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Ausgabe:

1922 Nr. 24

Spalte:

522-524

Autor/Hrsg.:

Gronau, Karl

Titel/Untertitel:

Das Theodizeeproblem in der altchristlichen Auffassung 1922

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 24.

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lichkeit des offenen leeren Grabes flehen ihm feft: er will
verfuchen die Einzelheiten deffen, was fich zwifchen Mitternacht
und 10 Uhr morgens am Ostertag ereignete, feft-
zuflellen. Lukas hat Marcus benutzt (gedächtnismäßig),
aber mit den auf Maria Magflalena zurückgehenden
l'etruserinnerungen des Mc. verfchmolzen, was Johanna
ihm erzählt hat — alfo keine bewußte Änderung durch
den Evangeliften — und beider Frauen Erinnerungen
waren gut: alfo Additionsharmoniflik bei Literarkritik.
Scharf wird der Unterfchied des in Rembrandt-Manier
durch Wunderglanz erhellten Nachtgemäldes bei Matth,
von dem fonnigen, friedfamen Oftermorgen bei Mc. (Lk.)
herausgearbeitet, aber auch hier hilft der Tifchlerkunll-
griff des ,easing the join'. Matth, erzählt eben den Be-
luch der Frauen am Grabe zu früh, indem er fie zu
Zeugen des Erdbebens ufw. macht; fiktifch kamen fie
erft, nachdem die Wache, von der fie übrigens nichts
wußten, das nun offene Grab verlaffen hatte, gleich nach
Sonnenaufgang, wie Mc. richtig fagt. Die Frauen
müffen bald nach Verlaffen des Grabes ihre Haltung
wiedergewonnen haben: das ift die Wirkung der Chriftus-
erfcheinung Matth. 28 gf. Aus dem verlorenen Mc-
Schluß flammt auch die Erfcheinung auf dem Berg in
Galiläa, Matth. 28, 11—20. Aus Lk. 24, 24 ergibt fich,
daß auf die Botfchaft der Frauen hin auch Jünger das
leere Grab befuchten. Bei dem 4. Evangelium, das als
Werk des greifen Zebedaiden, mit einer merkwürdigen
Mifchung trefflicher Augenzeugenerinnerungen und ge-
fchichtsfremder Meditation gilt, bei dem aber immer mit
dem fchwachen Gedächtnis des Greifes zu rechnen ift,
wird ein Irrtum konftatiert: die Engelerfcheinung hat
Maria Magdalena nicht bei dem zweiten, fondern fchon
bei dem elften Befuch am Grabe erlebt. Sonft löfen
fich alle Schwierigkeiten, wenn man annimmt, daß fich
die Frauen nach dem erften Befuch trennten, Maria
Magd, fucht allein Petrus und Johannes, die ein genieinfames
Quartier hatten, auf, und erlebt dadurch nicht die
Erfcheinung des Herrn, die den andern Frauen auf ihrem
Weg zu den übrigen Jüngern die Faffung zurückgab:
fo muß fie erft durch die Noli-me-tangere-Szene erfaßt
werden. — Das alles ift fehr fcharffinnig, mit frommem
Eifer durchdacht und, ftellt man fich einmal auf den
Standpunkt der Harmoniftik, einleuchtend und wertvoll.
Uns aber mutet es wie aus einer fremden Welt an, aus
einem früheren Jahrhundert: diefer Standpunkt mit feinen
Grundvorausfetzungen gleicht dem Cocon, in den die
kriechende Raupe fich einfpinnt: erft wenn er zerriffen
wird, kommt der freifliegende Schmetterling heraus. Um
allen Berichten, die als gleichwertig genommen werden,
gerecht zu werden, fetzt man alle ins Unrecht. Das ift
Vergewaltigung der Überlieferung, und darüber helfen
alle feinen pfychologifchen Erwägungen nicht hinweg.
Halle a. S. v. Dobfchütz.

Harrison, P. N., M. A„ D. D., The Problem of the Pastoral
Epistles. (X u. 184 S. u. 16 S. Text.) 8°. London,
Oxford University Press. 1921. 12 sh. 6 d.

Diefes neuefte Werk über die Paftoralbriefe will
nicht das literarifche Problem von I II Tim. und Tit. in
feinem ganzen Umfang behandeln; es ift dem Verf. im
wefentlichen um die fprachliche Seite der Sache zu tun.
Das Refultat, zu dem er gelangt, ift die Fragmentenhy-
pothefe in folgender Geftalt: Der Autor unferer Past.
fchrieb gegen Ende von Trajans oder am Anfang von
Hadrians Regierung und benutzte dabei folgende echte
Briefe oder Brieffragmente: 1) Tit. 3, 12—15, gefchrieben
aus Mazedonien, fpäter als II. Cor. 10—13, früher als
II. Cor. 1—9. —2) II. Tim. 4,13—15. 20.21a, gefchrieben aus
Mazedonien nach dem Befuch in Troas, der II. Cor. 2,i2f.
erwähnt ift — 3) II Tim. 4, 16—18a, gefchrieben aus Cä-
farea nach der Ankunft des gefangenen Paulus (jtQojxtj
ujtokoyla = Act. 22,1 ff.) — 4) II. Tim. 4,9—12. 22 b, gefchrieben
aus Rom. — 5) H. Tim. 1, 16—18. 3, iof. 4, 1.

