Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1922 Nr. 13

Spalte:

303-304

Autor/Hrsg.:

Wittmann, Michael

Titel/Untertitel:

Aristoteles und die Willensfreiheit 1922

Rezensent:

Goedeckemeyer, Albert

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

3°3

Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 13.

304

Das Buch enthält mehr als fein Titel angibt, nämlich
eine Gefchichte der evangel. Kirche der Bielitz-Bia-
laer Deutfchen Sprachinfel von den Anfängen bis auf
die Gegenwart im Rahmen der Wirkfamkeit der Bielitzer
Paftoren, aus deren Nachlaß Predigten und Anfprachen
mitgeteilt werden. Die gefchickt ausgewählten Reden,
die den Hauptteil des Buches ausmachen, fpiegeln nicht
nur die Eigenart der einzelnen Prediger wieder, fondern
find auch wichtige Quellen für die Gefchichte des Prote-
ftantismus im ehemaligen öfterreichifchen Oft-Schlefien.
Der V. hat auch fonft bisher unbekanntes handfchriftli-
ches Material erftmalig herangezogen, fo das ,Inventarium
der Pfarrei Bielitz und der dazu gehörigen Kirchen des
Erzpriefters M. Oppolsky'. In Anbetracht der führenden
Stellung, die einzelne Bielitzer Paftoren, wie Karl Samuel
Schneider, Theodor Haafe und Ferdinand Schur — von
den Lebenden zu fchweigen —im öfterreichifchen Gefamt-
proteftantismus eingenommen haben, gewinnt,das Denkmal
der Dankbarkeit und Liebe' eine über die Grenzen von Bie-
litz-Biala reichende Bedeutung. Aus dem reichen Inhalt
feien noch befonders hervorgehoben: Die Einweihungspredigt
des Paftors Lukas Wenzelius bei der neuerbauten
Kirche zur hl. Dreifaltigkeit am 24. Juni 1608, die
Dankpredigt des Superintendenten Bartelmuß vom 20. Nov.
1781 auf dem für die Bialaer Gnadenkirche ausgefteck-
ten Platz, die Anfprache desfelben am 19. März 1782
anläßlich der wiederhergeftellten evang. Kirchen- und
Schulfreiheit zu Bielitz.

Wien. Karl Völker.

Gentile, Giovanni: II Modernismo e i rapporti tra Religione
e Filosufia. (Scritti filosofici di Giov. Gentile III).
Seconda edizione accresciuta. (VIII, 250 S.) Bari,
Gius. Laterza & figli 1921. Lire 15.50

Gentile griff 1909 in die lebhafte moderniftifche Bewegung
Italiens mit einer Sammlung von Auffätzen ein,
die nunmehr in zweiter, vermehrter Auflage vorliegt.
Der Verfaffer trägt kein Bedenken, den Modernismus als
eine der wichtigften kulturgefchichtlichen Strömungen
der Neuzeit zu bezeichnen; denn da der Katholizismus
immerhin die bedeutendfte religiöfe Erfcheinung der
abendländifchen Zivilifation darfteile, fo dürfe man den
Modernismus, die ftärkfte Anftrengung des katholifchen
Geiftes zur Ausgleichung und Verföhnung der Kirche
mit den Errungenfchaften der Wiffenfchaft, als einen
der großen Zufammenftöße betrachten, wie fie fleh in
der Gefchichte zwifchen der Religion, der Philofophie
der großen Menge, und der Philofophie, der Religion
der fpärlichen Weifen, von Zeit zu Zeit notwendig ereignen
. Gentile fleht in der Enzyklika Pascendi eine mei-
fterhafte Darlegung und fchlagende Kritik der philofo-
phifchen Grundlagen des gefamten Modernismus und
läßt die Befchwerde, als habe die Enzyklika den Modernismus
entftellt, nicht gelten. Der fympathifchfte, tüch-
tigfte und religiöfefte unter den Moderniften ift ihm
Moriz Blondel; auch für Semeria hat er trotz mancher
Bedenken Worte warmer Anerkennung. Der deutfche
Modernismus wird ftiefmütterlich behandelt. Zwar erfährt
, was gewiß dankenswert ift, Martin Deutinger wohlwollende
Würdigung; aber Hermann Schell wird übergangen
. Umfo mehr ift man überrafcht, Salomon Reinachs
,Orpheus' und den Myftizismus des Polen Towianski
berückfichtigt zu fehen.
München. J. Schnitzer.

Witt mann, Prof. Dr. M.: Ariftoteles und die Willensfreiheit.

Eine hiftorifch-kritifche Unterfuchung. (54 S.) gr. 8°.

