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Ausgabe:

1923 Nr. 8

Spalte:

183-184

Autor/Hrsg.:

Küchler, Walter

Titel/Untertitel:

Ernest Renan. Der Dichter und der Künstler 1923

Rezensent:

Petsch, Robert

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183

Theologische Literaturzeitung 1923 Nr. 8.

184

„die Vermutung Krokers, Melanchthon habe eine Abschrift von
Luthers Tischreden besessen und davon in seinen Vorlesungen Gebrauch
gemacht, unwiderleglich dargetan" werde. Das ist jedoch sehr voreilig
. Mel. scheint lediglich aus seiner Erinnerung zu schöpfen, vgl.
z. B. vorher Nr. 318: Ego saepe audivi ü. Doctorem Martinum
Lutherum recitantem ... ( = CR 20, 535 u. Ztschr. f. Kirchengesch.
12, 6191). Haltlos ist auch, was M. aus den Erzählungen Luthers bezw.
Melanchthons über das Teufelsbündnis des Wittenberger Studenten
Valerius Glöckner und dessen Bekehrung Nr. 295 und über den
Teufelspakt des Regensburger nobilis Nr. 462 zu Gunsten seiner fixen
Idee von der antimelanchthonischen Tendenz des Faustbuchs folgert.

In dem 7. Aufsatz „Doppeldrucke" endlich wendet sich M. gegen
Schlüsse, die Joh. Luther aus den von ihm beobachteten Fällen von
Lutherdoppeldrucken auf die Gründe, die die Buchdrucker bestimmt
haben möchten, gezogen hatte (vgl. dessen Abhandlungen im Zentralblatt
für Bibliothekswesen 27 und 31). Luther hatte, wenn ihm
Doppeldruck im Anfang einer Lutherdruckschrift begegnete, auf Auflageerhöhung
während des Drucks (die Drucker nahmen sie vor, wenn
sie merkten, daß die betreffende Druckschrift, die sie unter der Presse
hatten, einschlagen würde), wenn ihm Doppeldruck in der Mitte
oder am Ende begegnete, auf Ergänzung einzelner versehentlich in zu
kleiner Auflage abgezogener Bogen geschlossen. M. erhebt gegen diese
Schlüsse beachtenswerte Einwände aus der buchdruckerischcn Praxis.
Wenn ferner Luther meint, es sei das Bestreben der Wittenberger Buchdrucker
gewesen, den Büchermarkt sogleich mit der 1. Ausgabe einer
Lutherschrift zu überschwemmen und zu beherrschen, was ihnen nach
1530 (von da ab verschwinden die Nachdrucke) auch wirklich gelungen
wäre, so zeigt M., daß das Nachlassen des Nachdrucks von
Lutherschriften von diesem Termin ab vielmehr mit einem Abflauen
des religiösen Interesses in weiten Kreisen zusammenhänge.

Zwickau i.S. O. C lernen.

Stölzl e, Prof. Dr. Remigins f: Charles Darwins Stellung zum

Gottesglauben. Rektoratsrede. Mit einem Bildnis des Verfassers.
Leipzig, F. Meiner 1922. (34 S.) kl. 8°. Gz. 0,8.

War Darwin Theist, war er Atheist oder Agnostiker? Alle drei
Standpunkte nehmen ihn für sich in Anspruch. Welches war seine tatsächliche
Stellungnahme in der Gottesfrage? Stölzle antwortet zutreffend
: anfänglich war er erkenntnismäßiger Theist; je mehr sich
ihm seine mechanische Naturauffassung herausbildete, um so mehr
wurde er erkenntnistheoretischer Agnostiker. Ueber diese Feststellung
hinausgehend, erklärt St. allerdings, weil Gott in Darwins Welterklä-
rung keine Rolle spielt, Darwin gebe die agnostische Neutralität auf
und verneine Gott praktisch (S. 27). Den Schluß bildet eine kurze
Auseinandersetzung mit Darwins Gründen für seinen Agnostizismus,
deren Hauptgedanke: er sei eben zu sehr Empirist gewesen.

Herrnhut Th. Steinmann.

