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Ausgabe:

1922 Nr. 1

Spalte:

398-400

Autor/Hrsg.:

Jaeger, Vernerus (Ed.)

Titel/Untertitel:

Gregorii Nysseni Opera. Vol. II: Contra Eunomium libri. Pars altera, Liber III 1922

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 18/19.

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verfucht fein könnte, zu den Gefchichten zu zählen, nämlich
folche Stücke, deren Pointe ein in einen kurzen Rahmen
gefaßtes Jefuswort bildet". B. nennt fie „Apoph-
thegmata" (Streit- und Schulgefpräche und biographifche

A. ) und ift beftrebt, ihren reinen Typus herauszuarbeiten,
indem er dabei die Frage ftellt, ob gefchichtlicher Bericht
oder Bildung der Urgemeinde vorliegt.

Wenn B. (ich im ganzen für das letztere entfcheidet und von
„idealen Konzeptionen" fpricht, fo habe ich bei aller Anerkennung der
grundfätzlichen Berechtigung der Betrachtungsweife zwei Einwände:
I. Gerade die Dinge, die den reinen Typus ftören und von B. ausge-
fchaltet werden, weifen vielfach darauf hin, daß „ideale Konzeptionen"
nicht vorliegen. Den Grundlatz: „Im allgemeinen haben die Worte
die Situation erzeugt, nicht umgekehrt", halte ich in feiner Verallgemeinerung
für überfpitzt. 2. Die Gruppe der fog. Apophthegmata ift
nicht fo einheitlich, wie B. annimmt. Beftimmte formgefchichtliche
Erkenntniffe der bisherigen Arbeit fcheinen mir hier verkannt zu fein.
Insbefondere ift die Auseinanderfetzung mit M. Dibelius, der in ge-
wilfen Stücken Paradigmata, d. h. Predigtbeifpiele findet, während fie

B. auf verfchiedene Kategorien verteilt, nicht geklärt. Mancher knappe
Wunderbericht hat mit den knappen fog. Apophthegmata ftiliftilch
mehr zu tun als mit anderen mehr ausgeführten Wundererzählungen.
Worte und Taten Jefu find von B. vielfach zu mechanifch getrennt.

Klarer tritt die wirklich formgefchichtliche Betrachtungsweife
in dem Abfchnitt über die (rahmenlofen)
Herrenworte hervor, die fachgemäß fo eingeteilt find:
Weisheitsworte, prophetifche und apokalyptilche Worte,
Gefetzesworte und Gemeinderegeln, Ich-Worte, Gleich-
niffe. In bezug auf die Vollftändigkeit der Stoffdarbietung
und die Klarheit der kritifchen Maßftäbe ift hier
eine Darfteilung geboten, die abgefehen von Jülichers
großem Werk über die Gleichnifle Jefu nicht ihresgleichen
hat. Es finden fich exakte Beweife für die Art der Weiterbildung
der Jefusworte innerhalb der Gemeinde. Die
Tendenz der Kombinierung und der Neubildung von
Worten ift richtig erkannt, ebenfo richtig die Tendenz,
möglichft viel als Jefuswort ericheinen zu laffen. Ein
befonders eindrucksvoller Teil ift der über Gefetzesworte
u. Gemeinderegeln: wir gewinnen hier einen guten Einblick
in die urchrift'iche fittliche Unterweifung und apo-
logetifche Arbeit. An diefer Stelle fchließt fich folgerichtig
die Behandlung der Ich-Worte an, nachdem verdeutlicht
ift, daß häufig eine Beziehung auf die Perfon
Jefu fekundär in das Spruchgut hineingebracht wurde.

Der zweite Teil des Buches befchreibt zuerft das
Werden und Wachten von Wundergefchichten. Hier ift
m. E. zu fehr alles auf einer Ebene gelehen; es wird
zudem nicht genügend erwogen, inwieweit Jefus felbft
in die Sphäre antiker Wundergläubigkeit, für die viele
gute Belege gegeben werden, hineingehört. — Verdienft-
lich ift die Behandlung der Paffionsgefchichte, bei B. der
eine Kompofition befonderer Art erkennt, manches ihr
Eigentümliche (die Frage des Zufammenhangsl) aber doch
wohl verkennt. Über die Oftergefchichten müßte im
Hinblick auf das ältefte Kerygma, in deffen Mittelpunkt
Paffion und Oftern flehen, mehr getagt fein. Um fo ergiebiger
ift der zufammenfaffende Abfchnitt über die
Technik der Erzählung. — Der 3. Teil (die Redaktion
des Traditionsftoffes) fuhrt das Ganze folgerichtig zum
Abfchluß. Auf der gewonnenen breiten Bafis wird die
Eigenart der Synoptiker ganz befonders deutlich. —

Wenn ich in meinem bisherigen Bericht dem groß
angelegten und durchgeführten Werk gegenüber eine
teilweife zuftimmende, teilweife ablehnende Haltung eingenommen
habe, fo hängt das nicht fo fehr zufammen mit
allerlei Einzeldebatten, zu denen fich viele Anläffe bieten,
als mit der Frage der Methode überhaupt, deren Beantwortung
gerade diefes Buch fordert. Daß die M ethode,
aufs Ganze gefehen, fo kompliziert fich gibt, ift eine
Notwendigkeit: es gilt, eine an fich einfache, aber efo-
terifche Überlieferung zu verliehen, der gegenüber mancher
fogenannte Unvoreingenommene naiv und hilflos
dafteht. Befonders wichtig ift die Kritik an den Worten
Jefu. Wenn man oft hören und lefen kann: „Warum
foll das Jefus nicht gefagt haben?", fo kommt man mit

