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Ausgabe:

1923 Nr. 8

Spalte:

187-189

Autor/Hrsg.:

Fiedler, Kuno

Titel/Untertitel:

Der Anbruch des Nihilismus. Aphoristische Gedanken über das Verhältnis von Religion und Bürgerlichkeit 1923

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 8.

188

größten Mangel der Auffassung des Verf. sehe ich aber
darin, daß in dem Buche, in dem so viel von Religion
die Rede ist — und wahrhaftig immer in der ernstesten
und würdigsten Weise —, von Gott stets nur als von
einein Produkte des menschlichen Geistes geredet wird.
Der Verf. begnügt sich mit dem Schicksal. Ich glaube,
hier hätte er in die Gedankenwelt seines Meisters Goethe,
dem er so viel verdankt, noch tiefer eindringen müssen
und wäre damit auch unserm Protestantismus mehr gerecht
geworden.

Oftmals sagt der Verf., daß die Wissenschaft dies
oder das noch nicht einmal bemerkt habe und ich wenigstens
habe meine Freude an der Entdeckerlust des Forschers
; besonders erfreut ist er über die Entdeckung der
arabischen Kultur, in die er das Christentum einordnet,
eine Entdeckung, die bisher wegen der Abschließung
der Fachdisziplinen gegen einander unmöglich gewesen
wäre. Auch dies gehört zu den Vorzügen des Werkes:
daß es gegen das Spezialistentum auf die große Einheit
des geschichtlichen Lebens hinweist; wie lange ist es
denn her, daß die „alten" Historiker die wertvollste
Kraft der alten Geschichte, das Christentum, in ihren
Darstellungen unberücksichtigt ließen. Was die „arabische
Kultur" anbetrifft, so wird ja die Forschung bald
zeigen, ob der Verf. richtig gesehen hat. Das ist der
Segen solcher kühnen Würfe, wie sie der Verf. tut, daß
sie Anregungen geben. Und wenn ich das Werk Spenglers
auch nicht für den Bau eines Königs halten kann,
der den Kärrnern zu tun gibt, so freue ich mich doch
über die mannigfachen Anregungen, die es bietet, freue
mich, daß es erhabene Gedanken Goethes nutzbar macht,
daß es die in unserer Zeit übliche Ueberschätzung der
materiellen Mächte, wie Wirtschaft und Geld, mit Entschiedenheit
zurückweist, und gleichsam einen Hymnus
darstellt auf die schöpferische Tat und das Leben.

2. Schroeter bespricht und beurteilt die bisher erschienenen
„wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen
" Kritiken von Spenglers erstem Bande. Es
ist erstaunlich, in welchem Umfange er Aeußerungen darüber
zusammengetragen hat. Er verkennt keineswegs
die Schwächen, hat aber doch oft genug Veranlassung,
Mißverständnisse der Kritiker darzulegen. Seine Absicht
ist, Spenglers Werk und die Kritiken desselben als
Dokumente unserer Kultur begreifen zu lassen und zu
zeigen, inwiefern sich hier ein Fortschritt in der Entwicklung
unseres geistigen Lebens anbahnt. In der vorliegenden
Arbeit, die vortrefflich gegliedert ist, hält er
sich mehr referierend, ohne doch seine eigenen Gedanken
zu verdecken. Diese verspricht er in einer zweiten Arbeit
vorzulegen, deren Titel Kulturmetaphysik schon andeutet
, worin er die Stärke von Spenglers Werk sieht. Da
er die Kritiken der evangelischen Theologen besonders
eingehend würdigt, so ist das Buch uns sehr nützlich.

Kiel. Gerhard F ick er.

Fiedler, Kuno: Der Anbruch des Nihilismus. Aphoristische
Gedanken über das Verhältnis von Religion und Bürgerlichkeit. Balingen
, Verlag der Weltwende 1921. (230 S.) kl. 8°.

Das Buch setzt ein mit heftigen Klagen über die
Aufnahme, die des Verfassers frühere Schrift „Luthertum
oder Christentum" namentlich bei den Theologen —
„was weiß ein Theologe von Religion!" — gefunden
hat. Es nimmt das seinerzeit behandelte Thema in anderer
Form wieder auf, indem es „Bürgerlichkeit" und „Religion
" einander gegenüber stellt, i

