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Ausgabe:

1922

Spalte:

485-486

Autor/Hrsg.:

Baumgarten, Otto

Titel/Untertitel:

Bergpredigt und Kultur der Gegenwart 1922

Rezensent:

Schuster, Hermann

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4§5

486

den Jugendlichen recht wohl anflehend). Wie frifcher I
Hauch einer neuen Welt ift gegenüber allem Ängftlich-
Institutionellen, auch wo es aus innern Bedürfniffen hergeleitet
wird, allem Exercituell-Abfichtlich der Lutherfche
Hinweis auf die eine Sonne, der alle Nacht weicht, nein,
gewichen ift: den feiigen Befitz der Sündenvergebung,
die, recht gefaßt und täglich begehrt, alle Möglichkeiten
des neuen Lebens, der gefertigten Innerlichkeit, des ent-
fühnten Wiedereintritts in die ,Welf in eins gefaßt auf-
fprießen läßt, und infonderheit den Einzelnen feinem
Volk nicht als Miffionar allein, als Rufer in eine Wüste
hinein, gegenüberftellt, fondern als den Schirmer eines
auch und gerade aus Gott gefloffenen köftlichen Volk-
tums-Befitzes, den es nur ins chriftliche Gemeinbewußt-
fein, - wieder - zu heben gilt. Ich möchte hier auf deutfche
Schriften Einar Billings verweilen können, der Sündenvergebung
, Reich-Gottes-, Berufs- und Volksgedanken zu
innerfter und das Innerfte erfaffender Einheit bindet.
Vereinfachung der Linien des Grübelns, Ausglättung der
Altersfalten aus dem Geficht unferer Zeit dürfte unter
Ausfchaltung Luthers nicht erreichbar fein; folcher Erkenntnis
unmißdeutbar vorgearbeitet zu haben, gerade
durch feine großen, nicht anders zu erwartenden Vorzüge
, ift kein geringes Verdienft des Buches, dem viel
Freunde und viel Frucht vorausgefagt werden darf, und
aus dem auch wir Theologen manches zu lernen haben.
Fahrenbach (Baden). Peter Katz.

Baum garten, D. O.: Bergpredigt und Kultur der Gegenwart.

(Religionsgefchichtl. Volksbücher, VI.Reihe, 10/12. Heft:
Prakt. Bibelerklärung) (119 S.) 8«. Tübingen, J. C.
B. Mohr 1921.
In dem vom 27. Sept. 1920 datierten Vorwort bekennt
der Verf., daß die erfte Niederfchrift diefer Unter-
fuchungen entftanden ift in einer Zeit, in der er meinte,
den Kriegswillen unferes Volkes zum Einfatz der letzten
Kraft aufrufen zu müffen (Sept. I918), während die endgültige
Geftalt auf einer im Winterfemefter 1918/19 gehaltenen
öffentlichen Vorlefung beruht. Alfo in Zeiten
fchwerfter Not und Erfchütterung ift das Buch entftanden
.

Es befteht aus 3 Teilen. In einer Einleitung zeichnet
B. den zeitgefchichtlichen Hintergrund der Bergpredigt,
um, geftützt auf Troeltfchs Soziallehren zu zeigen, daß
nicht etwa die wirtfchaftlichen und politifchen Verhältniffe
das Evangelium direkt hervorgebracht, fondern bei feiner
Entftehung nur indirekt mitgewirkt haben: fie fchufen
den gewiffermaßen „luftleeren", von kulturellen Idealen
entleerten Raum, in dem die rein religiöfen, kulturindifferenten
, Ziele und Gedanken des Evangeliums entftehen
konnten. Der 2. Teil, die Hauptmaffe des Buches, bringt
die Überfetzung und Auslegung, im Händigen Anfchluß
an Joh. Weiß (in den „Schriften des N. T."). Das Schlußkapitel
will, unter Berufung auf Herrmanns Schrift „Die
fittlichen Weifungen Jefu", die bleibende Bedeutung der
Bergpredigt aufweifen.

Wenn drei fo ausgezeichnete Werke wie Troeltfch,
J. Weiß u. Herrmann dem Buch zugrunde liegen und ein
Mann wie Baumgarten feine reiche feelforgerliche Erfahrung
(im weiten und freien Sinne des Wortes), fein Temperament
und feine Tapferkeit in der Anfaffung der
Probleme an den großen Gegenftand heranbringt, fo ent-
fteht natürlich ein Buch, das nicht nur vielen Laien die
Augen öffnet, fondern auch den Theologen reizt. Aber
ich täte dem Verf. Unrecht, wenn ich zwei große Bedenken
gegen die Ausführung verfchweigen wollte.

