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Ausgabe:

1922

Spalte:

502-503

Autor/Hrsg.:

Witte, Johannes

Titel/Untertitel:

Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen und das Christentum 1922

Rezensent:

Schomerus, Hilko Wiardo

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Theologifche Literaturzeitiyjig 1922 Nr. 23.

502

rakterifierung drei religiöfe Führerperfönlichkeiten des 16. Jahrhunderts
vorführen. Als Lefer hat er dabei die weiteften Kreife im Auge. Auf
dem Grunde feiner eigenen hiftorifchen Arbeit ruhend ift dem Verf.
feine Schrift, die ja nicht der Fortführung wiffenfchaftlicher Forfchung
dienen foll, hoher fehr wohl geraten. Es find wirklich anfchauliche,
lebenswahre und hiftorifch richtige Charakterbilder, die da gezeichnet
werden. Dabei muß freilich vorbehalten bleiben, ob alle Zufammen-
hänge und Verbindungslinien, die der Vf. herftellt, richtig find. Hier
ift das fo wichtige Gebiet der Reduktionen, eine notwendige, aber auch
überaus fchwicrige und fchwcr zu diskutierende Arbeit. So ift es z. B.
keine fo gerade und einfache Linie, die Luther mit Bach und Calvin
mit Händel verbindet, bzw. keine fo einfache Gleichung, die das Verhältnis
diefer beiden Paare ausdrückt, wie es nach dem Vf. erfcbeint.
Oder auch die Verteilung der drei Männer mit ihren Lebensidealen auf
die drei Stände: Lth. der fromme und getreue Hausvater, C. der
chriftliche Staatsmann, Loy. der myftifch-hierarchifche Mönch, gehört
zu den etwas zu acuminös ausgefprochenen Reduktionen. Aber auch
wenn über derartige Einzelurteile diskutiert werden müßte, wird jedenfalls
feftzuftellen fein, daß die Schrift in hohem Maße anregend und
fördernd und ihrem eigentlichen Zwecke entfprechend gelungen ift.
Halle/Saale. Hermann Bauke.

Pichler, Alois, Ss. R.: Der heilige Alfons von Liguori.

Ein Charakterbild. (333 S.) 8°. Regensburg, Köfel

u. Pullet. 1922.
Das Buch ift veranlaßt durch den Wunfeh ,katholifcher
Laien nach einem fcharf umriffenen Charakterbild des
vielgepriefenen und vielgeläfterten Heiligen'. Demgemäß
ift weder feine Abficht noch feine Haltung von wiffenfchaftlicher
Art. Die pfychologifchen und geiftesge-
fchichtlichen Probleme, die fich an Liguori knüpfen, find
nicht gelöft, ja kaum empfunden.

Mögen das zwei Zitate veranfehaulichen: ,Das Verhalten des Hei
ligen bei den Wechfelfällcn der Gründung verftattet uns den ticfflen
Einblick in feine Eigenart und löft uns das Rätfel derfelben. Einmal
gleicht er dem zitternden Kinde, das auf ebenem Boden keinen Schritt
zu tun wagt, dann wieder dem furchtlofen Krieger, der die Fahne ins
heißjfte Kampfgewühl trägt und ohne Bedenken auf einem verlorenen
Poftcn ausharrt. Zwei fo widerflrebende Beftandteile wie die Ängftlich-
keit feiner Mutter und der harte Seemannsmut des Vaters find in feiner
Seele verfchmolzcn. Hier knüplt die Gnade an' (S. 121) — .Hier
wird er auch gerade für fein Jahrhundert zur ausdrucksvollften Verkörperung
der Übernatur gegenüber dein Weltgeift. Im Gcgenfatz zum
frivolen Leichtfinn Voltaires und zur ftolzen Autonomie Kants läßt er
fich kindlich leiten von feinem Scclenführer und ftützt fich in auftauchenden
Zweifeln auf deffen Autorität'. (S. 309).

