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Ausgabe:

1922 Nr. 2

Spalte:

27-30

Autor/Hrsg.:

Heineke, Reinhold

Titel/Untertitel:

Vom Ideale der sichtbaren Kirche 1922

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 2.

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Zur Kirchenreform.

Baum garten, Prof. D. Otto: Der Aufbau der Volkskirche.

(125 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1920. M. 5 —
Althaus, Lic. Paul: Das Erlebnis der Kirche. (28 S.) 8°.

Leipzig, Dörffling u. Franke 1919. M. 1.20

Naumann, Pfr. Prof. D. Gottfried: Die Kirche und die neue
Zeit. Vortrag, im Volkskirchlichen Laienbunde zu Leipzig
geh. Leipzig, P. Eger 1920. M. 1 —
Waith er, Geh. Konf- R. Prof. D. Dr. Wilhelm: Die Bedeutung
des allgemeinen Prieltertums für die kirchlichen Sorgen
der Gegenwart. (36 S.) Schwerin, F. Bahn M. 1.25
Kaftan, Wirkl. Geh. Ob.-Konfift.- R. Gen.-Superint. a. D.
D. Theodor: Wie verfallen wir die Kirche ihrem Wefen
entlprechend? Mit e. Anh.: Minoritätenfchutz. (S.-A.
aus: ,Allg. Ev.-luth. Kirchenzeitg.') Leipzig, Dörffling &
Franke 1920. M. 3 —
Rieker, Prof. D. Dr. Karl: Zur Neugeftaltung der proteltan-
tilchen Kirchenverfallung in Deutichland. Leipzig, A. Dei-
chert 1919. (58 S.) gr. 8«. M. 2.70
Schwarzlose, Karl Pfr. Lic. Dr.: Die Neugeftaltung d.
evangel. Landeskirche Preußens nach d. Fortfall d. landes-
herrl. Kirchenregiments. (119 S.) gr. 8°. Frankfurt,
Englert & Schloffer 1920. M. 7 —
Heil mann, Paft. A.: Eine Kirchenordnung nach reformierten
Grundlätzen. (32 S.) 8°. Göttingen, Vandenhoeck &
Ruprecht 1920. M. 1.50
Heineke, Reinhold: Vom Ideale der lichtbaren Kirche. Eine
krit. Unterfuchg. (Diff. Münfter i. W.) Tübingen 1916.
Es muß dem Unterzeichneten erlaubt fein, aus der
Not eine Tugend zu machen. Dringende Berufsarbeiten
verhinderten mich an einer früheren Befprechung diefer
Vorträge und Aulfätze zur Kirchenreform. Jetzt hat das
aber den Vorzug, daß der Maßftab wiffenfchaftlicher Kritik
unbeeinflußt bleibt von ihrem Tageswert zur Zeit
ihres Erfcheinens. Sie follen daher hier auch nur nach
ihrem Dauerwert beurteilt werden.

Wir beginnen mit einigen Veröffentlichungen, welche
von vornherein fleh die Aufgabe geftellt haben, die Fragen
der Gegenwart aus dem innern Wefen der Kirche als
Volkskirche grundfätzlich zu beantworten. Klärung der Begriffe
und Wirklichkeitsfinn als notwendige Vorbedingung
richtigen Erkennens ift hier vor allem zu wünfehen, vor
allem ein klares Auseinanderhalten der idealen und der
empirifchen Seite des Kirchenbegriffes. Sie find nie von
einander zu trennen, follten aber doch nie miteinander
vermifcht werden.

Zu folcher Klarheit der Begriffsbeftimmung hatte
die Licentiatenarbeit (Münfter 1915/16) von Reinhold
Heineke einen fchätzenswerten Beitrag geliefert durch
eine kritifche Unterfuchung; .Vomldeal der fichtbaren
Kirche' (abgedruckt auch in der Zeitfchrift f. Theol. und
Kirche 1916 Heft 3/4). Er geht freilich m. E. einen reichlich
umftändlichen Weg vom Wefen des Glaubens, der
Glaubensgemeinfchaft und des Offenbarungsdienftes aus.
Wir können feine Definition der Glaubensfrömmigkeit
als all dasjenige innere Leben, das aus Vertrauen zur
Vernunft (mit Glaubensfittlichkeit) hervorgeht und nicht
aus Natur (aus Bedürfnis und Neigung) als eine nicht
fehr glückliche Mifchung von ,Luther und Kant' hier bei
Seite laffen. Der Wert der Unterfuchung befteht darin,
daß er die Möglichkeit und die Bedingungen der Bildung
einer Gemeinfchaft von Glaubenden zu Zwecken des
.Offenbarungsdienftes' unterfucht und die Art diefer Ge-
meinfchaftsbildung von der des .Volkes' und des .Staates'
unterfcheidet. So ift Sonderart und Sonderzweck der
Religionsgemeinfchaft gewahrt und ihr empirifch-gefchicht-
licher Charakter feftgelegt. Die Unterfcheidung von .Materie
' und .Form' der Handlungen fcheint mir freilich die
Klarheit nicht zu erhöhen und Dinge auseinanderzureißen,
die im Leben der Wirklichkeit einen unauflöslichen Zu-
fammenhang haben.