diefem geradezu rationaliftifchen Einwand (bei den Wundern
urteilt man anders) gegen B.s Darftellung nicht
durch. Die Kritik mußte in diefem Werke fchon deshalb
tiefer graben, als es fonft üblich ift, weil erkannt ift,
daß erft der Zufammenhang gewiffen Jefusworten ihr uns
geläufiges Gepräge gegeben hat, diefer Zufammenhang
aber fekundär ift. Bei aller Anerkennung diefer Leiftung
kann aber nicht verfchwiegen werden, daß fich zahllofe
Beifpiele von Hyperkritik finden. B. hat den ausgeprägten
Willen, alle nur denkbaren Konfequenzen zu
ziehen (irgendwie fleckt eine dogmatifche Einftellung dahinter
: Befreiung der Religion von der Gefchichtel). Der
Hiftoriker muß aber gewiffe Dinge, bei deren Beurteilung
auch B. nicht über ein „vielleicht", „wohl" ufw. hinauskommt
, in der Schwebe laffen und darf nicht um der
Konfequenz der Methode willen Fragen ftellen, die nicht
beachten, daß der Bereich der Möglichkeiten größer ift,
als wir ahnen. Richtig ift die Erkenntnis, daß die Beziehung
zur Perfon Jefu in fekundären Stücken vorliegt.
Daraus folgt aber nicht eine Skepfis gegenüber allen
Ich-Worten Jefu im B.fchen Ausmaß. Wer mit B. weiß,
daß eine Vifionsnotiz wie Lk. 10, 18 vereinzelt ift, aber
gegen B. damit rechnet, daß hier — begreiflicherweife —
manches Unausgefprochene im voraus verfchüttet hat fein
müffen, gewinnt andersartige Blickfelder.

Richtig ift die Warnung vor dem Pfychologifieren (B. hat hier
fehr beachtliche Stilunterlüchungen über Wort-Erzählungen und Bild-
Darftellungen gemacht). Aber dennoch bleibt die Notwendigkeit, zu
erwägen: wie hat Jefus gclprochen ?, nicht immer nur: was hat Jefus
gefprochen? Richtig ift der Maßftab, die Echtheit im Charakleriftilchen
zu finden. Diefer Maßftab ift aber überfpitzt und bedenklich doktrinär,
wenn immer im Wortlaut das Charakteriftilche vorliegen foll. Ebenfo
wichtig, wenn nicht gar wichtiger ift Jefu ügovoia, die nicht allein vom
formulierten Wort abhängt. Richtig ift's, daß fich die einfachen Linien
der Einzelgeftalt Jefu von dem wirren Vielerlei der Gemeinde abheben.
Aber dennoch ift nicht alles gewonnen, wenn man Spannungen und
Vielheit nur in der Gemeinde und nicht in Jefus findet. Richtig ift
erkannt, daß die Worte Jefu vielfach übernommenes Gut darfteilen.
Inwieweit damit Jeius als Sprecher ausge ehaltet wird, hängt von dem
nicht erkannten Eragenkomplex „Tradition u. Erlebnis", „Stil u. Leben
" ab. Richtig ift gefehen, daß der Rahmen der Geichichte Jefu
fekundär ift. Aber vieles von diefem Rahmen ift fo unbetont, daß oft
mit epichorifcher Oberlieferung gerechnet werden muß. Mancherlei
Anekdotenüberlieferungen zeigen, daß man hier nicht alles fo ftark betonen
darf . . .

Als Einzelheit behandle ich vorläufig, was B. für das eine Hauptproblem
der Gefchichte des Urchriftentums hält: das Verhältnis des palä-
ftinenfiichen u. des hedeniftilchen Urchriftentums. Diefe Fragefteliung
hat die Unterfuchung in vielem gefördert, in vielem aber auch gehemmt
. Abgefehen von diefen noch fehr umftritttenen Dingen als
folchen (Entftehung des Kyrios-Kults) ift hier zum minderten die cr-
ftrebte formgeichichtliche Methode nicht immer gewahrt.

So ift mein Gefamteindruck ein zwiefpältiger. Eine
Leiftung erften Ranges, an der kein Mitarbeiter vorbei
kann, bleibt dennoch beliehen. B. nennt unter feinen
geiftigen Ahnherren D. Fr. Strauß und W. Wrede. Mir
Icheint, daß ihm die Größe und die Grenze diefer Kritiker
eignen.

Gießen. Karl Ludwig Schmidt.

Gregorii Nysseni opera. Vol. II: Contra Eunomium libri
ed. Vernerus Jaeger. Pars altera. Liber III (vulgo III—
XII) Refutatio confessionis Eunomii (vulgo lib. II).
(LXXII, 391 S.) gr. 8°. Berlin, Weidmann 1921.

M. 120—

Mit diefem Bande ift das Hauptwerk des Nyfleners
nunmehr vollftandig und zum erften Mal in neuem lesbaren
Texte zugänglich geworden; der Abftand von den bisherigen
Ausgaben ift, wie ich fchon bei der Befprechung
des erften Bandes bemerkte, enorm. Die umfangreichen
Prolegomena weifen die Fülle des durchzuarbeitenden
Handlchriftenmaterials nach, zeigen aber auch, daß die
Linien in der wunderlichen Entwicklung der Überlieferung
diefes Werkes ficher wiedergefunden find: heute befinden
wir uns hier auf feftem Boden. Wider Eunomius hat
Gregor von Nyfia nicht ein Werk verfaßt, fondern 4,
wovon die erften 3 allerdings näher zu einander gehören,
indem fie die verfchiedenen Apologien des Eunomius