„Bürgerlichkeit" ist vom Uebel, um nicht zu sagen,
sie ist das Uebel. Die für den Bürger charakteristischen
Merkmale sind ja durchweg unerfreuliche oder werden
doch als solche ningestellt. Der Bürger „hat einen Hang,
zum Mittelmaß und zum Durchschnitt"; er „ist schwerfällig
und aller Veränderung abgeneigt"; er hat ein
„dichtes Gefüge"; er ist ängstlich, „fürchtet den Abgrund
und die Tiefe"; er „hat vor der Welt einen unmäßigen
Respekt"; er „fußt auf der Wirklichkeit, und
zwar auf der augenblicklichen"; er „wehrt sich aber

sehr energisch dagegen, sie von neuem dem umgestaltenden
Einfluß der Idee auszusetzen"; er schätzt in hohem
Maß das Leben als eine Gabe des Schöpfergotts; er ist
kulturfreundlich; sein „Ideal" „liegt in der höchsten
Ausbildung des Selbstbewußtseins"; er setzt voraus, daß
„die Religion auch dem Leben zu dienen habe"; „daß
der Zweck die Mittel heiligt, bildet einen Fundamentalsatz
seines Glaubens"; er legt Wert auf die Wissenschaft:
die „Wissenschaft ist bürgerlich"; er „hat noch nicht gelernt
, sich seines Verstandes zu schämen"; er legt Wert
auf die Sittlichkeit: diese „ist ihm das Höchste"; er ist
„vor allem rational und ethisch orientiert, ohne inzwischen
nach beiden Richtungen je ganz ehrlich zu
sein; er ist blind gegen die Logik der Dinge und ungehorsam
gegen die höhere Führung, die sich in ihr ausspricht
"; auch sind „die Frauen um vieles bürgerlicher
als die Männer"; sie sind „typische Bürger", „wahrer
tiefer Religiosität scheinen sie gar nicht fähig". Der
Bürger „ist das unwahrste und leerste Produkt der scheinhaften
Wirklichkeit". Kurz und gut: „ein einziger Sumpf
— das ist sein Element"!

Bedauernswerter Bürger! wer möchte nicht von ihm
abrücken so weit, als nur irgend möglich! Anders, ganz
anders als die Bürgerlichkeit die Religion! Sie ist das
„Alleraristokratischste, Revolutionärste und gleichzeitig
Interessanteste, was sich denken läßt". Sie ist freilich
nicht leicht zu charakterisieren: mit religionspsychologischen
und gar theologischen Bemühungen um das Verständnis
ihres Wesens ist nichts zu erreichen. Am besten
wird sie zunächst gekennzeichnet durch ihre Gegensätzlichkeit
zur Bürgerlichkeit, deren „morphologisches Widerspiel
" sie ist. In ihrer höchsten und vollendeten
Form, wie sie sich bei Jesus und den religiösen Heroen
des Orients darstellt, erscheint sie dann aber als Mystik,
und zwar — Mystik ist ja an sich ein bloßer Sammelname
— als was für eine Mystik! Ihre „Tendenz ist,
das Leben völlig zu durchsäuern und eben damit aufzulösen
, es zur wahren Einheit zurückzuführen". Ihr
Ziel ist die Aufhebung der „Persönlichkeit", des „Selbstbewußtseins
", dessen Emporentwicklung dem „Bürger"
am Herzen liegt; die „Entselbstung" und „Entpersönlichung
"; die „Wiedergutmachung der Differenzierung
des Seins durch die Unierung im Nichtsein, in Gott".
Das „absolute Nichts" und der „absolute Gott" sind
nämlich Wechselbegriffe (S. 182): Gott „ist der radikalste
Gegensatz zur Welt, der sich denken läßt". Und
wenn Jesus vom „ewigen Leben" spricht, so könnte er
ebensogut vom „Tod" oder vom „Nirväna" reden: es
ist für ihn dasselbe. Deshalb schätzt der religiöse Mensch
nicht etwa gleich dem Bürger das Leben. Er strebt vielmehr
„zum Abgrund und zum Untergang, und der Aufbau
ist ihm etwas Widerwärtiges". Er „verurteilt unsere
ganze abendländische Kultur". Er legt keinen Wert
auf die Sittlichkeit im bürgerlichen Sinn. Er steht jenseits
von Gut und Böse. Er legt auch keinen Wert auf
Wissenschaft, auf Verstandesbildung im bürgerlichen
Sinn: er erhebt sich über den „Gegensatz von Falsch
und Richtig". Er ist „der radikalste Skeptiker", „scheut
sich weder vor Dummheit noch vor Unrecht", ist „extrem
und exzentrisch", „zeichnet sich durch Hemmungslosigkeit
und Neigung zum Umsturz aus": sein „Handeln
ist negativ wie sein Denken".

Unter solchen Umständen ist zwischen Religion
und Bürgerlichkeit nur ein unerbittlicher Kampf möglich
. Die Waffen, deren sich dabei die erstere bedient,
sind scheinbar dieselben, die von der Bürgerlichkeit für
ihre Selbstbehauptung gebraucht werden: nämlich Moral
und Vernunftbetätigung. So jedoch, daß eine ganz andere
Moral und eine ganz andere Vernunftbetätigung in Betracht
kommt. Es handelt sich um eine höhere, vollendete
Moral, die alles und jedes Tun, das gute wie das
böse, in gleicher Weise verwirft, und um eine erhabenere
Vernunftbetätigung, die nicht in der lebenfördernden
Wissenschaft, sondern in der „Erkenntnis", und das
heißt, schließlich in der „Versenkung", aufgeht. Der