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Ausgabe:

1923

Spalte:

201-203

Titel/Untertitel:

Athinganer, Zigeuner 1923

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 9

Ausgabe beim Zitieren bediene." Wer sich der Befolgung der Gesetze
philologischer Wissenschaft in dieser Weise rühmt, sollte wissen, daß
die kritische Ausgabe seit 8 Jahren abgeschlossen ist und auch Schriften
wie Quod omnis probus liber, die der Verfasser nach Richter zitiert, in
ihr enthalten sind. Hat er den VI. Band dieser Ausgabe, der mit dieser
Schrift beginnt, überhaupt einmal in der Hand gehabt? Von falschen
Uetersetzungen habe ich schon ein Beispiel angeführt. Bis S. 50, wo
ich es aufgab, zählte ich etwa 60! Druckfehler, meist in den griechisch
angeführter. Worten, darunter aber auch solche wie Leg. Aegy. 111,68
=■ Legum allegoriarum Uber III 68. Natürlich schreibt er auch Epikureer
und Pythagoräer (Enixni'Qiioi, llv&ayÖQitui). Aber nicht
nur mit dem Griechischen, sondern auch mit dem Deutschen steht der
Verfasser auf dem Kriegsfuße. Man lese folgende Sätze S. 17: „Dieser
Teil seines spekulativen Denkens ist es auch, daß dem unsrigen für
alle Zeit ein Platz in der Geschichte ... erhalten bleibt." S. 24: „Den
Grund der Begnadigung des Menschen mit Offenbarung Gottes erblickt
er... usw." S. 35: ,,Gott und Mensch, die beiden Pole religiössittlichen
Denkens, sie sind es auch bei Philo'n, wie seine Ethik beweist
." S. 48: „Das Genauere von den Grundprinzipien philonischer
Ethik festzustellen, es ist das: Es tritt auch da der jüdisch-hellenistische
Synkretismus hervor."

Für die Enttäuschung, die das Buch bereitet, das den
im Titel angegebenen Gegenstand weder beherrscht noch
auch nur teilweise sachkundig behandelt, können die
zahlreich eingestreuten Parallelen aus dem Talmud und
Maimonides nicht entschädigen, da diese meist nur deshalb
den philonischen Textstellen zu entsprechen scheinen
, weil diese Textstellen entweder nicht genau wiedergegeben
oder in ihrem tieferen Sinne mißverstanden sind.
Leipzig. Hans Leisegang.

Athinganer, Zigeuner.

In der „Festgabe", die Albert Ehrhard dargebracht wurde und die
ich in dieser Zeitschrift (Nr. 1 des gegenwärtigen Jahrgangs Col. llff.)
besprach, findet man eine kritische Ausgabe des griechischen „Traumbuchs
des Patriarchen Nikephoros", in welchem mir der Vers besonders
rätselhaft, aber auch interessant erschien, der es deutet, was die Erscheinung
von ^ttiyyavoi" In Traume zu sagen habe: sie zeige an, daß
,D ä mo n e n in der Nähe weilten" (nekttv „versari"). Der Herausgeber erinnert
an die Kombination der Athinganer mit den Melchisede-
k ianern in altkirchlichen Dokumenten, hegt also die Vermutung, daß
sie Häretiker seien. Nicht ihm, aber mir fiel auf, was für „merkwürdig
bekannte gefährliche Leute" die Athinganer sein müßten, wenn
sie einem „im Traume" erscheinen konnten. Woran war es dem
Träumenden denn erkennbar, daß er einen „Athinganer" sehe? Auffallend
war mir der Vers zumal in der Zeit des Nikephoros (806—815).
Möglich, vielmehr wahrscheinlich ist ja, daß das Traumbuch nur zufällig
zuletzt mit seinem Namen verbunden worden (es wird zum Teil
auch dem Germanos um 730, ja gar Athanasius und Gregor von
Nazianz zugeschrieben), und es hat einen Vorläufer, sowie einen
Nebengänger nichtchristlichen Glaubens. Ist die Athinganerstrophe
mindestens sicher „christlich" im Ursprung? Sehe ich recht, so
kommen außei -V<p«;!r/<W(V.2S0) keine „historischen" Gestalten in dem
Traumbuch neben den 'A&iyytiyoi vor. Von aloSTixöi ist nirgends darin die
Rede. Wie sollte man sie auch im Aussehen im Traume feststellen,
wenn sie nicht eine besondere Tracht oder eine spezifische sonstige,
etwa rassenhafte Physiognomie hatten? Aber gabs solche? (Allenfalls
die „Sakkophoren"!). Im Grunde geht es wirklich nicht an, die „Athinganer
" in dem Buche, selbst wenn die Strophe (es ist V. 4; das Buch
ist alphabetisch veranlagt, ein Nachschlagebuch für den Hausgebrauch
: ein Spezialschema, etwa irgendwelche Zahlenordnung, hat
es nicht; Einschaltungen und Auslassungen konnten jeden Augenblick
gemacht werden!) „ganz alt" sein sollte, mit einer häretischen Gruppe
zu identifizieren. Eine Karte aus Wrexen (in Waldeck), unterzeichnet
„Kalb, Pfr.", vom „12. Febr. 23" hat mich auf die wahrscheinlich
richtige Fährte geführt. Die Karte enthält nur die Worte:
„Sind die erwähnten Athinganer nicht gleich Zigeuner?"
Wenn das angenommen werden kann, schwinden in der Tat alle Bedenken
. Denn einen Zigeuner hat man zu jeder Zeit im Abendlande,
auch auf dem Balkan, „im Traume" zu unterscheiden vermocht. Er hat
stets und überall für unverkennbar gegolten. Aber woher der Name
,,Athinganer"? Es gibt ja wirklich eine Sekte dieses Namens. Ich habe
selbst weder Zeit, noch Neigung, der Frage mit wissenschaftlicher Genauigkeit
nachzugehen, teile hier aber doch mit, was ich bei einigem
Suchen gefunden habe. Man muß vermutlich ein Maß von Zufall mit
annehmen.

