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Ausgabe:

1922 Nr. 20

Spalte:

420-423

Autor/Hrsg.:

Ziegler, Leopold

Titel/Untertitel:

Gestaltwandel der Götter. 2 Bde. 3. Aufl 1922

Rezensent:

Haas, Hans

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419 Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 20. 420

verbundene Handeln fchon immer vorausletzt. Ebenfo
ift die Autonomie der Rechtsidee deutlich: Es kann
keinen empirifchen Inhalt geben, wie das Glück aller,
die Kultur, die Gleichheit oder dergl., die der Rechtsidee
einen Inhalt über die Idee der reinen Gemeinfchaft hinaus
geben könnte. Alle diefe Dinge flehen unter der Rechtsidee
und find von ihr je nach der Zeit- und Gefellfchafts-
lage zu richten und zu werten.

Mit einem Blick auf die Gelchichte als Vorwärtsentwicklung
zu dem Ideal der reinen Gemeinfchaft, und mit
der Forderung des Einmündens der Rechtsphilofophie
in die Religionsphilofophie als Betrachtung der letzten
Einheit von Kaufalität und Teleologie fchließt das Buch,
deffen Inhalt mit den gegebenen Andeutungen freilich
nicht im Entfernteften erfchöpft ift.

Eine Beurteilung des Werkes kann nichts fein als
eine Beurteilung der Leiftung und der Grenzen kritifcher
Philofophie überhaupt. Denn wir haben es hier mit einer
als „Idealtypus" zu wertenden Leiftung zu tun. Evident
ift gezeigt, daß das Recht die Sphäre des fozialen Handelns
als bedingende Form ermöglicht und daß diefe
Form autonom jeder empirifchen Wirklichkeit mit unbedingter
Geltung gegenüberfteht. Evident ift ferner gezeigt
, daß jedes foziale Ideal die Form des reinen fozialen
Sollens oder der reinen Gemeinfchaft haben muß. Aber
es fragt fich, ob damit mehr gefagt ift, als daß jede
Rechtsordnung den Begriff des Rechts erfüllen foll; es
fcheint als ob es in der Konfequenz des formalen An-
fatzes liegt, daß er über die reine Form der „Ordnung"
auch da nicht hinauskommt, wo er das Ideal zeigen will.
Nicht in der ftrengen Durchführung der formalen Begriffe
, fondern in der Befchränkung auf fie auch da, wo
fmngemäß über fie hinausgegangen werden müßte, liegt
der „Formalismus" und damit die Grenze diefer Neu-
Kantifchen Rechtsphilofophie.

Schon die Abgrenzung von Sittlichkeit und Recht
muß Bedenken erwecken. Daß Sittlichkeit die Ordnung !
der inneren Regelungen fei, ift eine Befchränkung, die j
die Tatfache überfieht, daß es fittlich-richtiges Handeln j
von Menfch zu Menfch gibt, das der Sphäre des Rechts
enthoben bleibt. Die Pflicht z. B. einem feelich leidenden
Menfchen zu helfen, zielt auf „Ordnung" des gemeinfamen
Lebens, die nichts mit Recht zu tun hat; es gibt alfo
ein fittlich Richtiges und ein rechtlich Richtiges in Bezug
auf die foziale Sphäre, die nebeneinander, ja unter Um-
ftänden gegeneinander flehen. Völlig unmöglich aber
muß die Art genannt werden, wie die Liebe bei Stammler
als „des Gefetzes Erfüllung" erfcheint. „Liebe ift der
Ausdruck für die Hingebung an das Richtige und zwar
in der Ordnung des eigenen Innenlebens (Friede mit fleh
und Gott), und in der Ordnung des Gemeinfchaftslebens,
(Ideal der reinen Gemeinfchaft). Was richtig ift, wird
abgefehen von der Liebe erkannt. Sie felbft ift das pfycho-
logifche Motiv, das die Verwirklichung der Gerechtigkeit
ermöglicht, wie die Macht pfychologifch die Selbft-
herrlichkeit und Unverletzbarkeit des Rechtes trägt. Liebe
wie Macht find „Ergänzungen" der Rechtsidee und des
Rechtsbegriffs von der pfychologifchen Seite her". Diefen
Gedanken liegt das typifch Kantifche Vorbeigehen an
dem zu Grunde, was nicht Bewußtfeinsform, nicht Ordnungsform
, aber auch nicht Bewußtfeinsftoff, fondern
formerfüllender und -durchbrechender Bewußtfeinsgehalt
ift. Das Fehlen diefer Intuition, die Kant zu feiner
Kritik von Gebet und Gnade geführt hat, treibt Stammler
zu einer Entleerung der Liebesidee. Sie wird gleichgefetzt
dem völligen Gehorfam gegen das Gefetz. Das
„Überfchwengliche", das „Paradoxe", das fie in jeder
lebendigen Religion hat, wird abgeftreift. Sie wird auf
das Maß der richtigen Gefellfchaftsform zurückgeführt.

Ähnlich liegt es bei der Beftimmung des Gcmeinfchaftsbegrifts.
Wie die ganze Konftruktion des Rechts vom Einzelnen ausgeht und
in dem die Einzelnen „verbindenden" Wollen die Einheit facht, fo
ruht auch der Gerneinfchaltsbegriff auf dem Gefellfchaftsbegriff, über
den hinaus er nur das Merkmal der Idealität hat: Gemeinfchaft gleich

ideale, d. h, vollkommen geformte Gefellfchaft. Damit geht wieder
verloren, was jenfeits der Form liegt, die irrationalen Einheilen übergreifender
Art. Aus Gefellfchaft kann nie Gemeinfchaft werden durch
Vervollkommnung; denn „Gemeinfchaft" ruht a priori auf einem anderen
Boden, und in einer tieferen Schicht als der des „Verbindens".