Fulda, Fuldaer Actiendruckerei 1921. M. 6 —

Seinen Wunfeh, A. als Indeterminiften anfehen zu
können, fucht fleh W. durch eine als Ergänzung zu
feiner Ethik des A. (1920) gedachte teils hiftorifche, teils
polemifche Darftellung zu erfüllen. Die ältere Zeit hat
A. durchweg als Anhänger der Willensfreiheit betrachtet,

und erft in jüngfter Zeit ift diefe Auffaffung ins Wanken
geraten (3 ff). Schuld daran ift vor allem Löning (5 ff).
Gegen ihn wendet fleh darum W. in erfter Linie. Me-
thodifch wäre es natürlich das Einfachfte gewefen, wenn
er bei A. die Stelle aufgezeigt hätte, an der es heißt,
daß der Menfch unter denfelben äußeren wie inneren Bedingungen
fowohl fo als auch anders wollen kann.
Das hat er aber nicht getan, fondern fleh auf eine von
feinem Standpunkt aus vollzogene Interpretation von Begriffen
, befonders des e<p' rjfilv, berufen (bes. 33 f., 38),
von denen feine ganze Polemik zeigt, daß fie eben den
Inteterminismus nicht ,aufs Klarfte ausfprechen' (48). Ich
halte die ganze Frageftellung für verfehlt, wie ich in meinem
jetzt erfcheinenden Buche: Ariftoteles' praktifche Philofophie
S. 5 5 ff. ausgeführt habe.
Königsberg. Goedeckemeyer.

Schulze, Karl Ernft: Die Philofophie der menlchlichen Triebe.

Ein moniftifches Syftem auf pfychoanalytifcher Grundlage
. (150 S.) gr. 8°. Gautzfch-Leipzig, F. Dietrich
1921. M. 20—

Es handelt fleh im wefentlichen um pfychologifch-
biologifche Betrachtungen über die menfehlichen Triebe.
Frageftellungen, die man als philofophifch bezeichnen
könnte, werden nur kurz und fo behandelt, daß es den
Philofophen fchwerlich befriedigen dürfte (S. 148). Das
Schriftchen als Syftem zu bezeichnen, ift etwas kühn;
immerhin hat Verf. verflucht, die ,Triebe' zu klaffifizieren.
,Moniftifch' nennt er das ,Syftem', wohl weil er z. B. auch
die Pflicht aus einem Naturtriebe, dem Pflichttriebe,
I erklärt und den ,Dualismus* verwirft, welcher einen ,Ge-
genfatz zwifchen der irdifchen Welt — dem Wirkungskraft
? der Naturtriebe — und der überirdifchen (himm-
lifchen) — dem Wirkungskreise, der Pflicht' — aufrichtet.
(S. 133). Irreführend ift der Zufatz: ,auf pfychoanalytifcher
Grundlage'; man darf nicht etwa an die Freudfche
Pfychoanalyfe denken. Verf. denkt bei diefem Worte
wohl nur an das, was man fo gemeinhin als ,pfycholo-
gifche Analyfe' bezeichnet; ein Abfchnitt (S. 112) ift
überfchrieben: ,Analyse der humanen Triebe'; ein anderer
(S. 135) ,Analyfe des Pflichttriebs'.

Verf. unterfcheidet: die Urtriebe oder Elementartriebe
(l), die abgeleiteten oder fekundären Triebe (2),
und die humanen Triebe (3). Was er über die Urtriebe
(Entwicklungs-, Ernährungs-, Begattungs- und Bruttrieb)
lagt, hält fleh im großen und ganzen im Rahmen der
üblichen biologifchen Anfchauungen und Denkrichtungen,
ohne daß über Einzelheiten hier ein Urteil gefällt werden
könnte. Als fekundäre Triebe führt er auf: Macht-, Gel-
tungs-, Befltz-, Berufs-, Schönheits-, Schmuck-, Freiheits-,
Glücks-Trieb u. a. Hierbei macht fleh der Mangel jeder
fchärferen pfychologifchen Frageftellung in peinlicher
Weife geltend. Auf die Frage z. B., welche Rolle in
der Struktur des einzelnen Triebes die zirkumfkripten
(erworbenen und ererbten) Engramme fpielen, wird in
keiner Weife eingegangen. Sätze wie die folgenden:
,Aus den mannigfaltigen Trieben nach Geltung, Befltz,
Beruf, Schönheit und Freiheit hat fleh ein zufammenfaf-
fender Trieb gebildet, ein Generaltrieb, der fowohl Materielles
wie Ideelles in fich begreift. Es ift der Trieb,
glücklich feinzuwollen,,derGlückstrieb'(S. 100) — find
zwar nicht fchlechthin als falfch zu bezeichnen, gleiten
aber ahnungslos über Abgründe von pfychologifchen
Problemen hinweg.

Den Abfchnitt über die humanen Triebe leitet Verf.
mit der Frage ein, ob die humanen Triebe auf ,einer
neuen Art von Motiven nicht finnlich-triebhaften Wefens'
beruhen. ,Oder liegt trotz allem Anfchein doch nichts
Neuartiges vor, und flammt eben das humane Streben
auch aus der Urquelle alles Lebens, dem Egoismus und
dem Ringen nach der Luft?' (S. 108). Letzteres ift nach
Sch. der Fall. Bei den Trieben der Freundfchaft, des
Wohlwollens, der Gerechtigkeit und Großmut handle es