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Ausgabe:

1922 Nr. 1

Spalte:

396-398

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der synoptischen Tradition 1922

Rezensent:

Schmidt, Karl Ludwig

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 18/19.

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kann übrigens nicht die Rede fein; denn die Gattungs-
forfchung fchließt das text- und literar-kritifche Problem
keineswegs aus, wie die Werke von Gunkel, Staerk
und Kittel beweifen. Und wenn L. feine Einleitung mit
den Worten befchließt, daß die Gattungsforfchung „von
einem kongenialen Verftändnis der at.lichen Dichterper-
fönlichkeiten recht weit entfernt" fei (S. 9), fo wird man
ihm gegenüber dasfelbe fagen dürfen: Auch bei der herkömmlichen
Art, wie er die Pfalmenforfchung betreibt,
werden die Dichterperfönlichkeiten in keiner Weife deutlicher
. L. erkennt die Tatfache an, daß vielfach in der
Formengebung das Typifche überwiegt; er will aber nicht
zugeben, daß eben deshalb das Perfönliche oft zurücktritt
, obwohl dies Tatfache ift. Wo das Individuelle
wirklich vorhanden ift (wie in Ps. 22. 73), wird es auch
von den Vertretern der Gattungsforfchung willig anerkannt
; fein Kampf richtet fich alfo gegen Windmühlen.
Große Mühe gibt fich L., eine regelmäßige Strophik nach-
zuweifen; auch hier leugnet niemand, daß Strophenbau
bisweilen vorkommt, aber als durchgängige Erfcheinung ift
fie mir nach wie vor fraglich. So bedeuten feine Studien
keine wefentliche Förderung der wiffenfchaftlichen Erkenntnis
.

Auch im einzelnen ift mancherlei auszufetzen, aber ich will mich
auf offenbare Fehler befchränken. Von Gunkel faet L. S. 25, daß
feine Auffaffung von Pf. 42,5 „das geringfte fprachliche Verftändnis
verrät." Diefe Behauptung fällt fchon deshalb hin, weil G. 4IQI7, 226
eine ganz andere Auffaffung vertritt. Man kann aber von einem Kritiker
verlangen, wenigftens wenn er fcharf wird, daß er die ncuefte
Auflage anführt. Mit welchem Recht fich L. gerade in fprachlicher Be
Ziehung über andere erheben darf, mag man daran ermeffen, daß er
felbft den stat. es. des Plurals von Iffii nicht kennt (S. 48); darf ich
ihn auf Kautzfeh: Gram. § 93 ii verweifen?

Berlin-Schlachtenfee. Hugo Greßmann.

Weber, Wilhelm: Jofephus und Vetpasian. Unterfuchungen
zu dem jüd. Krieg des Flavius Jofephus. (VIII, 287 S.)

gr. 8°. Stuttgart, W. Kohlhammer 1921. M. 50—

Die Frage nach den Quellen des Bellum Judaicum
war feither nur geftreift worden. Zumeifi: hielt man die
perfönliche Erinnerung des Verfaffers für die Hauptquelle
derjenigen Stücke feiner Erzählung, die den eigentlichen
Aufftand und die Endkataftrophe betreffen. Wilhelm
Weber verflicht in feinem reichen, anregenden und auch
aufregenden Buch den Nachweis, daß Jofephus in ftärk-
fter Weife abhängig fei von römifch-flavifchen Vorlagen,
in der Hauptfache von Commentarii des Vefpafian und
des Titus, aber auch von militärifch-amtlichen Vorlagen
fonft. Man könnte diefe Thefe Webers auch fo wiedergeben
: er unterftreicht in dem Autornamen das Wort
Flavius aufs ftärkfte.

Der Verfaffer bringt zu feiner Unterfuchung viel mit:
eine ausgebreitete Kenntnis der literarifchen und unlite-
rarifchen Quellen der Gefchichte der Kaiferzeit, eine volle
Vertrautheit mit der modernen Wünfchelruten-Technik
der Auffpürung verfchütteter oder verlorener Quellen,
wie fie beifpielsweife in der Pofeidonios-Forfchung fo erfolgreich
gehandhabt worden ift, ein durch Autopfie des
tragifchen Schauplatzes gefchärftes Auge und (nicht zuletzt
) eine durch leidenfehaftliches Miterleben des Weltkriegs
noch wacher gewordene hiftorifche Phantafie. Ich
meine mit der letzteren Gabe nichts Vernebelndes und nichts
Verzerrendes, fondern jene fchöpferifche Intuition, ohne
die der vor Fragmenten Stehende niemals die alten Linien
wiederfindet.