Trotzdem mag ein Hinweis auf das Buch in diefer
Zeitung nicht fehlen. Neben anders gearteten Erfchei-
nungen läßt auch es uns einen Blick in die Frömmigkeit
des modernen Katholizismus tun, und ift fo nicht unin-
tereffant; nicht durch das, was es über Liguori bringt,
fondern dadurch, wie es ihn auffaßt und fchildert.
Königsberg i. Pr. E. Seeberg.

HaaTe, Prof. Dr. F.: Ruffifche Kirche und Sozialismus. (Oft-
europa-Inftitut in Breslau, Vorträge u. Auffätze. V. Abt.:
Religionswiffenfchaft Heft 1) (44 S.) 8°. Leipzig,
B. G. Teubner 1922. Gz. 1,2 (Schlz. z. Zt. 100).

Vorliegender Vortrag eröffnet die (fünfte) Abteilung
.Religionswiffenfchaft' in dem weitfehichtigen Programm
von .Vorträgen und Auffätzen', das vom Ofteuropa-Infti-
tut aufgeftellt ift. Der Leiter des Inftituts bietet damit
eine Ergänzung zu dem VI. Kap. ,Die Stellung des ruf-
fifchen Sozialismus u. Bolfchewismus zu Religion u. Kirche',
das er feinem von mir fchon hier (in diefem JahrgangNr. 13)
befprochenen Werke über ,Die religiöfe Pfyche des ruff.
Volks' eingefügt hat. In diefem letzteren Werke läßt er eine
Reihe der Vorbereiter, geiftigen Urheber der ruffifchen
Revolution zu Worte kommen, Herzen, Bakumn, Michai-
lowskij, aber auch Uljanov (Lenin), und teilt dann das
offizielle Programm mit, nach welchem die Bollchewiften
feit 1918 das religiöfe Problem zu löfen getrachtet haben.
Der Vortrag erörtert die Stellungnahme der Kirche ihrer-
feits zum fozialen Problem, wohlgemerkt noch nicht ihre
Verfuche der Abwehr des fiegreich werdenden bezw. gewordenen
Bolfchewismus; zu einer Darftellung diefer Verfuche
ift die Zeit noch nicht gekommen, es fehlen da noch
die Hilfsmittel, die dem Hiftoriker erft allmählig zuwachfen
werden. Der Vortrag ift nicht ganz glücklich veranlagt.

Er foll offenbar eigentlich ruffifche Autoren zu Worte
kommen laffen, tut das auch weithin, aber vielfach unter-
mifcht mit Erörterungen, die vielmehr Haafe felbft an-
ftellt. Ift diefer Eindruck irrig, reden in den prinzipiellen
Auseinanderfetzungen über oder mit dem Sozialismus
wirklich nur die Ruffen, die hin und her zitiert werden,
fo hat H. nicht deutlich genug Vorkehr getroffen, daß'
man das erkennt. Erft im VI. Abfchnitt erfahren wir
zweifellos im Auszuge, was Voftorgov, Metropolit (von
Petersburg) Vladimir, Aivazov u. a. zur geiftigen Aus-
einanderletzung mit dem Sozialismus beigebracht haben.
Die drei genannten ruffifchen Theologen entwickeln erwogene
Gedanken. Intereffant war mir, daß man bei
ihnen fieht, wie auch die orthodoxe Kirche aus der Bibel
fittliche Gedanken ableiten „kann", fie hat es nur tatfäch-
lich viel zu wenig getan, viel zu fpät begonnen: fortan,
nach den fchrecklichen Erlebniffen der Gegenwart wird
fie gewiß in höherem Maße ihren Völkern fittliche Er-
kenntniffe und Intereffen zu vermitteln fich beftreben.
Die Bibel gehört ja auch ihr, .geehrt' ift fie ftets von ihr,
aber nicht ausgekauft. Haafe zitiert als .Literatur' vorab
eine ganze Reihe ruffifcher Werke, wunderlicher Weife,
indem er zwar die Titel überfetzt, die Verfaflernamen
aber nicht mal transfkribiert. Und was foll wohl eine
Bemerkung wie die auf S. 10: .Eine vorzügliche Illuftra-
tion . . . gibt der Roman von Gnelic: Nosa mira sego?'
Kennt einer von uns den Verfaffer, und wer von uns verlieht
auch nur den Titel?
Halle a. S. F. Kattenbufch.

