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Ausgabe:

1922 Nr. 1

Spalte:

388-390

Autor/Hrsg.:

Wernle, Paul

Titel/Untertitel:

Einführung in das theologische Studium. 3., verb. Aufl 1922

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 18/19.

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weil fich ihm dadurch die Möglichkeit eröffnete, die
Früchte umfaffender Spezialftudien hier zur Darftellung
zu bringen (vgl. Vorrede p. VIII). Aus diefer Vorge-
fchichte erklärt es fich, daß diefer Band den Charakter
einer Monographie erhalten hat, die uns in ein Stück
Kirchengefchichte einführt, das bisher zu den am meiften
vernachläffigten Perioden gehört hat. Die tiefgreifende
und kirchengefchichtliches Neuland uns erfchließende Ge-
fchichtsfchreibung über die Zeit von 1560 bis 1688 bringt
uns ein Jahrhundert näher, in dem die Erregungen und
Kräfte des Reformationszeitalters ausmünden und zugleich
die Quellpunkte neuer Entwicklungen befchloffen
liegen.

Nach einer wertvollen Zufammenftellung der Literatur
über die kirchlichen Verhältniffe in Deutfchland im 16.
und 17. Jahrhundert beginnt der Verf. mit einer Schilderung
der „inneren Zuftände im 16. Jahrhundert", die zunächst
die evangelifchen Kirchen in Deutfchland und der
Schweiz ins Auge faßt. Unter dem Stichwort ,Die
Grundlagen des kirchlichen Lebens' wird von den kirchenrechtlichen
Verhältniffen, dem Bildungswefen und den
Zuftänden in den Gemeinden ein Bild gezeichnet, das
nicht nur nach der hiftorifchen Seite auf befondere Beachtung
Aufbruch erheben darf fondern auch für die
Gegenwart wichtig ift. — Die Unterfuchung über das
gegenfeitige Verhältnis der drei Reformationsgebiete —
der Ausdruck Konfeffionskirchen wird von M. für diefe Zeit
abgelehnt — gibt Gelegenheit zu einer kriti chen Überficht
über den Stand der thtologifchen Streitpunkte bis
etwa 1558, die fich als eine fichere Führung durch höchft
verwickelte Lehrftreitigkeiten ausweift, denen dann durch
das Konkordienbuch 1580 ein Ziel gefetzt wurde. Über
die Wirkungen diefes Konkordienwerks auf das Luthertum
und auf das Verhältnis von Luthertum und Calvinismus
in Deutfchland unterrichtet eine inhaltreiche Unterfuchung
, an deren Ende die intereffante Frage aufgeworfen
wird, wie das Verhältnis der Reformationskirchen
zum Mittelalter zu beftimnien ift. Die Erwartung, daß
ein fo fchwieriges Gebiet wie das der Gefchichte des
Täufertums, der Myftik und des Unitarismus mit belon-
derer Sorgfalt behandelt werden würde, wird vollauf be-
ftätigt. Das hier gebotene Neue befchränkt fich auch
nicht auf die fich heraushebenden Mitteilungen über den
italienifchen Humaniften Acontius(S. 125 cf. VorredeXXII).
Zu den Ausführungen über die Libertiner Calvins ift
jetzt auch der Auffatz des Verf. über fie in der Zeitfchr.
f. KG 39. Bd. (1921) S. 83 ff. heranzuziehen. — Die innere
Entwicklung der römifchen Kirche im 16. Jahrhundert
wird an der Hand der Gefchichte des Papfttums, der Begründung
des Jefuitenordens und der Gefchichte des Tri-
dentinifchen Konzils zur Darfteilung gebracht.

In dem 2. Abfchnitt werden die Kämpfe der Gegenreformation
von 1559—1648 in eindrucksvoller Gruppierung
— die wefteuropäifche Staatengruppe; die öftliche
und nördliche Staatengruppe; Deutfchland, die habsbur-
gifchen Länder und die Eidgenoffenfchaft bis zum weft-
fälifchen Frieden — und unter fcharfer Herausarbeitung
der bedeutfamften Ereigniffe zur Darfteilung gebracht,
fodaß die charakteriftifche Eigenart der Religionskämpfe
in den einzelnen Ländern plaftifch hervortritt. Nach
Seiten der Verwertung neuen Materials verdienen die
§§ 251 und 252 über ,die Fortfehritte der Reformation
in Deutfchland bis in die achtziger Jahre' und die .Gegenreformation
in Deutfchland bis 1618' durch die Nutzbarmachung
territorialgefchichtlicher Spezialforfchungen befondere
Hervorhebung. In einer großangelegten Über-
fchau über ,die allgemeinen Ergebniffe und gemeinfamen
Züge des Zeitalters der Gegenreformation' (§ 256) klingt
die Schilderung der Religionskämpfe aus. Genauer ge-
fagt, die Zufammenfaffung wird vom Verf. fo behandelt,
daß er fie an die Spitze des 3. Abfchnittes ftellen konnte,
dem er die Überfchrift gegeben hat ,die Entwicklung be-
onders im Innern während des 17. Jhs.'

