich nur an Menschen wendet, die für die Zeit nichts mehr zu hoffen
haben, also auch nichts mehr wollen. Schneiden sich die Wege
„Christenheit" und „Nietzsche" in der Ebene der Zeit, so verhalten
sich die Wege „Nietzsche" und „Jesus" wie zwei windschiefe Gerade
im Raum. Sie gehen aneinander vorbei, ohne sich zu treffen."
(S. 126 f.). 2. „Zarathustra fängt sich unrettbar in dem „Es war".
Das Vergangene am Menschen zu erlösen und alles „Es war" umzu-
schaffen, bis der Wille spricht: ,Aber so wollte ich es! So werde ichs
wollen!' — das gibt es nicht. Wer das vollbracht haben will,... belügt
sich selbst. Wahrheit kann es sein, daß was der Mensch so
nicht gewollt hat so doch gut war. Entschließt sich der Mensch sich
dies einzugestehen, so springt er von dem Weg „Zarathustra" über
auf den Weg „Jesus"." (S. 128).

Das möge als Hinweis genügen, so ungenügend es
ist als Bild von Schr.s Leistung. Unsre durchschnittlichen
Nietzsche-Schriftsteller (Nietzsche-Forscher mag
ich nicht sagen) werden an dem Buch vorübergehen, und
bequem kann es keinem sein, auch keinem von uns. Wer
aber künftig über N. denkt und schreibt, ohne mit diesem
Buche sich herumgeschlagen zu haben, straft sich selbst.
Göttingen. F. Hirsch.

Schrempf, Christoph: Zur Theorie des Geisteskampfes. Eingeleitet
u. hersg. von ihm selbst. Stuttgart: Fr. Frommann 1922.
(92 S.) kl. 8° = Frommanns philos. Taschenbücher 1,4.
In dem Bändchen werden vier, vor 25 Jahren erschienene Aufsätze
neu abgedruckt, in denen Sch. die Erfahrungen seines besonders
schweren Ringens um die Selbständigkeit des Geistes zu einer Theorie
zusammenzufassen und sein Verhalten auf Grundsätze zu bringen sucht.
Der eigentlichen Schrift ist eine ausführliche Selbstbiographie Sch.s
vorangeschickt.

Geist sei für den Menschen immer werdender Geist, Geist, der
zum Bewußtsein seines Wesens und seines Wertes kommen müsse,
und der deshalb immer im Kampfe gegen Hemmungen stehe. Siegen
werde, wer trotz Feind und Freund sich selbst treu bleibe. Dazu sei
notwendig, daß man den Geist in Sachlichkeit und Wahrhaftigkeit
lebe.

Die Schrift ist flüssig geschrieben. Bei aller Grundsätzlichkeit der
Betrachtung ist sie immer aufs Praktische gerichtet, ist daher von einem
nüchternen Ernste und allgemeinverständlich, ohne doch platt zu
werden. Ein ausgesprochen männlicher Geist redet aus ihr. Gegen
Einzelheiten wird man mancherlei einwenden können, so gegen die Ueber-
betonung des Individualismus, gegen die unklare Gleichsetzung von
Selbsttrcue-Werkdienst mit Egoismus-Altruismus, oder gegen den Ichbegriff
mit seinem unausgeglichenen Nebeneinander von idealistischen
und positivistisch-pragmatistischen Elementen. Aber diese Bedenken
vermögen nichts gegen den prächtigen Gesamteindruck dieser wahrhaftigen
und tapferen Schrift.

Göttingen. Piper.

Lundberg, Fugen: Mereschkowsky und sein neues Christentum.

