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Ausgabe:

1923 Nr. 8

Spalte:

185-187

Autor/Hrsg.:

Spengler, Oswald

Titel/Untertitel:

Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 2. Bd.: Welthistorische Perspektiven 1923

Rezensent:

Ficker, Gerhard

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185

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 8.

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den Versuche zu religiöser Neubelebung. Ein letzter Abschnitt (III)
entwickelt die eigenen Reformwünsche des Verf. an Theologie, Kirche
und Schule.

Das Buch ist geschrieben aus dem Glauben an eine Synthese
von deutschem Idealismus, evangelischer Frömmigkeit und moderner
Kultur. Desto mehr aber ist zu bedauern, daß Verf. kein Sensorium
hat für die jüngste Wendung unserer geistigen Situation, mit der eben
er sich hätte auseinandersetzen müssen. Daß im Gefolge des über uns
hereingebrochenen Schicksals unsre moderne Kultur sich selbst problematisch
geworden ist, ja daß sie (und zwar mit Einschluß des Idealismus
) gerade von der Religion bzw. von Gott her in die schärfste
Krisis geraten soll — solche heute aktuellen Tatsachen und Forderungen
sind dem Verf. fremd. Er kennt also z. B. weder die philosophische
Neuorientierung Natorps in seinem „Sozialidealismus", dessen
Kulturkritik und Verweisung der Religion in ein Jenseits der Humanität
; noch beachtet er Barth, Gogarten und ihre Jünger, welch letztere
in zweifellos richtiger Absicht, aber in einer den Reichtum etwa Luthers
verkürzenden und die Freude an der eigenen Originalität bedenklich
übertreibenden Ausführung die Gottesfrage als „die" Kernfrage, den
„eifersüchtigen Gott" als die Krisis aller „Religion" und aller Kultur
predigen. — Schon von andern hätte Verf. lernen können, daß der
Grundfehler des Psychologismus gegenüber der Religion nicht der
allgemein methodische ist, daß er die kritische Geltungsfrage aufzurollen
sich anmaßt. Vielmehr zeigt sich seine und des Historismus Beschränktheit
darin, daß beide mit ihrem Verhaftetsein an die immanenten
Zusammenhänge in Raum und Zeit gar nicht an die Substanz
wirklicher Religion herankommen können, deren Konstituens und
Agens der schlechthin überweltliche Gott ist. Von dieser Einsicht
aus erscheint auch die transzendentale Fragestellung nach einem
religiösen Apriori ebenso absurd wie die Charakterisierung der Religion
als psychisches Datum. Sie kommt aber nur da zur Geltung, wo die
Korrelation zwischen Gott und Glaube inhaltlich und methodisch als
Notwendigkeit verstanden ist (die m. E. gerade auch bei Barth u. s.w.
bezügl. des Glaubens verkürzt wird).

Den Kernpunkt der religiösen Bewegung der Gegenwart hat
Verf. demnach trotz allen unleugbaren Verdiensten nicht aufgezeigt.
Hallea.S. F. W. Schmidt.

Spengler, Oswald : Der Untergang des Abendlandes. Umrisse
einer Morphologie der Weltgeschichte. Zweiter Band: Welthistorische
Perspektiven. München, C. H. Beck, 1922. (V11.635S.) gr. 8»

Gz. 15; einf. geb. 20.

Schroeter, Manfred: Der Streit um Spengler. Kritikseiner
Kritiker. München, C. H. Beck, 1922. (VIII, 168 S.) 8°. Gz. 3,8.

1. Vielen hat der erste Band von Spenglers Werk
den Eindruck hinterlassen, der Verfasser predige einen
hoffnungslosen Pessimismus. Der ungenaue und mißverständliche
Titel hat wohl Anteil an dieser Vorstellung,
mehr noch aber unser Zusammenbruch, in den das erste
Erscheinen des ersten Bandes fiel. Der 2. Band widerlegt
diese Vorstellung; er zeigt, daß wir es mit einem
starken, mutigen, tapferen Werke zu tun haben, das die
besten Kräfte der Vergangenheit und Gegenwart zur Tat
und zum Aufbau aufruft. Man merkt auch hier, daß eine
mächtige und energische Gedankenarbeit hinter dem Ganzen
steht, dazu eine wirklich phänomenale Belesenheit, I
um nicht zu sagen Gelehrsamkeit, und Urteilsfreude auf
fast allen Gebieten des kulturellen Lebens. Die Fähigkeit
und Neigung des Verfassers, für seine Gedanken
immer eindrucksvolle Prägungen zu finden, helfen den
großen Erfolg des Werkes erklären. Fast immer wird
der Leser in Aufmerksamkeit erhalten und zum Nachdenken
angeregt. Leicht freilich ist die Lektüre nicht;
und ich glaube, der Verfasser hätte gut daran getan,
etwa durch Einfügung von passenden, nicht zu kurzen
Überschriften über den einzelnen Abschnitten dem Leser
den Inhalt und den Fortschritt des Gedankenganges zu
verdeutlichen, schon um Mißverständnisse möglichst auszuschließen
. Auch würde ein gutes Register es ermöglichen
, den reichen Inhalt viel besser auszuschöpfen.
Vielleicht aber ist das, was ich als Mangel empfinde, beabsichtigt
, um auch den Schein des „Akademischen" auszuschalten
.

