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Ausgabe: | 1923 Nr. 12 |
Spalte: | 251-253 |
Autor/Hrsg.: | Williger, Eduard |
Titel/Untertitel: | Hagios. Untersuchungen zur Terminologie des Heiligen in den hellenisch-hellenistischen Religionen 1923 |
Rezensent: | Clemen, Carl |
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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 12.
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im Traum, wo das leibliche Auge gleichfalls geschlossen
ist, die dominierende Vorstellung mit so starker halluzinatorischer
Kraft erscheint, daß es in diesem Stadium
„kein Sehen und Hören mehr gibt, das das Subjekt nur
als innere Angelegenheit erkennete" (S. 129)? Unklar
bleibt auch das Verhältnis des „Willens des Sehenden",
durch den das innere Sehen „in Tätigkeit gesetzt wird"
(S. 125), dazu, daß es sich dabei ausgesprochener Maßen
um „ein von Gott gesandtes Sehen" handeln soll (S. 98).
Ueberdies ist die an sich bemerkenswerte Unterscheidung
von halluzinatorischem und innerem Sehen bei H. um so
befremdender, als sich nach seinem eigenen Urteil die
Propheten selber des Unterschiedes nicht bewußt gewesen
sein sollen (S. 54. 84) und es ihm nach S. 3 in
seiner Untersuchung „ausschließlich auf die Meinung
der Propheten" ankommt. Wenn nachträgliche Beobachtung
das Interesse klarer Sonderung hat (vgl. S. 144),
so gälte es vor allem, den wichtigen Unterschied zwischen
erzählter wirklicher Vision und visionärem Stil zu
betonen. Man nehme z. B. Dan. 10, 1—19, wovon H. das
Empfinden hat, „daß hier den Anforderungen genügt ist,
die wir an einen wirklichen Visionsbericht stellen zu
müssen meinen" (S. 57). Nun aber sollte eine erzählte
Vision bis ins Letzte anschaulich sein. Beachtet man indessen
, wie der Visionär nach Beschreibung der Gewandung
des Engels von der Beschaffenheit seines Leibes
spricht, den diese Gewandung doch bedeckt, so gibt er
über etwas Bescheid, was er nicht tatsächlich hat sehen
können, sondern dessen Kenntnis ihm auf anderm Wege
zugekommen sein muß. Aehnlich Hes. 1 (vgl. z. B.
meinen Kommentar, S. 11 f.). So ist auch der Bericht
über Sacharjas Nachtgesichte stark „stilisiert", wie denn
schon der sinnvolle Fortschritt, den ihre Reihenfolge
ergibt, ein gut Stück Reflexion verrät (vgl. S. 120).
Ueberhaupt dürften sich bei genauerer Betrachtung die
prophetischen Erfahrungen und erst recht — was H.
m. E. zu wenig berücksichtigt — die Berichte darüber
als so komplexe Größen erweisen, daß man in der Aufstellung
schematischer Formeln, die ihrer Fassung dienen
sollen, nicht vorsichtig genug sein kann. So läßt sich
auch die Frage nach der Herkunft prophetischen Wissens
um die Zukunft schwerlich auf ein glattes aut—aut
bringen (vgl. dagegen S. 213).
Göttingen. Alfred Bert holet.
Williger, Eduard: Hagios. Untersuchungen zur Terminologie
des Heiligen in den hellenisch-hellenistischen Religionen.
Gießen: A. Töpelmann 1Ü22. (108 S.) 8° = Religionsgeschichtl.
Versuche u. Vorarbeiten XIX, 1. Gz. 2,5.
Die vorliegende, J. und W. Kroll gewidmete Breslauer
Doktordissertation zeigt zunächst, daß der Stamm
ay ebenso wie das altindische yaj ursprünglich die
religiöse Scheu, und dann, daß uyvög von Haus aus religiöse
Scheu erweckend, später und auch in der Anwendung
aut den Menschen religiös rein, sowie event.
keusch, jungfräulich bedeutete. So kommt Williger erst
im dritten Kapitel zu seinem eigentlichen Thema und
weist hier auch für ayiog die ursprüngliche Bedeutung
tabu nach. Dagegen rein im subjektiven Sinne ist es
zunächst nur im Juden- und Christentum, wo sich die
entsprechende Entwicklung aus dem alten Testament erklärt
. Wenn Geffcken (Der Ausgang des griechischrömischen
Heidentums 226. 319 f.) sich für das Gegenteil
auf die ^satirische Inschrift: Md naiwtd d-vyäxxya, 7iag&i-
vog x[f] v.axd yevog tegeia xf]g &eov x(tj xwv ayicov berief, so
bezweifelt W. zunächst, ob sie nicht mit Ramsay als Zeugnis
christlichen Einflusses auf heidnische Kultur in Anspruch
zu nehmen ist, und weiter, ob xwv ayliov wirklich auf
Mitglieder einer Mysteriengemeinde und nicht vielmehr
aut Kultgegenstände zu beziehen ist, „denn wie könnte
man sonst von einer tegeia xftg &eov xaf xwv ayiwv sprechen ?"
Ja selbst wenn die andere Deutung Recht hätte, könnte
die entsprechende Bezeichnung der Christen nicht aus
kultisch-heidnischem Wortgebrauch abgeleitet werden.
