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Ausgabe:

1922 Nr. 21

Spalte:

448-450

Autor/Hrsg.:

Schaefer, Aloys

Titel/Untertitel:

Einleitung in das Neue Testament. 3. Aufl., neu bearb. v. Max Meinertz 1922

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 21.

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Begriff des Willkürlichen ift in beiden Fällen grundlegend
.

G. ift von einer folchen Auffaffung nun aber völlig
frei. Wenn er auch „in der fubjektiven Reinheit und
Lauterkeit der Seelen" — 20,5 — das Wefen der Moral
fieht — dies ift eine Grundlehre des gefamten Islam, nicht
nur G.s — und wenn auch — 21, 1 u. — die Erkenntnis
der höchften Prinzipien „auf innerer fubjektiver Notwendigkeit
" beruht, fo hat dies mit S. nichts zu tun. Die
Lehre — 23,11 u. —, „daß es immer und in allem auf
das Motiv, die Gefinnung ankommt", ift nicht erft von
G. „begründet", fondern ausweislich bekannter Traditionen
altislamifch und durchaus frei von f. Willkür. Die
,fkeptifchen' Züge find durchaus keine f. Geftaltung des
Weltbildes, fondern nur eine gefunde Kritik, die „zur
Erkenntnis der wahren Wefenheit der Dinge gelangen
will" — ein Streben, das dem S. unmöglich wäre. Unter
,Herz' verlieht G. kein Organ individualiftifch-willkürlichen
Empfindens, fondern den Sitz geheimnisvoller Intuition
des Göttlichen, die in der Myftik feiner Zeit allgemein
bekannt war. ,Herz' ift die gnoftifche Erkenntnisart, die
zu einer Erlebnisgewißheit des Göttlichen führt, aber von
S. durchaus frei ift. Der S. — 41 A. 2 — ift ebenfowenig
„das fyftematifche Prinzip" der kritifchen Methode G.s;
denn diefe läßt fich ganz durch logifch-objektive Maß-
ftäbe beftimmen.

Sehr lehrreich ift das Mißverftändnis O.s von einem
S. im Zeitbegriffe bei G., das auf ein Verfehen de Boers
zurückgeht. Deffen Buch über G. wird feltfamerweife als
wertvoll gefchätzt, obwohl es in einer Summe allerfchlimm-
fter Irrtümer über G. befteht, die denen R. Ilartmanns
über Kufchairi z. B. in feiner Einheitslehre fall gleichkommen
. Demnächft werde ich in einer befonderen
Studie auf diefe Grundbegriffe zu fprechen kommen.

G. unterfcheidet eine vorweltliche und eine innerweltliche
Zeit. Letztere wird von Gott erfchaffen, und zwar
gleichzeitig mit der Welt. Da die Welt nun aber ,in der
Zeit' erfchaffen wurde, d. h. nachdem fie nicht war, denken
wir uns noch eine Zeit vor dem Dafein der Welt. Diefe
ift „eine Beziehung, die fich notwendig ergibt in Relation
zu uns", indem fie nur in der Notwendigkeit unteres Vor-
ftellungslebens begründet ift. Wenn aber auch diefe vorweltliche
Zeit nur in unferem Vorftellungsleben befteht,
fo folgt keineswegs, daß auch die innerweltliche Zeit rein
fubjektiv aufzufaffen fei. Die Behauptung: „Diefe Relation
, unter der das Gefchehen und das Sein der Dinge
erfcheint, die aber nicht diefen felbft, fondern bloß unterer
Vorftellung anhaftet, nennen wir Zeit", überträgt einen
Gedanken G.s auf ein ihm durchaus fremdes Objekt, die
innerweltliche Zeit, von der er keineswegs gemeint ift.
Einige Zeilen vorher heißt es: „Mit den wefentlichen Be-
ftimmungen der Dinge außer uns, ,kurz mit allem', was
das Bereich unferer Erfahrung überfchreitet, hat die Zeit
nichts zu tun." Für das, was in den Kreis unferer Erfahrung
fällt, alfo die ganze Sinnenwelt, gäbe es dann
doch wieder eine reale Zeit. Statt ,unferer Erfahrung'
müßte es heißen: ,unferes fubjektiven Erlebens'. In folchen
Unklarheiten und Widerfprüchen bewegt fich das
ganze Buch.

Eine ähnlich lehrreiche P'ehldeutung liegt in der
„Gleichfetzung von Raum und Zeit". Beide füllen „lediglich
Verhältniffe fein, in denen uns die Dinge erfcheinen;
beide find allein unferer Vorftellung und nicht den Dingen
eigentümlich; beide flehen fie unter dem Kennzeichen
der Relativität". Alle diefe modernen Schlagworte werden
abgeleitet aus der klaren und einfachen Bemerkung
G.s, daß wir uns den außerweltlichen Raum räumlich
vorftellen müffen, obwohl er nicht real befteht. Vom
innerweltlichen Räume gilt dies nicht. Diefer ift etwas
Reales, das Maß der Ausdehnung, die das ,Konfequens'
— nicht zu verwechfeln mit .Inhärenz' noch diefe mit
Inhärens — des Körpers ift. Wenn auch die einzelnen
Zeitpunkte innerhalb der Weltzeit fich relativ verfchieben,

fo ift doch die Weltzeit und der Weltraum felbft durchaus
wirklich. „Ihre ablolute Idealität" leugnet G. durchaus
und behauptet diele nur für den außerweltlichen
Raum und die vorweltliche Zeit.