1. Das Rätsel des Worts „Zigeuner" erklärt sich noch am sichersten
, wenn man es mit 'A&iyyavoi in Verbindung bringt, d. h. als Entstellung
dieses Worts versteht. Ueber das gemeinte Wandervolk ist unerhört
viel geschrieben worden. A. F. Pott hat ihm gar zwei erhebliche
Bände gewidmet (Die Z/geuner in Europa u. Asien. Ethnographisch
linguist. Untersuchung, I, 1844, 476 S.; II, 1845, 540 S.).

Dem Namen widmet er I S. 26—54. „Zigeuner" ist die
deutsche Abart einer vielgestaltigen Form desselben (es gibt noch
eine ganze Reihe weiterer „Grundformen"; am verbreitesten die,
welche irgendwie das Völkchen als „Aegypter" kennzeichnet): Pott hat
anscheinend keine Kenntnis von „Athinganer" (so ist hier gleichgültig,
was er zuletzt für den Untergrund unserer deutschen Form erklärt). Die
neueste Untersuchung, von der ich weiß, ist die von Leo Wiener,
Die Geschichte des Worts „Zigeuner", in dem „Archiv f. d. Studium d.
neueren Sprachen und Literaturen", (von A. Brandl u.A. Tobler),Neue
Serie, 9. Bd., 1902. Auch Wiener hat von den Athinganern scheinbar
nichts gehört. Dagegen finde ich in Meyers Gr. Konversationslexikon,
6. Aufl., 20. Bd., 1908, es als mehr oder weniger sicher behandelt,
daß „Zigeuner" zusammenhänge mit (entstanden sei aus) „griech.
Atsinkanos oder Athinganos" (hiernach türk. „Tschingiane", rumän.
„Ciganu", litt. „Cigonas", ital. „Zingani, Zingari"). Nicht unerwähnt
lasse ich, daß sich in L. K. Weigands deutschen Wörterb., 5. Aufl..
von K. v. Bahder, H. Hirt, K. Kant, II, 1910 keinerlei Kenntnis von
(oder Rücksicht auf?) „Athinganer" findet. Ich meinerseits meine, der
Vers im Traumbuche sei eine fast sichere Unterlage für die Deutung
von „Zigeuner" als eine Form (Unter- und Unform mundartlicher Natur
) von Athinganer.