Es ift für einen Kritiker, der nicht Jofephus-Spezialift
ift und die Quellen der frühen Kaifergefchichte nicht
wirklich beherrfcht, fchwierig, immer zu folgen, zumal die
Darftellung aus bekannten Gründen ftark zufammenge-
drängt werden mußte. Ich bekenne, daß ich an manchen
Stellen (vielleicht infolge der allzuknappen Skizzierung
) nicht mitkonnte oder nicht fah, was Weber glaubte
gefehen zu haben. Aber der Wurf als Ganzes fcheint
mir gelungen zu fein. Insbefondere durch die fcharf-
finnige Kontraftierung des Jofephus mit den Parallelfragmenten
beiTacitus, Sueton, Diou.a. hat die Beweisführung in
ihrem großen Gang etwas Uberzeugendes. Ich nenne
als Beifpiel die Analyfe des Berichtes über den Auf-
marfch vor Jerufalem B. J. IV 658—V108 (Weber S. 185«".).
Hier foll das amtliche Itinerar der Truppen des Titus
zugrunde liegen, ausführlich bei Jofephus, exzerpiert bei
Tacitus, in Trümmern und ftark verarbeitet bei Dio. Ta-
citus hat dabei den Stoff perfönlich ftark geformt, Jofephus
fich ftrenger an die Vorlage gehalten und fie nur
da und dort bereichert. Von befonders eindringlicher
Klarheit find die Unterfuchungen, in denen der Verfaffer
feine fchon aus feinem Hadrian-Buch rühmlich bekannte
Vertrautheit mit den Kaifermünzen verwertet; ich rate
hierfür S. 83 ff. u. 261 nachzuarbeiten.

Das Gefamtergebnis, das noch eindrucksvoller wäre,
wenn Verf. etwa in Form einer tabellarifchen Überficht
die Einzelanalyfe zufammengefaßt hätte, ift für den Hifto-
riker in dreifacher Hinficht eine Förderung. Der jetzt
bei tieferem Eindringen reichlich fchwierige Text des
Bellum (in unferer Berliner Graeca haben wir das während
des Krieges nicht feiten erlebt) wird ohne weiteres
verftändlicher, wenn man, durch ihn hindurchblickend, das
fremde öcö//a rr/g ioroQiag bemerkt. Die feltfam komplizierte
Perfönlichkeit des Jofephus gewinnt fchärfere Konturen
. Von der Darfteilung des Gefamtverlaufs des blutigen
Dramas laffen fich die Züge literarifcher Konvention
und eines zurechtmachenden Subjektivismus leichter abtun.
Sehr beträchtlich find aber auch die (leider oft nur angedeuteten
) religionsgefchichtlichen Pünfichten. Die Pfy-
chologie des um Sein oder Nichtfein kämpfenden jüdifchen
Volkes wird ebenfo plaftilch und ergreifend lebendig, wie
das eigenartige Weben und Wuchern des meffianifchen
Gedankens vor unferen Augen deutlich wird, bis hin zu
der Paradoxie (S. 40ff), daß der Jude, nein der Flavier
Jofephus den Vefpafian als den Weltenheiland proklamiert
hat.

Berlin-Wilmersdorf. Adolf Deißmann.

Bultmann, Prof. D. Rudolf: Die Gefchichte der fynoptifchen
Tradition. (Forfchungen z. Religion u. Literatur d. A.
u. N. Teftaments. N. F. 12. Heft.) (242 S.) gr. 8°.
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1921. M. 30—
Daß die fynoptifche Frage letztlich in der Frage nach
der Gefchichte der fynoptifchen Tradition befteht, entwickelt
B. einleitend knapp und gut. Sein Buch bedeutet
eine gründliche Nachprüfung der Zweiquellentheorie
in ihrem berechtigten Kern, auf den fich viele
ihrer Vertreter, voreilig literarifche und hiftorifche Ge-
fichtspunkte vermengend, nicht befchränkt haben. In
richtiger Erkenntnis, daß fchon die Aufftellungen Wellhaufens
auf das Studium der Vorftufen der Evangelien
hinwiefen, und im Anfchluß an M. Dibelius' Programm-
fchrift „Die Formgefchichte des Evangeliums" und mein
Buch „Der Rahmen der Gefchichte Jefu" ift die form-
gefchichtliche Methode bis ins einzelne ausgebaut
und der Nachweis erbracht, daß bei der Eigenart der
evangelifchen Überlieferung das Entfcheidende mit der
bloßen Anerkennung der Zweiquellentheorie keineswegs
gewonnen ift, daß es vielmehr gilt, hinter die Quellen
zu kommen. Und je mehr die letztere Aufgabe erfaßt
ift, defto gleichgültiger wird es, ob man feftftellen kann,
in welcher Quelle etwa Markus diefes oder jenes Stück
gefunden hat. Solche Nachprüfung und Vertiefung der
fynoptifchen Arbeit mündet dann in eine umfaffende
literaturgefchichtliche Behandlung; eine Fülle von
Parallelen aus dem jüdifchen und dem helleniftifchen und
dem allgemein volkstümlichen Bereich verdeutlicht fo-
wohl die Form der Traditionsftücke als die Gefchichte
der Tradition.

Die Abgrenzung zwifchen Wortüberlieferung (1. Teil)
und Gefchichtenüberlieferung (2. Teil) hat zunächft darin
ihre befondere Eigenart, daß vor den rahmenlos überlieferten
Worten eine Gruppe behandelt wird, „die man