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Ausgabe:

1922 Nr. 20

Spalte:

436-437

Autor/Hrsg.:

Kittel, Gerhard

Titel/Untertitel:

Die religiöse und die kirchliche Lage in Deutschland 1922

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 20.

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alles Gegebene und Fertige fich hinausfpannenden Willen,
der der innerfte Kern alles Lebendigen ift. So verbindet fich
der Evolutionismus mit dem Perfonalismus und Individualismus
des europäifchen Denkens. An der Gleichheit alles
deffen, was Menfchenantlitz trägt, vor Gott zerbricht die
indifche Schätzung der Karte, und die ethifch-perfönliche
Wendung des Lebensbegriffes führt zur Bejahung der
individuellen Unfterblichkeit im Sinne eines Händigen
geiftig-perfönlichen Wachstums im Guten. Als höchfter
Zielbegriff, in dem diefer Menfchheitsgedanke und diefe
Faffung des ewigen Lebens fich zufammenfchließen, er-
fcheint the Kingdom of Heaven. Letzter Urfprung aber
allen Lebens, allein zureichender fchaffender Grund feiner
Entfaltung und Entwicklung nach oben, ift der ewige
perfönliche Gott. He, the great and living God, in Cooperation
with His children, is evolving the fpiritual and the
glorious Kingdom of Heaven, which can be conceived
only as a Community of ethical and spiritual individuals
round the Lord of all life and all goodness (S. 660).

Diefe europäifch chriftlichem Denken entnommenen Vorftellungen
find Gh. zu eigen geworden, weil er fie aus dem verwirrenden Chor der
von Europa nach Indien tönenden Stimmen erfl heraushören mußte.
Sowohl die europäifche Wifl'enfchaft wie die chriftliche Religion enthalt
ja noch andere Gedanken als die, die hier aus beiden ausgewählt und
zu einer inneren Einheit verfchmolzen worden find. Der hierin fich bekundende
energifche Wille zum klaren gefchloffenen Zufammenbang der
Überzeugungen wird jedem Achtung abnötigen müffen. Gewiß, Gh. hat
in der Art, in der er Auswahl und Verfchmelzung vollzog, Vorbilder
gehabt. Ganz ohne Frage hat Pattison's Idea of God (vgl. über dies
Buch meine Befprechung, Th. L. Z. 1921, Nr. 25/26, Sp. 333 fr.) ftark
auf ihn gewirkt. Dennoch hat er feine Eigentümlichkeit auch gegenüber
Pattifon. So fehr der Inder hinter dem Europäer an Kraft der
Gedanken und Selbftändigkeit des Geifles zurückfteht, an einem Punkte
ift er ihm ohne Frage überlegen: in dem Ernft, mit dem er die Frage
nach dem perfönlichen Gott in den Mittelpunkt Hellt, und der Entfchie-
denheit, mit der er jede pantheiftifche Erweichung des Perfonalismus ablehnt
.

So erwächft Gh. die Grundfrage feines Buchs: wie
kann der Gedanke eines perfönlichen Gottes, mit dem
wir Menfchen in Gemeinfchaft flehen gleich als Kinder
mit ihrem Vater, begründet werden? Der einzige Weg,
der ihm denkbar erfcheint, ift der wiffenfehaftliche. Die
Offenbarungen der verfchiedenen Religionen (einfchl. des
Chriftentums) enthalten alle Wahres und Fallches, Tiefes
und Phantaftifch.es durcheinander. Vor allem aber, fie
widerlegen einander wechfelfeitig durch den von jeder
erhobenen Anfpruch, ausfchließend zu gelten. Zu Macht
und Einfluß haben fie alle es allein durch den Arm des
Staates gebracht. Positive Religion, fo wie Gh. das Wort
verlieht, heißt alfo: auf wiffenfchaftlich anerkannte Tatfachen
gegründete Religion der Vernunft (vgl. S. 325.
409. 429). So fetzt Gh. feine ganze Kraft an den wiffen-
fchattlichen Nachweis des perfönliches Gottes. Notizen
über europäifche Denker — meift folche aus zweiter oder
dritter Hand — werden in Fülle gegeben, an die Aus-
einanderfetzung mit Haeckel (neben Kant der am
häufigften genannte Deutfche des Buchs) wird viel Mühe
gefetzt. Der Grundgedanke des Nachweifes ift, daß die
Entwicklung, wie wir fie in Welt und Menfchheit wahrnehmen
, einen lebendigen fchöpferifchen Willen jenfeits
von Welt und Menfchheit als tragende und wirkende Macht
vorausfetze. Schlechthin Neues wird man in den hieher
gehörenden Ausführungen, vor allem des zweiten und
dritten Kapitels, nicht finden, wohl aber darüber ftaunen,
wie weit hier ein Inder in die Fragen und Gedanken
unferer Philofophie und Weltanfchauung eingedrungen ift.