Den Hauptwert des Buches sehe ich darin, daß es
den Mut gehabt hat, der gegenwärtigen Kultur, d. h. der
abendländischen, besser gesagt der europäisch-amerikanischen
, den Spiegel vorzuhalten und zwar einen sehr
scharfen und klaren, und zu zeigen, daß sie sich keineswegs
in aufsteigender Linie befindet, sondern alle Anzeichen
des Verfalls an sich trägt. Gerade auch die Ereignisse
der letzten Jahre, der Weltkrieg, die deutsche
Revolution werden mit rücksichtsloser Klarheit und
Schärfe charakterisiert und beurteilt, wobei der Verfasser
sich nicht scheut, anscheinend herrschenden Tagesmeinungen
energisch zu widersprechen. Er hat den Mut,
die Gegenwart zu sehen, wie sie ist, es auch auszusprechen
, wie er sie sieht und zu beweisen, daß er sie
richtig sieht. Und wie die Gegenwart, so ist er auch
nach Kräften bestrebt, die Vergangenheit, die Geschichte,
zu sehen, wie sie wirklich war. Ich habe durchaus nicht
den Eindruck, daß der Verf. sein Geschichtsbild von der
Betrachtung der Gegenwart aus entworfen, sondern daß
er die Beurteilung der Gegenwart von dem in harter Arbeit
gewonnenen Geschichtsbild aus erworben hat. Hierin
liegt der wissenschaftliche Charakter des Werkes begründet
.

Und hier ist es nun ganz erstaunlich zu sehen, in
welchem Umfange Sp. die lebendigen Kräfte in den Bereich
seines forschenden Verstandes gezogen hat. Er
will ja in allem das Leben, das Wesen der Dinge, der
Vorgänge, ihre Seele aufzeigen. So werden die Kultur,
die Religion, das Recht, die Wirtschaft, die Technik, die
Geschichte, der Staat bis in ihren tiefsten Kern darzulegen
versucht. Der Zweck ist, die allgemeingiltigen
Gesetze des Lebens bloßzulegen; nicht als ob der Verf.
nicht wüßte, daß wir das Leben im letzten Grunde nicht
begreifen können, wie oft spricht er von Geheimnissen,
die wir in Ehrfurcht hinzunehmen haben. Von diesen allgemeingiltigen
Gesetzen leitet der Verf. auch die Möglichkeit
ab, Zukünftiges zu erkennen. Die verschiedenen
Kulturen, die die Erde bisher gesehen hat, haben in ihrem
Verlauf grundlegende gemeinsame Züge; und es ist in
der Tat überraschend, wie viele Parallelen zwischen unserer
und z. B. der ägyptischen und chinesischen Kultur
aufgezeigt werden können. Diese Gesetze ermöglichen
es auch, in dem geschichtlichen Verlaufe Vorkommnisse
zu erschließen, von denen in unseren Quellen nichts berichtet
wird, wofür passende Beispiele gegeben werden.

Es ist natürlich, daß bei einer solchen Fülle des Gebotenen
an Tatsachen und Gedanken bei einem Werke,
das die Arbeit fast sämtlicher Fachwissenschaften und
die sämtlichen Kulturen der Erde in Vergangenheit und
Gegenwart umfassen will, auch nicht annähernd der Inhalt
wiedergegeben werden kann; es ist aber auch natürlich
, daß jede Fachwissenschaft Bedenken erheben und
Irrtümer nachweisen kann. An Einzelnem will ich nicht
weiter haften, obgleich auch da manches zu sagen wäre;
so z.B. S. 315, wo dem Arius die Anschauung nachgesagt
wird, der Sohn sei dem Vater wesensähnlich, obgleich
das gerade das Gegenteil seiner Meinung ist; natürlich
sind auch solche Irrtümer nicht unbedeutend, da
aus ihnen weiter gehende Schlüsse gezogen werden.
Bedenklicher scheint mir schon zu sein, wenn der Verf.
S. 360 ff. sich der Meinung Goethes anschließt: die
Ohrenbeichte hätte dem Menschen nie genommen werden
sollen, dem Bußsakrament eine hohe Bedeutuno- zuerkennt
, aber nichts davon verlauten läßt, daß die Abschaffung
desselben etwas viel Höheres darstelle. Ebenso
bin ich ganz und gar nicht damit einverstanden, daß
Luther S. 363 als der letzte einer mächtigen Reihe, sein
Lied „Ein feste Burg" als das letzte gewaltige Teufelslied
der streitenden Kirche bezeichnet wird. Das ist eine
Umkehrung des wirklichen Sachverhalts. Hier scheint
mir einer der großen Irrtümer in des Verf. Gesamtan-
schauung vorzuliegen, dem Protestantismus und insbes.
dem Luthertum wird er nicht gerecht; im Gegenteil, er
verrät keine Vorstellung von der weltgeschichtlichen Bedeutung
des Luthertums. Das klingt heutzutage paradox-,
wo man unter der westlichen Einwirkung Luther hinter
seinem Schüler Calvin zurücktreten läßt. Ich gehe noch
weiter: ich behaupte, daß das 3. Zeitalter großer Gedankenbewegung
, das der Verf. für die russische Welt (S.
32. Anm.) für die erste Hälfte des nächsten Jahrtausends
prophezeit, eben mit Luther begonnen hat. Den