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Ausgabe:

1923 Nr. 12

Spalte:

253-257

Autor/Hrsg.:

Dilthey, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Leben Schleiermachers. 1. Band, 2. Aufl 1923

Rezensent:

Wehrung, Georg

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 12.

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Ich weiß dieser einleuchtenden Darlegung nichts hinzuzufügen
, als daß sie, weil im wesentlichen im Oktober
1920 abgeschlossen, natürlich die später erschienene Literatur
, wie Leisegangs Pneuma hagion nicht mehr berücksichtigen
konnte. Doch würde sie dadurch ebenso wenig
modifiziert worden sein, wie diese Literatur durch die
Untersuchung W.'s. An Druckfehlern ist mir nur aufgefallen
, daß es S. 107 Z. 11 v.u. heißen muß: S. 31,1.
Bonn. Carl Giemen.

Philips, Dr. theol. Theodor: Die Verheißung der heiligen
Eucharistie nach Johannes. Eine exegetische Studie. Paderborn
: Ferd. Schöningh 1922. (205 S.) 8° Oz. 2.

Nach einer nicht besonders sorgfältig gearbeiteten
Uebersicht über die Geschichte der Exegese von Joh. 6
bemüht sich der Verf. zunächst die geschichtliche Echtheit
der Brotrede nachzuweisen. Die Juden erwarteten
vom Messias ein messianisches Mahl, die Wiederholung
der Mannaspende; also hat Jesus ein solches Mahl gehalten
. Es entgeht dem Verf., daß man von der gleichen
Voraussetzung aus auch das Gegenteil erschließen könnte
, die Eintragung eines solchen Manna-Mahles in die
Geschichte Jesu. Die Synoptiker haben die Brotrede
ausgelassen, weil ihre Einstellung durch ihr apologetisches
Ziel bestimmt war. Ob das beim vierten Evangelisten
nicht noch in viel höherem Maß der Fall war, wird
nicht gefragt. Die Pneumalehre des Paulus enthält nach
Ph. die Voraussetzungen der Abendmahisinterpretation
von Joh. 6; also war diese Lehre Jesu Lehre. Wieder
entgeht dem Verf., daß sich aus seinen Darlegungen
auch genau das Umgekehrte folgern läßt. Die Echtheitsfrage
wird im traditionellen Sinn entschieden; damit
gilt auch die Authentie der Brotrede als gesichert.

Da für den Verf. die ganze Rede eucharistischen
Charakter hat und demgemäß immer als Verheißungsrede
bezeichnet wird, so ist für den exegetischen Teil
des Buches die Deutung des Endabschnittes auf das
Abendmahl gegeben. Sie ist m. E. richtig, wäre nur
aber mit andern Mitteln sicherzustellen als sie im Gesichtskreis
des Verf. liegen. Bei dem umstrittenen V.
51 b will Ph. nicht zwischen Kreuzopfer und eucha-
ristischem Opfer geschieden wissen, denn beide sind
ihm „in ihrem Wesenskern eins". Ueber sonst problematische
Stellen erfährt man wenig: über egyaCeotiai und
iqyo» 6, 28—30 fast nichts, über die viermalige Wiederholung
der Auferstehungsverheißung S. 177 höchst Dürftiges
. Das Buch ist offenbar nicht gerade solide gearbeitet
; es zitiert nicht nur eine Stelle aus den Acta
Philippi nach dem Parallelen-Apparat (!) der Synopse
von „Huch", sondern auch das kya&bg da^wv-Gebet
des P. Leid. W, das bei Reitzenstein Poimandres S. 17
steht als „Reitzenstein, Poimandres, Leipzig 1904 c. 17".
Daß der Arbeit Bilder und Pläne der Kapernaum-Syna-
goge nach Kohl-Watzinger beigegeben sind, wird gewiß
manchen Leser erfreuen, der andere Publikationen
nicht kennt. Mit der Brotrede hat diese Synagoge freilich
in keinem Fall etwas zu tun, da sie, wie der Verf. auch
selbst bemerkt, aus wesentlich späterer Zeit stammt.
Heidelberg. Martin Dibelius.

Dil they, Wilhelm: Leben Schleiermachers. I.Band. 2. Aufl.,
vermehrt um Stücke der Fortsetzung a. d. Nachlasse des Verfassers
hrsg. v. Hermann Mulert. Berlin: Walter de Gruyter u. Co. 1922.
(XXXII, 879 S.) gr. 8». Oz. 17.

Etwas Wahlverwandtes hat D. zu Schi, geführt. Es
ist die gemeinsame Opposition gegen alle absolute Philosophie
, es ist das realistischere Verständnis Kants. Bei
Kant steht neben der transzendentalen Apperzeption das
Reale der Anschauung (das Ding an sich), das sich
nicht a priori erdenken läßt; beides zusammen beschreibt
erst die Bedingung der mir gegebenen Welt als Erscheinung
(1. A. S. 105 f., 2. A. S. 114 f.). Hier ist in der Tat
der Gesichtspunkt betont, von dem aus allein Schl.s Dialektik
in ihrer historischen Rolle verständlich wird. Es
ist wahr: die Erdenschwere des von uns Unabhängigen

als der anderen Bedingung der Erfahrung, die dem
Wissen nach Kant seine Grenzen setzt, drückt Fichtes
Denken nicht nieder (2. A. 378); Schi, aber hat ihr zunehmend
Rechnung zu tragen gesucht, und D.s eigene
Ueberlegungen bedeuten eine gereifte Fortsetzung. Hinzu
kommt bei unserem Darsteller das durch tiefdringende
historische Blicke geübte Verständnis für das Wesen
des Sittlichen und der Religion.