Der Gedanke der Entwicklung läßt Gh. denn auch die Bedenken
löfen, die fich von Leid und Übel her gegen den Gottesglauben erheben.
Leid ift Durchgangsftufe erwachenden und werdenden Lebens zu höheren
Geftalten hin. Wer das weiß, wird bereit fein, fich felbft zu opfern
für die Entwicklung der Menfchheit zum Beffern hin. Das erhabenfle
Beifpiel folchen Opfers und fomit der Schlüffel zum Geheimnis alles
Lebens ift für Gh. Chriftus (S. 311. 433). Und der Gedanke der individuellen
Vollendung in der Ewigkeit löft die Rätfei, die der Opfergedanke
nicht erfchließen kann.

Auf den fo gewonnenen Vorausfetzungen baut Gh.
dann eine ebenfo einfache wie durchgeiftigte PTömmig-
keit auf. Sie ift fern von aller Beeinfluffung durch die

indifche Myftik, die von Gh. vielmehr mit großer, aber
m. E. nicht ungerechtfertigter Verachtung behandelt wird.
Es handelt fich bei aller vifionären Verzückung und aller
quietiftifchen Verfenkung nach ihm fchlechterdings nur
um Erfcheinungen pfychifchen und parapfychifchen Lebens
. Gotteserkenntnis und Gottesgewißheit kann fo
nicht begründet werden. Vielmehr gilt: Belief in the good
father is the greatest Yoga one can perform (S. 547).
Die wahre Religion ruht in perfönlicher Gemeinfchaft mit
Gott (S. 429). Sie hat ihr Herz in freier Hingabe an die
Zwecke Gottes, vor allem aber im Gebete (vgl. S. 497 h
505). Ihr letzter und höchfter Gedanke ift der eine, daß
uns in aller Not des Lebens und allem Dunkel des Fragens
ein Vaterherz nahe ift, und daß ein jeder von uns
fein Teil und Erbe hat in dem Himmelreich, das heraufzuführen
das eine Ziel der ewig fchaflenden göttlichen Liebe
ift (z. B. S. 493. 501. 668.)

An den Stellen, wo Gh. von der letzten und höch-
ften religiöfen Gewißheit fpricht, da fprengt er feine eigne
Vorausfetzung einer rein rational-wiffenfchaftlich begründeten
Religion. Dasjenige, was eigentlich die Gewißheit
eines folchen Gottes gibt, das ift das Hören der Stimme
Gottes im Plerzen, das ift das Zeugnis des Geiftes, daß
wir Gottes Kinder find (S. 498). Gh. felbft führt dies
Pauluswort, führt das betende Abba als fein Letztes und
Höchftes an, und an folchen Stellen fcheint es fo, als ob
es nicht um Begründung des Gottesglaubens auf die Wif-
fenfehaft, fondern um feinen Ausgleich mit der Wiffen-
fchaft fich ihm letzlich handelte. Doch zur Klarheit
kommt er an diefer Stelle nicht. Denn die perfönlichen
Erfahrungen, die den Gottesglauben bei ihm tragen follen,
find fehr fchmal. Er redet als ein Ringender, der fich
des Suchenden in feiner Gottesanfchauung bewußt bleibt.
Die Löfung aber, die er für diefe letzte Schwierigkeit
feiner Pofition findet, ift wieder aus dem Evolutionismus
her genommen. Die Gotteserkenntnis der Menfchheit ift
genau fo der Entwicklung unterworfen wie alles andere
auch. Auch die Gotteserkenntnis der Gegenwart ift eine
werdende. Je reifer und liebevoller die Menfchen werden
, defto mehr wird fich ihnen von Gott enthüllen (z. B.
S. 50GT.). Neben diefer Löfung aber taucht (S. 493) noch
etwas tieferes auf: Do we never experience the loving touch
and hear the word of comfort, just as the toiling boy feels
the loving hand of the mother on his head or hears the
word of encouragement from his father? ... I believe
every living being has such experience, though he does
not know, that it is from the .everlasting God who sleepeth
not' and who is his father and mother. But what proof,
what evidence is there for such belief and such asser-
tion? Where is the great benefactor, the ma-
ster, the saviour, who will give us the necessary
proof?

Diefe Frage ift das ernftefte Wort in diefem ernften
Buche.

Eine Antwort findet fie nicht. Das Chriftentum in
der Geftalt, in der es an Gh. herangetreten ift, hat nicht
die Kraft gehabt, ihn davon zu überzeugen, daß es mehr
fei als ein beliebiges der vielen Gebilde menfchlich-irren-
der Religionsgefchichte.

Göttingen. E. Hirfch.

Seeberg, Reinhold: Antitemitismus, Judentum und Kirche.

Nach einem Vortrag auf der Novemberkonferenz des

Central-Ausfchuffe.s für Innere Miffion. (32 S.) 8°.

Berlin-Dahlem, Wichern-Verlag 1922. M. 9—

Kittel, Prof. Lic. Gerhard: Die religiöfe und die kirchliche

Lage in Deutfchland. Vortrag, in Schweden gehalten.

(21 S.) 8°. Leipzig, Dörffling & Franke 1921. M. 7—
Hartmann, Pfarrer Lic. Dr. Hans: Kulturwende. 2., völlig

umgeänderte Aufl. (61 S.) 8°. Berlin, Der weiße

Ritter-Verlag. 1922. M. 9—

Drei Schriften „zur Lage". Jede geht ganz eigene
Wege. G. Kittel gibt ein Bild des fchwerkranken deut-