G. ift in dem gefchichtlich berühmten Mißverftänd-
niffe Hecken geblieben, das ein anfangslofes Gefchöpf für
einen inneren Widerfpruch hält. Diefen für die islamifche
Theologie typifchen Irrtum darf man aber nicht fo beurteilen
— 44,17 —, „daß G. durch die Aufdeckung —!
— diefe war fchon der Irrtum der älteren Theologen-
fchulen — diefer Inkonfequenz die islamifche Spekulation
fozufagen ins Herz getroffen habe." Man lefe doch nur
bei Averroes nach, wie midleidsvoll fie über den Ver-
ftändnismangel G.s urteilte 1

Wenn G. — 68 u. — das Kaufalgefetz im Sinne Humes
kritifiert, fo ift dies kein S., fondern Kritizismus, und
wenn er — 72 u. — die Determination des freien Willens
leugnet, fo ift er deshalb kein S., fondern ein Indetermi-
nift und Voluntarift, der fich gegen den Intellektualismus
der Philofophen und des ihm wefensfremden Griechentums
wendet, ohne daß er deshalb aufhörte, objektiviftifch
zu empfinden.

Zu wiffenfchaftlichen Ergebniffen in der Erkenntnis
des Islam und zur Überwindung der herrfchenden Vorurteile
können wir nur dann gelangen, wenn es uns gelingt
, uns in die Weltanfcbauung des Islam hineinzudenken.
Das zugrundeliegende Syftem muß daher für jede Richtung
orientalifchen Denkens zunächfl objektiv erkannt
werden, wie es fich ergibt, wenn man fich ganz der Führung
der Quellen überläßt. Moderne Ideen in diefe
fremde Welt hineinzutragen, ift eine Methode, die nur
zu Irrtümern führt.

O.s Arbeit bietet in ihren ethifchen Überblicken
manchen fchätzenswerten Beitrag, der fich als Material
in einem fpäteren Aufbau der geiftigen Welt G.s verwenden
läßt. Diefe einzelnen Baufteine erhalten ihren
Sinn jedoch erft im Gefamtfyfteme G.s und find ohne
diefes den größten Fehldeutungen ausgefetzt . . . Die Arbeit
führt fich durch eine leicht fließende Sprache ein;
jedoch wären die Fremdwörter mehr zu vermeiden gewefen.
Bonn. Horten.

Jacob, Georg: Unio mystica. Sehnfucht und Erfüllung. Hanfifche
Lieder in Nachbildungen. (56 S.) 8°. Hannover, H. Lafaire, 1922.

Grundzahl 1

Schone orientalifche Ausfchneidearbeit dient als Buchfchmuck der
hier überfetzten 30 tiirkifch-perfifchen Lieder, „die lebendige und unmittelbare
Einführung eines religiös intereffierten Publikums in den Geifl
des Sufismus erftreben". Hie gefchickt ausgewählten Beifpiele (lammen
aus der Zeit von Hafis bis in die Gegenwart: von Hafis, Askeri, Sa'di,
Ibrahim-i-Edhem, Rcschiddudin, Sadreddin Konewi, 'Aschik 'Omer,
Scbinasi und 'Ali Dschanib. Auch der religionsgefchichtliche Forfcher
wird die gefchmackvoll wiedergegebenen Texte gern genießen und fich
an diefer Wein- und Liebesmyftik beraufchen. Einleitung und Anmerkungen
erhöhen den Wert der Schrift. In der temperamentvollen
Einleitung wird die Bedeutung des Islams für die Kulturgefchichte der
Menfchheit (im Gegenfatz zu Rom!) hervorgehoben, da er uns Papier,
Kompaß und Null zuführte, durch Experiment und Sprachenkenntnis
ebenfo wie auf dem Gebiete der Baukunft und Textilinduftrie innerlich
bereicherte. Dann wird das Wefen der Myftik kurz befchrieben und
ihre Herkunft angedeutet: die Verachtung der beiden Welten, die im
fchroffften Gegenfatz zur auguftinifchen Jcnfeitsmyftik fleht, (lammt nicht
aus dem Neuplatonismus, fondern aus Indien; denn der Sufismus will
Selbftvernichtung (fana = nirwana). Auch die Verfenkung weift nach
Indien wie die Verehrung Alis, die dem Rama-Kult der indifchen
Bcttelmönche entfpricht. Aber es finden fich auch Parallelen zum Alten
und Neuen Teftament: Bei den Sufis lebt das Gottvertrauen genau in
dcmfelben Extrem wie in der Bergpredigt (Beifpiele im 20. Band der
Türkifchen Bibliothek), und bei ihnen fpielt der Prophetenmantel als
Legitimation des Jüngers für feine geiftliche Nachfolge noch heute
diefelbe Rolle wie zu Elias Zeiten.

Schlachtenfee-Berlin. Hugo Greßmann.

Schaefer, Bifchof Dr. Aloys: Einleitung in das Neue Telta-
ment. Dritte Auflage, neu bearbeitet von Profeffor
Dr. Max Meinertz. Mit vier Handfchriftentafeln (Wiffen-
lchafthche Handbibliothek I. Theologifche Lehrbücher
XV.) (452 S.) 8°. Paderborn, Ferdinand Schöningh.
1921.