Paulus gebraucht nämlich Kol. 1, 26 den Ausdruck
oi ayioi avxov (sc. xoü ireav diese lockere Genitivverbindung
ist aber vom rein griechischen Sprachgebrauch
aus nicht verständlich; denn hier kann ayiog
mit dem Genitiv des Götternamens nur so viel wie
tegög c. gen., d. h. der Gottheit geweiht bedeuten, was
nach der Bedeutung des Worts bei Paulus wie in der gesamten
übrigen Antike unmöglich ist. Auch Lietzmann
(Handbuch zum N. T.2 III, 1) hat ja in seinem Exkurs
zu Rom. 15, 25 gezeigt, daß nichts im Wege steht, den
Ausdruck aus messianisch - apokalyptischem Sprachgebrauch
des späteren Judentums herzuleiten.
Ebenso ist nach W. über die Wendung 7ivevua
ayiov zu urteilen. Wenn nämlich Heinemann in seiner
Besprechung des Leisegangschen Buchs über den heiligen
Geist in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft
des Judentums 1920, 104, 1 die Frage aufwarf,
„ob nicht aus Seneca ep. 41, 2; sacer entra nos sedet
spiritus zu schließen sei, daß in der Vorlage, dem Pro-
treptikos des Poseidonios, ein 7ivevtia ayiov gestanden
habe und somit der jüdisch-christliche Terminus dem
heidnischen Hellenismus nicht fremd gewesen sei", so
ist dem genüber „festzustellen, daß sacer spiritus nur
die Wiedergabe eines 7cvevua iegöv bei Poseidonios
sein kann"; denn „Aequivalent von lt. sacer ist gr.
tegög, nicht ayiog. . . Wenn daher das Pneuma als ayiov
bezeichnet wird, so setzt das voraus, daß dasselbe Prädikat
auch auf den Menschen anwendbar ist; die Formel
konnte somit erst gebildet werden, als ayiog eine subjektive
Bedeutung erhalten hatte". Und das ist im heidnischen
Griechisch erst spät und nur vereinzelt der Fall,
nämlich in der sog. Mithrasliturgie, im Corpus hermi-
ticum, in den Zauberpapyris (hier findet sich auch der
Ausdruck ayiov 7cvevua) und bei Themistios; aber
hier wird wohl überall jüdisch-christlicher Einfluß anzunehmen
sein.
Zum Schluß weist W. noch auf die Bedeutung dieser
Untersuchung für die Entstehung des LXX-Griechisch hin.
Wenn Flashar (ZAW 1912,95.103 ff.) die Ansicht Deiß-
manns über die letztere dahin modifiziert hatte, daß die
LXX allerdings ihren Wortschatz aus der Koine entlehnt
hat, aber nicht selten in dem Bestreben, eine hebräische
Vokabel stets durch dasselbe griechische Wort wiederzugeben
, judaisiert habe, so zeigt W., daß auch diese
Theorie den Gebrauch von ayiog in der LXX noch nicht
völlig erklärt.
Zunächst wird nämlich „ayto; schon im Pentateuch im Gegensatz
zu seiner altgriechischcn Bedeutung für 2f"ip auch an Stellen gesetzt
, wo dieses vom Menschen gebraucht wird und religiöse Reinheit
wenigstens implicite bezeichnet; das weist im Verein mit der Tatsache,
daß schon in den ältesten Teilen die Differenzierung der Ueber-
setzung von EHp eine äußerst geringfügige ist, die Gleichung ayiog =
EHp somit schon feststeht, darauf hin, daß die Gleichsetzung der beiden
Worte erfolgt sein muß, bevor die ersten Schriften der LXX entstanden.
Ausschlaggebend ist nun, daß sich schon im Pentateuch als Entsprechungen
der Denominative des hebräischen Wortes die" wichtigsten
Ableitungen von uyios vorfinden : ayiageiv... äyiaaua ... äyiaoxr]giov...
Es hat nicht den Anschein, als seien diese Worte erst von den Ueber-
setzern geprägt worden, denen man so korrekte Bildungen überhaupt
kaum wird zutrauen wollen. Sie müssen vielmehr schon vorher in der
Sprache der Diaspora, zugleich mit der Erweiterung der Bedeutung
von «yYocentstanden sein. Es ist von vornherein wahrscheinlich, ja
selbstverständlich, daß in dem Augenblick, als das Griechische die
Muttersprache der in der Diaspora lebenden Juden wurde und die Beherrschung
des Hebräischen zu schwinden begann, eine Umsetzung
der wichtigsten religiösen Begriffe des Judentums aus hebräischer in
griechische Terminologie einsetzte, sei es aus Bedürfnissen des gemeinsamen
Gottesdienstes, sei es im privaten Leben zwecks Erbauung des
Einzelnen. Der im Zentrum israelitischer Religiosität stehende Heiligkeitsbegriff
mußte einer der ersten sein, die der Jude in seiner
neuen Sprache zum Ausdruck brachte; die Art, wie die Uebersetzcr
der LXX das Wort verwenden, läßt darauf schließen, daß schon, bevor
durch ihre Tätigkeit eine spezifisch jüdisch-griechische Sakralsprache
geschaffen wurde, sich durch einen Prozeß von der Art des
eben konstruierten in der Diaspora eine nicht nur inhaltlich, sondern
auch formell von der heidnisch-hellenistischen unterschiedene Terminologie
gebildet hatte."