Das führt zu Stammlers Gefchichtsphilofophie und den konkret
politifchen Ideen, die er dann und wann ausfpricht. Es find zwei Begriffe
, die in Betracht kommen: die „Entwicklung" und die „gefchicht-
liche Lage. Stammler ift vorfichtiger Anhänger des entwicklungsge-
fchichtlichen Fortfchrittsgedankens. Von dem Gegenfatz aus der abfohlten
idealen Form und der zu beftimmenden Wirklichkeit ift das nicht
anders zu erwarten. Das gefchichtliche Gefchehen ift im Einzelnen
und im Ganzen eine Annäherung an das abfolute und unendliche
Ideal. Die Idee der Zeitenfülle, auf der z. B, das Neue Teftament ruht,
oder der Gedanke einer fchopferifch gefetzten „zu Gott unmittelbaren"
Epoche, ift ebenfo unmöglich von den cxklufiven Formbegriifen aus,
wie es eine Erfaffung von Liebe, Gemeinfchaft, Gnade oder dergl. ift.
— Dem entfpricht nun endlich die vollkommene Unmöglichkeit, von
der abfoluten Form aus ein Werturteil über beuchendes und gefordertes
Recht abzugeben. Stammler überfieht, daß jede „gefchichtliche Lage"
fchon felbft eine geiftige Schöpfung ift, und wenn fie nicht willkürlich
fubjektiv bleiben foll, die Orientierung an einer inhaltlichen Gefchichtsphilofophie
verlangt. Hier ift ein Punkt, wo die kritifche Pofition
felbft über den reinen Formalismus hinausdrängt.

Wenn wir das Stammlerfche Werk religionsgefchicht-
lich einordnen wollen, so ift ganz evident der Zufammen-
hang mit dem lutherifchen Proteftantismus in feiner rationalen
Ausformung: das Ausgehen von dem Einzelnen
durch den Begriff des verbindenden Wollens, die weitgehende
Ausfcheidung aller myftifch-irrationalen Elemente
in Recht, Sittlichkeit, Gefchichte, die konfervative Haltung
gegenüber den gegebenen Rechtsordnungen —, aber
auch die Befreiung der Rechtsidee aus jeder Heteronomie.
So ift aus diefer Neukantifchen Rechtsphilofophie die
Größe der proteftantifch-lutherifchen Grundftellung fichtbar
, zugleich aber ihre in der Gefchichte fo oft bewie-
fene Unzulänglichkeit gegenüber den konkreten Problemen
des fozialen Lebens.

Berlin. Paul Tillich.

Ziegler, Leopold: Geltaltwandel der Götter. 2 Bände.
3. Aufl. (929 S.) 8°. Darmftadt, Otto Reichl 1922.

M. 480—

Mit Neuerfcheinungen wie dem Modebuch von Spengler
, Hans Ehrenbergs „Die Tragödie unter dem Olymp",
Salins „Piaton und die griechifche Utopie" und anderen
derlei aus geiftigen Strömungen der Gegenwart herausgeborenen
Werken, die das miteinander gemein haben,
daß fie zu einem Einblick in das Keimen und Werden
eines neuen, inneren Verhältniffes zur Antike führen,
Leopold Zieglers „Geftaltwandel der Götter" zufam-
mennehmend, hat neulich H. Leifegang in einem Vortrag
(jetzt gedruckt, Neue Jahrb. 1922,1) gemeint: „Legt man
dem Philologen von Fach eines diefer Werke zur Re-
zenfion auf den Tifch, fo wird man ihm damit keine
reine Freude machen." Ref. an feinem Teile ift es fo
unzuirieden eben nicht, daß ihm die zugefbnnene Anzeige
des letztgenannten Werkes, das er, als es in Doppelauflage
1920 erftmals, damals in anderem Verlage in einem
abfehreckend dicken Bande an die Öffentlichkeit trat,
nur „angelefen", zur äußeren Nötigung geworden ift, es
doch noch wirklich durchzuarbeiten. Aber allerdings,
der zitierte Kollege hat recht: es zu rezenfieren, ein Werk
der Art, ift fo ganz vergnüglich die Aufgabe nicht gerade
. Es verfagen da wirklich die gewohnten Mittel der
Kritik. Alles, aber auch alles fo weitabführend von den
gewohnten Pfaden, alles fo von Grund auf umftürzend,
daß, wollte man anfangen, Kritik zu üben, man fo leicht
kein Ende fände, und wer gründlich fein wollte, felbft ein
neues Buch zu fchreiben wohl oder übel fich zu ent-
fchließen hätte. Unter lotanen Umständen muß fich Ref.
von vornherein bescheiden, von der allgemeinen Tendenz
des Zieglerfchen Werkes, das in feiner Neuausgabe durch
einen anderen Verlag, von der Zerlegung in zwei Bände
handlicheren Pormats und ganz wenigen leifen ftiliftifchen
Änderungen abgefehen, das alte geblieben ift, in etwas,
auch das nur in etwas, eine Vorftellung zu vermitteln,
klarer als etwa der Titel bereits fie gibt oder als das