Aus dem Russischen übertragen von W. E. Groeger. Berlin: Verlag

„Skythen". (119 S.) 8"
Der Titel des Buchs klingt vielverhcißend. Die russische Literatur
nimmt ja neuerdings in Deutschland besondere Aufmerksamkeit in
Anspruch, nicht bloß die der Politiker, Philosophen und Belletristen,
sondern auch zahlreicher Theologen. Galt deren Interesse früher mehr
Tolstoi, so heute vor allem dem „dämonischen" Dostojewski. Unter
diesen Umständen könnte man nur dankbar sein für einen zuverlässigen
und klaren Bericht über die Anschauungen eines dritten modernen
Russen, der an die beiden genannten vielfach anknüpfend, eine eigentümliche
Auffassung von der Bedeutung und Zukunft des Christentums
in zahlreichen Schriften und Romanen vorgetragen und vertreten hat.
Leider trügt indessen der Titel des Buchs. Was geboten wird, ist nicht
eine zusammenhängende Darstellung und eine daran sich schließende
Beurteilung, sondern lediglich eine lose gefügte kritische und rein
negative Auseinandersetzung, die keineswegs nur die „Theologie", sondern
namentlich auch die Kunst, die Methodik und überhaupt die ganze
Mentalität Mcreschkowskys in Betracht zieht. Man vermißt ein anschauliches
BiW jener erstrebten und vorausgesagten Synthese zwischen
Heidentum und Christentum, „Fleisch" und „Geist", „Schöpfergott" und
„Erlösergott", die mindestens die längste Zeit das Ideal des russischen
Autors war; geschweige denn,daß man Einsicht erhielte in die Entwicklung
von dessen sich keineswegs stets gleich gehliebenen religiösen Gedanken
. Das von W. E. Groeger gut übersetzte Buch liest sich wohl
angenehm, mag auch dem Liebhaber und genaueren Kenner der russischen
Literatur mancherlei Anregung geben. Den Zweck, um dessent-
willen der Theologe oder Religionsforscher in erster Linie dazu greifen
möchte, erfüllt es nur in unvollkommener Weise.

Gießen. E. W. Mayer (Straßburg).

Brunstäd, Prof. Dr. Friedrich: Die Idee der Religion. Prinzipien
der Religionsphilosophie. Halle a.S.: Max Niemeycr 1922.
(308 S.)

In diesem Buche haben wir es zu tun mit dem bewußten
Versuch, die Religionsphilosophie des Idealismus
zu erneuern. Br. faßt den Idealismus von Kant bis
Hegel als eine Einheit und formuliert das ihm zu Grunde
liegende Erlebnis ohne Anschluß an eine bestimmte
Schulterminologie. Hier ist eine gewaltige, äußerst dankenswerte
Integration vollzogen. In großen konstruktiven
Linien wird der Idealismus dargestellt wesentlich
von Hegel aus, den Br. wie nicht viele in der Gegenwart
kennt. Dadurch wird zwar der geschichtlichen Tatsächlichkeit
, besonders bei der Darstellung Kants, einige Gewalt
angetan. Hierauf aber legt der Verfasser als echter
Idealist kein Gewicht. Und für das religiöse Grundproblem
ist die Ausschaltung der geschichtlichen Frage
nur von Vorteil. Für die Gegenwart ist das Buch geschrieben
. Ueberall liest man auch ohne besondere Erwähnung
die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen
Philosophien (Husserl, Scheler u. a.) und Religionsphilosophien
(z.B. Otto, Heim) zwischen den Zeilen.

Der Kernpunkt des Buches liegt im zweiten Kapitel: Wahrheit
und Gültigkeit der Religion (S. 61—155). Es bringt die Darstellung
des religiösen Grunderlcbnisscs, wie es der Idealismus sieht.
Ausgedeutet und begründet wird dieses Erlebnis im 4. Kap., der
„Idee der Religion" (S. 213—308), wo von der Gottesidee, der religiösen
Idee der Welt (Schöpfung, Theodizee, Vorsehung und Wunder
) und des Menschen (Gottverwandtschaft, Sünde, Heil) gehandelt
wird. Im 3. Kap. (S. 156—212) ist der Zusammenhang des religiösen
Urphänomens mit den Grundakten des menschlichen Geistes (Wissen-