Schubert, Prof. D. Dr. Hans von: Kirche, Perfönlichkeit

und Masse. Vortrag, auf der Hauptverfammlung d.
Verbandes deutfeher evangelifcher Pfarrvereine in
Heidelberg am 19. Sept. 1921 gehalten. (43 S.) 8°.
Tübingen, J. C. B. Mohr 1921.

Die .fürchterliche Wirklichkeit' der Maffe mit ihrer
Brutalität und ihrem Terror und das Evangelium, ,vom
Perfönlichften das Perfönlichfte', flehen fich wie zwei
Welten gegenüber. Aufgabe der Kirche ift es, die Maffe
zu zerfchlagen und durch Lebensgemeinfchaft Perfönlich-
keiten zu erziehen. Dazu ift erforderlich, in Anknüpfung
an Luther und Schleiermacher, den chriftlichen Gemein-
fchaftsgedanken in der Kirche viel ftärker zu betonen
und in Gottesdienft, Gemeindepflege und Verfaffung zum
Ausdruck zu bringen. Praktifch ergeben fich fo die
Forderung eines ordo minor und einer reichen Aus-
geftaltung von freien Vereinigungen, ecclesiolis in ecc-
lesia. Diefe find heute der einzige Weg zur Großkirche.

Ausgezeichnet ift das .Schriftchen durch eine Fülle feiner kirchen-
hiftorifcher Hinweife, aus denen der im praktifchen Amt flehende Geift-
liche und der Theologe mannigfache Anregungen empfangen wird.
Wundervoll werden hier die Ergebniffe eines langen wiffenfchaftlichen
Lebens umgeprägt in praktifche Weisheit. Hier liegt die Stärke der
Schrift. — Wird Vf. dem Problem der Maffe voll gerecht? 1894 fprach
Max Weber auf dem ev. foz. Kongress von der Tatfache des
Klaffenkampfes und der Pflicht ihn anzuerkennen und ethifch zu
weihen. Leider wird der ganze hiermit zufammenhängende Fragenkomplex
vom Verf. garnicht berührt, obwohl der Titel gerade das erwarten läßt.

Jena. Theodor Siegfried.

Witte, Miffionsdir. D. Dr. j.: Graf Keyrerlings Reiretagebuch eines
Philofophen u. das Chriftentum. (48 S.) 8°. Berlin, Hutten-Verl.
1921.

Was Keyferlings Größe und Stärke ift, das ift zugleich feine
Schwäche, nämlich die Kunft der Einfühlung in fremde Kulturen und
Religionen. In der vorliegenden Brofchürc des Direktors des Allg.
Evangelifch-Proteftantifchen Miffionsvereins tritt uns befonders die
Schattenreite diefer Keyferlingfchen Kunft entgegen. An der Hand
einer großen Menge beladenden Beweismaterials wird gezeigt, wie feine
große Einfühlungsgabe den Grafen nicht nur dazu verführt hat, einander
ftark widerfprechendc Auslagen zu machen und fchwer miteinander
in Einklang zu bringende Urteile zu fällen, fondern auch dazu, Licht
und Schatten allzu fchr zugunften der fremden Kulturen und Religionen
und zu ungunften des Chriftentums zu verteilen. ,Bei den anderen
Religionen werden faft ausfchließlich die Ideen und Ideale dargeftellt,
beim Chriftentum wefentlich feine Praxis, und zwar nicht in ihren
Leiftungen, fondern in ihren Schwächen bis in die kleinften Unvoll-
kommenheiten kritifiert . . . Und wo er einmal Praxis mit Praxis