Aus der temperamentvollen Geiftesart des Verf. (leider
braucht er von der Bergpredigt wiederholt das ab-
fcheuliche Modewort „Mentalität") erklären fich eine Reihe
Von Widerfprüchen, an denen die Bergpredigt unfchuldig |
ift. S. 4 ift die Bergpredigt auch mit dem Verteidigungskrieg
unvereinbar, u. einzelne Sätze klingen direkt pazifi-
ftifch. S. 17: „Weder menfchheitliche, noch pazififtifche,

noch demokratil'che Ideale fchweben hier vor"; S. 126 wieder
: „Jefu Friedensliebe grenzenlos, wirklich pazififtifche
Gefinnung" (fchmerzlich hier der Ausfall gegen die „chau-
yiniftifche, rachige Gefinnung der Alldeutfchen, die nun
ihr Gericht erfahren"). S. 116 wieder: „Wenn man ihn gefragt
hätte, wie er über die Abfchaffung der Kriege und
Heere denke, würde er, ähnlich wie er es ablehnte, Erb-
fchichter zu fein, es fchlankweg abgelehnt haben, auf'diefen
ihm fremden Gebieten Gefetzgeber zu fein." S. 70 ift in
den Gleichniffen vom unverfchämten Freund und vom
ungerechten Richter „die alte, unterchriftliche Gebetsidee
klaffifch dargeftellt", während S. 97 beide Gleichniffe in
der üblichen Art als Erläuterungen zu der Aufforderung
zu zuversichtlichem Bitten aufgefaßt werden. Derartige
Unftimmigkeiten laflen fich bei einer neuen Auflage un-
fchwer ausgleichen, foweit fie nicht mit dem zweiten,
grundfätzlichen Bedenken zufammenhängen.

Wer ift der „Bergprediger" f Matthäus oder Jefus?
Darf man die Bergpredigt fo ifolieren, fie als das Programm
der Jefus-Ethik, als das Ganze feiner fittlichen
Weifungen betrachten? Muß man fie nicht in ftändiger
Ergänzung durch Jefu fonftige Worte und fein Charakterbild
betrachten? Denn fonft bekommt man nicht Jefus,
fondern nur die Nova lex des Matth. Diefer Ausblick
findet fich nur ganz feiten (S. 26: „Jefu kampfesfreudiger
Charakter"). Das Problem als Ganzes ift nicht aufgerollt.
Daher einzelne gequälte Auslegungen, daher der nicht
voll befriedigende Eindruck des Schlußkapitels, das m.
E. hinter der grundfätzlichen Klarheit und Sicherheit
Herrmann's zurückbleibt.

Hannover-Kleefeld. Schufter.

Nieberg all, Prof. D. Friedrich: Zur Reform des Religionsunterrichts
. (Handbücher f. d. Arbeitsunterricht) (147
S.) gr. 8°. Langenfalza, J. Beltz 1921.

Nicht eine neue Arbeit des Verfaffers, die einheitlich
und vollftändig das Thema behandelte, fondern die
Zufammenfaffung von Auffätzen, die in der Zeit von
1911 —1921 bereits veröffentlicht find. Freilich eine fehr
willkommene. Denn es werden faft alle grundfätzlichen
Fragen behandelt, und zwar mit Geift, Sachkenntnis und
Anmut. Hier kurz die Grundgedanken:

Den Ausgleich zwifchcn ,Freiheit und Autorität' ficht N. in echter
gefchichtlicher Bildung. (Aber wie viele können diefe erwerben?)
Die .religiöfe Entwicklungsgefchichte von Mofe bis Schleid mach er'
dient der Erziehung als ein .Mufeum der Werte und Ideale'. (Aber iit
.fruchtbar machen' und .verwerten' (S. 20) nicht dasfelbe? Und S.i33
unten ift wohl ftatt .welttüchtig' .weltllüchtig' zu lefen). Die ,Relig on
der Kinder' fchöpft N. nicht blos aus Anekdoten und den in letzter Zeit
fo beliebt gewordenen Umfragen (aber die Kindesausfagen find nicht
blos von Haus- und Kindergottesdienft, fondern auch von Bildern, Liedern,
Flugblättern, ja fogar von Sekten und Parteien, vor allem aber auch von
einander abhängig), fondern aus dem Wefen des Kindes felbft, das a
priori der Religion günftig ift und fie vorbereitet; man muß auf diefe
natürliche Religion die geiftige .aufpfropfen' (S. 48). Über ,die Lehrbarkelt
der Religion und die Kritik im Religionsunterricht' gibt er eben-
fo freimütige und theorelifch begründete wie brauchbare und erprobte
Winke. Wertvoll ift auch, was über .ReligionswiiTenfchaft und Pädagogik
' ausgeführt wird (wenn hier auch die Spannungen Zwilchen beiden
mehr hätten hervortreten müffen), ebenfo die Betrachtung über .überwundene
Gegenfätze'. Der befinnliche Auffatz ,Wo flehen wir ?' bringt
eine nüchterne, fachliche und untüchtige Beurteilung, wenn auch nicht
ganz ohne verkehrte Verallgemeinerungen. (Der Ausdruck .Kirche'
S. 88 ift mißverftändlich; die .Arbeitsfchule' wird fich erft längere Zeit
namentlich bei Durchfchnittslehrern, zu erproben haben). Befonders be-
deutfam ift das über ,die Vergeiftigung der Religion' Gefagte.

Die Ausgeftaltung im Einzelnen hängt von den kommenden
Ereigniffen und den künftigen Verhältniffen und
Ordnungen in Schule und Kirche ab. Aber gerade weil
zur Zeit alles im Fluß ift, feien Niebergalls grundfätzliche
Ausführungen dem Nachdenken und Studium dringend
empfohlen.

Die beigefügten 10 .Skizzen von Religionsftunden' (S. 106—143)
bieten vieles Treffliche, haben mich aber doch etwas enttäufcht. Mag
der Unterricht fich frei und nach dem Augenblick geftalten, — hier
geht mir die Buntheit, Unruhe nnd Formlofigkeit zu weit. Ich glaube
auch, daß folche Behandlung ohne den Hintergrund der alten Methode