Küchler, Walter: Ernest Renan. Der Dichter und der Künstler.
Gotha, F.A.Perthes 1921. (213 S.) 8°. Brücken, Bd. 5. Gz. 1,6.

Über wenige ausländische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts
besitzen wir Bücher von dieser Art, die ihren
Helden zu gleicher Zeit mit umfassender Gelehrsamkeit
und mit hoher stilistischer Kunst, mit liebevollster Versenkung
in die letzten Triebkräfte seiner Seele und mit
scharfer, sachlicher Kritik behandeln. Die kritische Einstellung
verrät sich denn auch gleich in dem Titel des
Buches. Der Verfasser des „Lebens Jesu" war kein Forscher
und Gelehrter, obwohl er lange genug zwischen
üeschichts- und Naturwissenschaft hin- und hergependelt
ist; er war auch keine eigentliche religiöse Natur, obwohl
er mit einer Art von religiöser Inbrunst um die Abrun-
dung seines wesentlich positivistischen Weltbildes gerungen
hat; er ist in allem, was er eigentlich „geleistet"
hat, in allem, wodurch er noch heute zu uns spricht,
recht eigentlich „der Dichter und der Künstler". Ohne
tragischen Bruch vollzieht sich die Abkehr von seinem
Jugendglauben in dem Augenblick, wo er die Weihen
nehmen soll, ohne tiefe innere Erschütterung erlebt er
späterhin, bei der Besetzung Frankreichs durch die
„Preußen" immerhin schmerzliche Enttäuschungen über
das Land seiner träumerischen Sehnsucht; und ohne sich
eigentlich selbst untreu zu werden, kann er in späteren
Jahren über manches witzeln, was ihm früher heilig war.
Er ist darum kein Spötter, er ist nicht innerlich respektlos
geworden, aber er spielt mit den Dingen und selbst
mit seinen Idealen nach dem Rechte des Künstlers und
in der Art und Weise des französischen Rokoko, als
dessen Nachfahren ihn V. Klemperer geistreich charakterisiert
(Germanisch-Romanische Monatsschrift, Bd. X,
S. 101 ff.). So reiche Anregungen er durch Herder, Fichte
und Hegel empfangen haben mag, ein Geistverwandter
ist er ihnen nicht gewesen und nicht geworden und auch
sein „Leben Jesu", das K. mit Recht als seine bedeutendste
und wirksamste Leistung in den Mittelpunkt
seiner Darstellung rückt, ist ganz anders eingestellt als
dasjenige von Strauß.