Die auch hier wohl begründete geographifche Einteilung
bringt durch die Voranftellung der wefteuropä-
ifchen Länder deren großes Gewicht zum Ausdruck.
Innerhalb diefer Gruppe werden zunächst die römifch-
katholifchen Länder zufammen mit der Gefchichte des
Papsttums in diefem Zeitraum behandelt und dadurch
die auch für die Gefamtkirche grundlegenden Ereigniffe
undUmgeftaltungen in den Vordergrund gerückt (Ordens-
wefen, Theologie, die großen inneren Kämpfe: Janfenismus,
Gallikanismus, Huggenottentum, Quietsmus). Die nun
folgende Gefchichte ,der Niederlande der Utrechter Union
und Englands' umfpannt ein gewaltiges Material in lichtvoller
Darfteilung. Ihr fchließt fich die Einführung in
die neuen auch für die Kirchengefchichte epochemachenden
Verhältniffe an, die durch die Berührung der weft-
europäifchen Mächte mit der überfeeifchen Welt ge-
fchaffen wurden und der Kirche die Aufgabe zeigten,
der nun beginnenden überfeeifchen Kolonifation eine
planmäßige Miffion zur Seite zu ftellen.

Wenn es ein Vorzug unleres Werkes ift daßdieaußer-
deutfehe Kirchengefchichte hier zu ihrem Rechte kommt,
fo ift das Kapitel ,Deutfchland und die nord- und oft-
europäifchen Länder' ein Beweis dafür, daß die eingehende
Würdigung der kirchlichen Entwicklung anderer Länder
wahrlich nicht auf Koften der Kirchengefchichte Deutfch-
lands erfolgt. Denn der forgfältigen Berichterftattung
über Dänemark, Schweden, Polen und Litauen fteht eine
Gefchichte des kirchlichen Deutfchland gegenüber, die
deffen gefamte Lebensäußerungen umfaßt. Die Beziehungen
zwifchen Katholizismus und Protestantismus, die
Verhältniffe innerha b der katholifchen und innerhalb der
beiden evangelifchen Kirchen fowie deren gegenfeitiges
Verhältnis find Gegenftand umfangreicher Erörterungen.
Ich möchte nicht den Verluch machen, die einzelnen
Paragraphen abzuftufen, denn jeder hat feine Individualität
, aber weife auf die Schilderung der evangelifchen
Kirchenverfaffung (§ 277) hin, weil fie auch aktuellen
Wert hat und auf den wichtigen § 282 .Ergebniffe der kon-
feffionellen Entwicklung für Deutfchland' — dabei fei an
die lehrreiche diefem Band beigefugte Konfeffionskarte
erinnert —, da er zugleich für die Methode des Verf., durch
Querdurchfchnitte das Verftändnis der Entwicklung zu
fördern, charakteriftifch ift.

Das Schlußkapitel fuhrt auf die Höhe gefchichtlicher
Betrachtung, indem es das Fazit zieht: ,Erfte Ergebniffe
für eine neue Weltanfchauung.' Was es bringt, zeigen
die Überfchriften: Die neue Philofophie und Naturwiffen-
fchaft; die neue Staats- und Gefellfchaftslehre und die
Ethik; die neue Auffaffung des Wefens und der Stellung
der Kirche; die neue Religionswiffenfchaft; die Wirkung
der neuen Wiffenfchaft auf die Theologie.

Auch dort, wo oft behandelte Materien dargeftellt
werden, können wir beobachten, daß der Verf. fie eigenartig
anfaßt und immer die Einzelerfcheinungen unter
große Gefichtspunkte ftellt; in zahlreichen Ausführungen
verdanken wir diefem bedeutenden Werk die Zugäng-
lichmachung neuen Wiffens; immer wirkt es durch Frage-
ftellung oder Kombination anregend. Nur in einem Punkt
bereitet der Verf. uns eine Enttäufchung, und zwar eine
überaus fchmerzliche. Denn am Schluß des Vorworts
erklärt er, daß eine Fortfetzung feiner Arbeit zweifelhaft
ift und daß er für feine Perfon Abfchied von dem Werk
nimmt.

Göttingen. Carl Mirbt.

Wernle, Prof. D. Paul: Einführung in das theologifche Studium
. 3-. verb. Aufl. (XVI, 600 S.) gr. 8U. Tübingen
, J. C. B. Mohr 1921. M. 72—; geb. M. 82—
Die I. u. 2. Auflage diefes prächtigen Buches ift von
Eck (1909, 321 ff. u. 1911, 568 f) ausführlich und liebevoll
gewürdigt. Auch mir find beide Auflagen von früher
bekannt, und doch reizte es mich, als ich, der Rezenfen-
tenpflicht folgend, die 3. Auflage mit der 2. verglich,