2a. 5 b. 6—8. 18b 19. 21 b. 22a; der letzte Brief des Paulus,
gefchrieben aus Rom, am Vorabend feines Martyriums.

Man fieht ohne weiteres, daß durch diefe komplizierte
Hypothefe gewiffe Schwierigkeiten befeitigt werden; die
Perfonalnotizen find echt, aber brauchen nicht alle aus
derfelben Situation abgeleitet zu werden; auch die fehr
anfechtbare Vermutung einer Rückkehr des Paulus in den
Offen nach feiner erften Gefangenlchaft wird dadurch
ausgefchaltet. Man fieht aber auch, daß die Fragmenten-
hypothefe hier nahe vor ihrer Selbftzerfetzung fleht.
Denn wenn der Autor ad Timotheum diefe verfchieden-
artigen Briefftücke fo unpaffend zufammenfügte, fo hat
er eigentlich durch diefe Verfchlingung der Texte deren
Sinn getrübt, um nicht zu fagen: verfälfcht. Von da ift
es nur ein Schritt bis zu der andern Hypothefe, daß der
Autor ad Tim. unter Benutzung unferer (und vielleicht
auch anderer, uns verlorener) Paulusbriefe die Briefe
einfchl. der Perfonalnotizen verfaßt habe. Und mich
dünkt, nur ein fehr kleiner Schritt. Freilich bleibt den
Anhängern der Fragmentenhypothefe das Gefühl, daß
das Ethos von II. Tim. 4,6ff. nicht erdichtet ift, fondern
aus dem gefchichtlichen Leben des Paulus flammt; allerdings
aus vier verfchiedenen Situationen — das ift denn
doch eine recht zweifelhafte Echtheit. Leider ift H. auf
die Frage nicht ausführlich eingegangen, wie es fonft in
der Literatur der Zeit mit unechten Perfonalnotizen fleht.
Eine folche Unterfuchung wäre förderlicher als alle Er;
wägungen über Shakefpeare, bei dem die literarifchen
Verhältniffe völlig anders liegen.

Das eigentliche Ziel des Verf. find aber gar nicht
literarifche, fondern lexikalifche Forfchungen. In der Tat
ift die Wortftatiftik der Pafl. wohl noch nie fo ausführlich
und fo überfichtlich dargelegt worden: Liften, Diagramme
und nicht zuletzt ein Textabdruck, in dem die
unpaulinifchen Elemente rot gedruckt find, ermöglichen
einen Vergleich des Wortfchatzes der Pafl. mit dem der
Paulusbriefe, des Neuen Teflaments und der Apoftolifchen
Väter. In diefer Beziehung ift das Buch eine fehr förderliche
Leiftung, für die gerade wir Deutfche dankbar
fein müffen, da uns die Geldverhältniffe den Luxus fol-
cher Tabellen kaum mehr erlauben. Aber der Verf. wird
fich wohl auch klar darüber fein, daß diefe Statiftik für
die Frage des Sprachgebrauchs im ganzen Umfang nicht
ausreicht. Was fich ftatiftifch nicht erfaffen läßt, das find
ganze Redewendungen, zumal wenn fie die Stelle echter
Paulus-Wendungen vertreten; was nicht fichtbar wird, ift
weiter die enge Beziehung zwifchen Wort und Sache;
das begrtffsgefchichtliche Moment tritt bei diefer fchein-
bar ungeheuer exakten Behandlung der Frage ganz zurück
. Endlich genügt es nicht, das Lexikon chriftlicher
Schriftfteller heranzuziehen; es war weit gründlicher, als
H. es tut, der profane Charakter der Sprache in den
Pafl. darzulegen, und es könnte dann vielleicht auch gelingen
, die literarifche Höhenlage diefer Sprache feftzu-
fte'llen.

Heidelberg. Martin Dibelius.

Gronau, Karl: Das Theodizeeproblem in der altchriftlichen
Auffaflung. (VIII, 130S.) gr. 8°. Tübingen, J. C.B.Mohr.

1922.

Eine umfaffende Darftellung der altchriftlichen
Theodizee war fchon lange ein Bedürfnis. Gerade an
derTheodizee kann der ftarke Einfluß helleniftifcher Schultraditionen
auf die Ausbildung der chriftlichen Welt- und
Lebensanfchauungen aufgewiefen werden. K. Gronau,
der fchon in feinem Buch über ,Pofeidonius und die
jüdifch-alexandrinifche Genefisexegefe' (1914) der Marken
Abhängigkeit jüdifch - chriftlicher Theologie von grie-
chifcher Philofophie nachgegangen ift, hat auch hier
fehr wertvolle Auffchlüffe geliefert. Vorarbeiten gibt es
noch nicht viel; ich verweife auf E. F. Schulze, Elemente
einer Theod. bei Tertullian (Z. f. wiff. Th. 1900), derf., Das