Mehr in die praktifchen Fragen der Gegenwart führen
die 13 Vorlefungen von O. Baumgarten mit dem Ge-
famttitel ,Der Aufbau der Volkskirche'. Von hervorragendem
Wert ift feine von ehrlichem Wirklichkeitsfinn
getragene Beurteilung unferer wirklichen Lage und feine
Erwägungen über die Durchführbarkeit einer .Volkskirche'
angefichts der verfchiedenen Strömungen in unferm Volk
(Bekenntnis, kirchliche Beftrebungen, Laienwelt, Arbeiterschaft
,'gebildete Welt). Dagegen dürften feine Gedanken
zum praktifchen .Aufbau der Volkskirche' nicht in dem-
felben Maße auf Zuftimmung rechnen. Der Verf. ift hier
natürlich von feiner politifchen und kirchlichen Stimmung
ftark beeinflußt, die nicht alle teilen. Auch in feinem
Wirklichkeitsbild fehlt es zuweilen nicht an einiger Ungerechtigkeit
— nicht der konfervativen Frömmigkeit
gegenüber, die er fehr wohl zu fchätzen weiß, aber in feiner
Beurteilung der Eigenart unfrer landeskirchlichen Ver-
hältniffe vor der Revolution. Da kommen Übertreibungen
in feiner Charakteriftik vor. Das fchadet aber nichts.
Denn es ift fehr wertvoll, die Wirklichkeit unferer kirchlichen
Lage nüchtern zu betrachten. Auch find in feinen
Auf baugedanken fehr viel beherzigenswerte Worte gefagt.
Nur würde ich aus der Einficht, daß ,das demokratifche
Maffenwahlprinzip eine rohe unorganifche Auffaffung,
fowohl von Volk als von Kirche, zur Vorausfetzung hat',
im Vertrauen auf die Kraft der pofitiven Mächte des
Evangeliums der allgemeinen öffentlichen Strömung ,demo-
kratilchen Geiftes' einen weit ftärkeren Widerftand entgegenfetzen
. Das .Vertrauen' des Volkes erreicht man
durch Nachgiebigkeit gegen den demokratifchen Geift
der Zeit ebenfowenig wie die Achtung anderer Nationen
durch Pazifismus. Das wird aber jeder Lefer von Baumgartens
Vorlefungen felber korrigieren. Man lefe fie nur
und man wird einen innern Gewinn davon haben zu einer
richtigen Beurteilung der kirchlichen Lage, auch wenn man
anders urteilt. Ich rühme mich deflen, daß ich ,in den loyalen
und militärifch denkenden, fritzifch und wilhelminifch
geftimmten Volkesfchichten' (S. 13) wurzele. Ich war
nicht gegen die .Staatskirche', foweit wir fie überhaupt
noch hatten (in Kiel mehr als in Altpreußen 1) und bin
von befter preußifcher Loyalität, gehe alfo von andern
Vorausfetzungen aus wie B., aber ich möchte den Baum-
gartenfehen Ausführungen doch wünfehen, daß fie gerade
da gelefen werden, wo man diefer Ergänzungen durch
feine Gefichtspunkte am meiften bedarf, auch in den Kreifen
der verfaffunggebenden preußifchen Kirchenverfammlung.

Paul Althaus Auffatz ,Das Erlebnis der Kirche' aus
der allgemeinen luth. Kirchenzeitung will aus dem Idealismus
heraus zum Erlebnis der .Kirche' führen und darf mit
Recht darauf hinweifen, daß dies auch Luthers Grundgedanken
entfpricht. Seine vortrefflichen innerlichen Ausführungen
werden freilich nur da Eindruck machen, wo
gewiffe Vorausfetzungen chriftlichen Glaubenslebens fchon
gegeben find. So wird man feine apologetifch gehaltenen
Bemerkungen zum Apoftolikum auch nur da würdigen,
wo man fich in ftatu confeffionis befinden will auch da,
wo brüderliche Liebe zu denen, mit denen wir uns im
Herzen eins wiffen, auf Wege finnen muß, ihnen Erb-
laften in der Form abzunehmen, welche auf die Dauer
die Wahrhaftigkeit gefährden. Es ift doch ein Fechter-
kunftftück ,die Buchftabenknechtfchaft' hier der anderen
Seite zuzufchieben, welcher für gottesdienftliche Ausdrucksweife
auch der Wandel des Weltbildes, des dog-
matifchen Denkens und der Sprache nicht fo gleichgültig
ift wie dem Verfaffer.

Gottfried Naumann weift unfere Kirche in einem
fehr feinfinnigen Vortrag auf ihre Aufgaben in der
neuen Zeit: äußerlich politifche Neutralität und finanzielle
Selbftändigkeit, innerlich nicht nur Gewiffensfreiheit,
fondern auch Pietät, Vornehmheit der Kampfesweife, apo-
logetifche Schulung, demokratifche (beffer: volksmäßige)
Weitherzigkeit (Urwahlenl), foziale Gerechtigkeit und Neutralität
in Klaffenkämpfen. Man mag über einzelne Fra-