2. Aber nun das Sachliche. Wie kommen jene aus Asien
(sei es woher dort es sei) stammenden (am ehesten wohl für eine „unreine
" indische Kaste, eine Art von Parias zu haltenden) Nomaden
an den „Ketzernamen"? Der Konstantinopeler Presbyter Timotheus
(Auf. d. 7. Jahrhs.) weiß von Mt'kyLaithxlnti, die .,»'iV' als Atiiyymoi bezeichnet
würden; sie gehörten nach Phrygien. Gerh. F ick er hat
mit ihnen die Häretiker in Verbindung gebracht, die Amphilochius von
Ikonium (Ende des 4. Jahrh.) in einem besondern Traktat (den F.
erstmals ediert) bekämpft hat; vgl. Amphilochiana I, 1906, S. 269 ff.
(231 ff), das Dokument, das C a s p a r i unter dem Titel ,.//fpt A/t/yt-
atdexiKÖy xai @todownnSt x«i A'hyyüvmv" herausgegeben hat (nicht als
ein Stück „aus dem Syntagma des Hippolyt", wie ich a.a.O. in unerlaubter
Gedankenlosigkeit schrieb; es ist eine Ahschwörungsformel; C.
hat ihm norwegisch eine Untersuchung mitgegeben, die ich leider nicht
lesen kann; Ficker teilt ein Stück des Dokuments aus einer Eskorial-
handschrift mit; vgl. noch J. Kunze, Marcus Eremita, S.85), gehört
auch zu ihnen. Es ist wohl so gut wie sicher, daß bloß eine Konfusion,
eine willkürliche Kombination vorliege, wenn die Leute mit den alten
„Theodotianern" gleichgesetzt werden. „Melchisedek" spielt bei ihnen
(nach dem Traktat des Amphilochius!) auch gar keine Rolle. Hat Ficker
richtig kombiniert, so ist es eine Frage für sich, wie der dreifache
Name in dem Casparidokument zu verstehen sei. Kunze rückt die Mel-
chisedckiten-'l heodotiancr, die „*tV Athinganer hießen, überhaupt erst
in die Zeit des Presbyters Timotheus. Aber Ficker dürfte recht haben,
sie — wenn auch vielleicht noch nicht unter dem Namen „Athinganer"
— als schon im 4. Jahrhundert bestehend anzunehmen. Die Leute, die
Amphilochius vor sich hat, und die Athinganer des Timotheus sind
Enkratiten extremer Art, „hochmütige", die „Kirche" geringschätzende,
dennoch nicht ausgetretene „Laien", kleine ungebildete Leute „vom
Lande". Den Namen Athinganer, Leute die sich „nicht berühren
lassen", tragen sie von ihrer Lehre, wonach sie verunreinigt würden,
wenn sie auch nur ein Gefäß unmittelbar aus der Hand eines „Un -
gläubigen" („bloßen" Kirchenchristen) annähmen, geschweige Eßbares
. Sie werden als „Halbjuden", hingestellt, „Samariter". Brieflich
machte mich Herr D. Ficker aufmerksam auf den Aufsatz von J
Goldziher I.ä misäsa (arab. = Noli me tangere) in der Revue
Africaine von 1908 (LH. Jahrg., 268. Heft), welcher die ganze historische
„Samariter"-Gruppe, d.h. die Idee von ritueller Verunreinigung
durch „Berührung" von Fehlgläubigen, beleuchtet (wenn auch nicht geradeeingehend
; er streift auch die Athinganer). Für mich am interessantesten
in gegenwärtigem Zusammenhang ist, daß die Athinganer des
Casparidokuments u. a. der Zauberei und Wahrsagerei verdächtigt
werden. Diese „Nichtberührer", die sich ja natürlich „geheim
" (d. i. möglichst „allein") hielten, wurden begreiflicherweise je
länger je mehr unheimlich. Für „unheimliche" Leute aber haben,
das kann man konstatieren, auch die Zigeuner von allem Anfang an
gegolten; zumal auch für Wahrsager, Zauberer, Teufels- (Dämonen-)
genossen. Sie tauchen um die Zeit zuerst in Kleinasien, auch wohl auf
der europäischen Seite-(Konstantinopel) auf, wohin das Casparidokument
weist. Die „Häresie", die Amphilochius bekämpft, hat, wie F.
zeigt, viel größere Verbreitung gehabt (zum mindesten in Analogien), als
Phrygien (Lykaonien). Hießen die Leute bei den Griechen, als die
„Zigeuner" auftraten, schon Athinganer (diese Bezeichnung dürfte, nach
Goldziher, eine Uebernahme aus dem Arabischen, aus dem Koran,
sein, eine Verallgemeinerung des Schimpfnamens für speziell die
„Samariter"), so hatte man für diese neuen unheimlichen, sich „ge-
sondert" haltenden (schon durch ihre Sprache vom Verkehr ausgeschlossenen
, von ihrer Sprache nicht lassenden, durch sie wie durch
I Zauberworte schreckenden), „magischer" Künste sich berühmenden Leute
den Namen AHiyyavui (,'/ = ts oder tz, also gesprochen: Azinganer)
zur Hand. Für die christliche Sekte als solche ist natürlich daraus gar-
nichts abzuleiten, als was vielleicht nur Mißverstand und Uebelwollen
der „Kirchenleute" bei ihnen mutmaßte, ihnen andichtete.

Halle a.S. F. Kattenbusch.