Daran ändern die massenhaften Stoffsammlungen nichts, auf die
er seine Darstellungen des „Urchristentums" begründet hat; er verarbeitet
sie mit einer äußerst fruchtbaren „historischen Phantasie", wobei
aber der Nachdruck auf dem letzteren Worte liegt; alle Wünsche
und Sehnsüchte, alle Zweifel und Qualen des Verfassers bestimmen
seine Stellungnahme zu diesem Material. Ein Hauptverdienst K.s liegt
in dem Nachweis, daß R. von seiner Jugend an und bis zu seinen
späteren Arbeiten hin in allem Wesentlichen die gleiche Grundhaltung
dem Phänomen Jesu und der christlichen Religion überhaupt eingenommen
hat. Es ist die merkwürdige Zwitterstellung eines Menschen,
der ästhetisch von der Gestalt Jesu aufs tiefste ergriffen ist, so wie er
sie versteht: als eine Mischung von fanatischer, glutvoller Schwärmerei
im Innern und herzgewinnender Liebenswürdigkeit und Milde in der
äußern Erscheinung, einen Menschen, der mit sanftem Lächeln die
Welt aus den Angeln hebt, sich halb widerwillig von seinen Anhängern
in die Bahn des „Wundertäters" ziehen läßt, ohne aber seinem
innersten Erlebnis eigentlich untreu zu werden. R. fühlt nun, daß dieser
Jesus und seine Herrlichkeit nur von einer recht eigentlich religiös
gestimmten Seele ganz ergriffen werden kann, aber er mag diese
Glut innerlich nicht aufbringen, fühlt sich auch von ihren letzten Ausstrahlungen
als moderner Kulturmensch zurückgestoßen. So möchte
er auf dem Umwege der wissenschaftlichen Erkenntnis in den ewigen
Wahrheitsgehalt der Lehre Jesu eindringen, kommt aber hier natürlich
nicht zum Ziel, weil er mit den Grundschauungen und Methoden seiner
Zeit über eine positivistische Sammlung und mechanische Verknüpfung
von Tatsachen nicht hinauskommt und schließlich durch Phantasie ersetzen
muß, was ihm an unmittelbarem, einfühlendem „Verstehen"
abgeht. Das Ergebnis ist völlige Verständnislosigkeit gegenüber dem
Mysterium, dessen Ausstrahlungen er sich als primitiven Enthusiasmus
nur sehr mangelhaft „erklärt". Das ehrliche Ringen R.s um die treibenden
Kräfte und die Ideale des Urchristentums tritt freilich eben so
klar hervor wie sein völliges Unvermögen, in die letzten Tiefen einzudringen
. Dieses zeigt sich besonders solchen Erscheinungen wie
Maria Magdalena oder Paulus gegenüber, denen R. ausgezeichnete
psychologische Darstellungen widmet, die nur gerade auf jene Persönlichkeiten
nicht zutreffen. Viel eher weiß er eine Gestalt wie Nero und
auch Atarc-Aurcl aus ihrem eigenen Milieu aufwachsen zu lassen. —
Soviel über die „geschichtliche" Darstellung. Aber auch in den
„Philosophischen Dialogen", welche die Leser dieser Zeitschrift noch
besonders interessieren dürften, werden, wie K. treffend bemerkt,
„nicht Probleme zur Diskussion gestellt, die einer bestimmten Lösung
zugeführt werden sollen oder können, sondern es werden nur Dinge
erörtert, die den Leser zum Nachdenken anreizen". Das gilt natürlich
besonders von den Abschnitten „Probalites" und „Reveries".
Aber auch, was unter dem Titel „Certitudes" gegeben wird, sind im
wesentlichen Glaubenssachen: Bekenntnisse eines Pessimisten, der sich
doch klar machen möchte, daß die Welt trotz allem ein Ziel hat; ein
Ziel, das nur denen verborgen bleibt, die es befördern müssen.
Tugend ist ein Mittel, die Zwecke der Weltvernunft zu fördern auf
Kosten des Wohls aller derjenigen, die sie üben. Das grenzt an Hegels
„List der Vernunft", und wir hätten es gern gesehen, wenn Küchler
diese gedanklichen Beziehungen in der Form einer Parallele ausgeführt
hätte, wie er ja die von R. selbst gezogene Verbindungslinie zu
Schopenhauer nachweist. Freilich, niemals hätte sich Hegel zu einer so
ruchlosen Oberflächlichkeit aufgeschwungen, wie sie R. hinter einem
herablassend-diplomatischem Lächeln versteckt, wenn er „dem Volke
die Religion" erhalten wissen will. Die „Philosophischen Dramen"
vollends zeigen nur noch den spielenden, ja spielerischen Rokokokünstler
, in dem man oft genug den bloßen „Dilettanten" hat sehen
wollen. K. bemüht sich in seinem Schlußabschnitt um eine gerechte
Würdigung des Mannes und damit einer Richtung des französischen
Geistes überhaupt, zu der wir Deutschen der Gegenwart ohne solche
„Brücken" den Weg so leicht nicht finden werden.

Hamburg. Robert Petsch.

Kessel er, Lic. Dr. Kurt. Die religiöse Bewegung der Gegenwart
. Leipzig, B. G. Teubner 1922 (128 S.) kl. 8°. Aus Natur und
Geisteswelt 840 B. Gz. 1,3; geb. 1,6.

Verf. sucht in recht ansprechender Weise eine allgemeinverständliche
Einführung zu geben in die religiöse Bewegung der Gegenwart
und ihre Krisis. Zu dem Zwecke werden zunächst (I) die Hemmnisse
und Förderungen durch die moderne, in Religionsgeschichte,
-Psychologie und -Philosophie sich spaltende Religionswissenschaft aufgezeigt
. Daran schließt sich (II) eine kritische Darstellung der in
Theosophic, moderner Mystik und religiösem Aktivismus sich anbieten-