Es war ja schon und ist in der neuen, um wichtige
Stücke über die Stolper und die Hallesche Zeit vermehrten
, auch sonst durchgearbeiteten Auflage ein großartiges
Gemälde. D. tut sich in der weit ausgreifenden
Schilderung aller geistigen Bewegungen jener Tage
von Lessing bis Fichte und weiter des Guten fast zu
viel (wie Haym in seiner glänzenden Charakteristik
mit Recht bemerkte, vgl. Ges. Aufs. S. 370), und
doch sind wir froh, daß nichts gekürzt worden
ist. Es gibt sonst kaum ein Werk, das mit solcher
Gründlichkeit das Ineinandergreifen der philosophischen
und der künstlerischen Strömungen jener herrlichen aufsteigenden
Epoche des deutschen Geisteslebens, dazu auf
dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse, verfolgt,
das z. B. die Bedeutung Goethes auch für die nachkan-
tische philosophische Bewegung so lebendig vor Augen
führt. Und dabei ist doch alles konzentriert auf die
Persönlichkeit, deren Entwicklung D. mit bewundernswürdigem
Scharfsinn nachgeht. Es bleiben, was diese
Entwicklung betrifft, Fragen zurück, auf die schon
Haym aufmerksam machte, an die D. in der neuen
Durchsicht wohl selber rührt, sie bleiben zurück: doch
steht dahin, wieweit es einem späteren Forscher auf der
gewonnenen Grundlage überhaupt möglich sein wird,
hie und da ein letztes Halbdunkel aufzuhellen.

Unsere Achtung vor dem Werke wächst beim Blick auf die seit

| dem ersten Erscheinen erschlossenen Quellen, besonders Briefsammlungen
(z. B. den Briefwechsel der Brüder Schlegel usf.). Das meiste

I davon hat D. schon in den Handschriften vor sich gehabt und ausgebeutet
, bis zu den Briefen hin, die im Euphorion 1914 mitgeteilt

| sind, — wie mühsam war aber seine Arbeit! Auch in dieser Hinsicht
steht unsere Biographic im großen und ganzen heute noch auf
der Hohe.

Die Einzelforschung ist ja von dem Buch selbst mächtig angeregt
worden. Es ist freilich meist alles sporadisch geblieben. Viele
Dissertationen und viel Spreu darunter. Als ergänzend und fortführend
seien außer Hayms großer Anzeige nur hervorgehoben: Meyer, Schis,
und Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine (1905), H. Hering,
I S. E. T. Stubenrauch und sein Neffe Fr. Schi. (1919), S. Eck, Ueber
I die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schi. (1908), H. Süskind,
j der Einfluß Sendlings auf die Entwicklung von Schis. System (1909),
E. Fuchs, Vom Werden dreier Denker (1904), endlich Pipers glänzende
, freilich auch glänzend einseitige Studie „das religiöse Erlebnis"
(1920) — Hering und Piper vom Herausgeber Mulert leider nicht gebucht
. Spuren der Berücksichtigung der Eckschen Schrift finden sich
in 2. A. nicht, auf die Wichtigkeit dieser Studie sei hier umsomehr
hingewiesen. Meyers Quellcnbuch ist von D., wenn auch nur knapp
I benutzt (im 2. Kap., S. 15f.); vielleicht hat es auch den Anstoß
| dazu gegeben, dem 3. Kap. (S. 34 ff.) eine kurze Ausführung über
die bleibende Bedeutung der Herrnhuter Jahre hinzuzufügen — vgl.
außerdem die Bemerkungen über Zinzendorf im Abschnitt über die
frühesten Predigten (S. 158f.). Hayms Wunsch (Aufs. S. 367), für die
Drossener Zeit den Skeptizismus und Radikalismus Schl.s stärker unterstrichen
und in der daraus entspringenden Gelassenheit den Anknüpfungspunkt
für die sich abklärende und kräftigende Frömmigkeit
hervorgehoben zu sehen, diesem Wunsch finde ich von D. Rechnung
getragen in dem neuen zusammenfassenden 12. Kap. „Die entwicklungsgeschichtliche
Bedeutung dieser Jahre" (S. 162 ff., vgl. S. 167 u. 170 f.).
Auch ein anderes Bedenken, das damals Haym sofort gegen die weitere
Darstellung geltend machte, ist nicht ohne Rückwirkung geblieben.
Haym fand den Einfluß Fichtes von D. unterschätzt, er konnte nicht
zustimmen, daß die entscheidende Auseinandersetzung Schl.s mit Fichte
auf eine spätere Zeit verlegt sei; er behauptete nachdrücklich, daß alle
anderen philosophischen Einwirkungen auf Schi, unbedeutend waren
im Verhältnis zu der Einwirkung Fichtes, daß die Reden viel mehr, als
D. gesehen, von Fichteschem, freilich umgewandeltem Fichteschem
Geist durchtränkt seien (Aufs. S. 392f.). In der Tat! Es ist richtig,
daß erst die Fichtesche Umbildung der Kantischen Philosophie „der
zündende Funke war, der die neuen wissenschaftlichen Bildungen ins
Leben rief". Ohne dieses Eingreifen ist auch Schl.s Uebergang aus dem
Determinismus der Kandidatenjahre zu einem Idealismus der Freiheit in
den Monologen nicht völlig begreiflich; von einer neuen Einwirkung
I der Kantischen Ethik ist das sicher nicht herzuleiten. Und wo später