Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1922

Spalte:

11-13

Autor/Hrsg.:

Mauthner, Fritz

Titel/Untertitel:

Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. 2. Band 1922

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 1.

1

zum entfcheidenden Vorbild wurde, hat Clemens Timpler
in Steinfurt als erfter Deutfcher die Metaphyfik in ein
Syftem gebracht und darin an die Leiftungen der deut-
fchen Altariftoteliker, die fich noch an die griechifchen
Quellen felbft hielten, angeknüpft. Weiterhin jedoch be-
herrfchte im 17. Jahrhundert die mehr und mehr nur
auf fekundäre Darftellungen des Ariftotelismus fich ftüt-
zende Scholaftik das philofophifche Denken, bis die
fich allmählich anbahnende Aufklärung, diefes Schulbebetriebes
überdrüffig, die Autorität des Ariftoteles erfolgreich
untergrub. Gleichwohl wirkte mittelbar deffen
Philofophie weiter vor allem in dem Syflem von Leibniz,
in dem der Verf. wichtige ariftotelifche Grundlagen nachweift
. Ja ihm .gipfelt in Leibniz die deutfche Philofophie
der beiden erften Jahrhunderte des Proteftantismus und
vermählt fich mit allen Errungenfchaften der neueren
Philofophie und Naturwiffenfchaft des 17. Jahrhunderts
in fo eigentümlicher Weife, daß die Synthefe ein durchaus
neues Syftem erzeugte, welches über die Teile weit
hinausführte und den menfchlichen Geift der Höhe alles
Erkennens näher brachte' (314). Diefe eingehend begründete
Thefe ift wohl das wichtigfte Ergebnis der tiefgrabenden
und reichhaltigen Forfchungen des Verf. und der
Höhepunkt feiner Darfteilung, die in ihren übrigen, der
Theologie ferner liegenden Nachweifungen hier nicht
weiter verfolgt werden kann.

Ohnehin habe ich aus Raummangel nur in ganz
groben Strichen einige der hauptfächlichen Entwicklungs-
ltadien, die der Verf. uns vorführt, andeuten können.
Innerhalb der Grenzen, die fein Thema mit fich brachte
und die fich insbefondere aus deffen Befchränkung auf
das proteftantifche Deutfchland ergaben, hat er feiner
Forfchergabe und feiner Gelehrfamkeit ein rühmliches
Denkmal gefetzt. Vielleicht nur hat er jene Grenzen
ftellenweife doch etwas eng gezogen. In der Hauptfache
find es Erfcheinungen auf dem Gebiet der lutherifchen
Gedankenentwicklung, die er ins Auge faßt, wenn er
auch außer Timpler gelegentlich Keckermann, Alfted und
andere Reformierte heranzieht. Immerhin hätte wenig-
ftens Keckermann wohl auch eine eingehendere Behandlung
verdient. Auch Ludwig Crocius und andere Angehörige
der von Pezel begründeten Bremer Schule
reformierter Melanchthonianer hätten wegen der von
ihnen gepflegten Metaphyfik beachtet werden können,
ohne daß es notwendig gewefen wäre, nun auch gleichartige
Beftrebungen reformierter Philofophen und Theologen
außerhalb der Grenzen Deutfchlands zu verfolgen.
Da aber die weitergreifenden, auf ,eine Darfteilung der
ariftotelifchen Philofophie in der proteftantifchen Welt'
gerichteten Pläne des Verf. (S. V), die durch den Weltkrieg
zunächft vereitelt worden find, doch wohl in einer
nähern oder fernem Zukunft nicht völlig unausführbar
fein werden, darf ich von feinem Werke in der Hoffnung
fcheiden, daß es feinem hervorragenden wiffenfchaftlichen
Talent gelingen werde, dereinft vollftändig zum Abfchluß
zu bringen, was er in dem vorliegenden Buche bereits
in fo dankenswerter Weife geleiftet hat.
Bonn. Ritfchl.

Mauthner, Der Atheismus und feine Gefchichte im Abendlande.

1. Bd.: Einleitg. I. Buch: Teufelsfurcht u. Aufklärung
im fog. Mittelalter. (VIII, 658 S.) Lex. 8°. Stuttgart,
Deutfche Verlags-Anft. 1920.

M. 52—; geb. M. 64 —
Mauthner, Der Atheismus u. feine Gefchichte im Abendlande.

2. Band. Zweites Buch: Entdeckung der Natur u. des
Menfchen — Lachende Zweifler — Niederlande, England
. (593 S.) Lex. 8°. Stuttgart, Deutfche Verlagsanftalt
1921. M. 63—; geb. M. 75 —

Das Werk, deffen dritter Band noch nicht vorliegt,
fetzt fich vor, die Gefchichte der Überwindung des Gotteswahns
auf abendländifch-chriftlichem Boden zu fchildern
und fo das noch außenftehende Seitenftück zur Gefchichte

der Überwindung des Teufelswahns zu liefern. Der Verf.
hat dabei ohne Zweifel die Abficht gehabt, zur Überwindung
des Gotteswahns auch feinerfeits ein wenig oder
viel beizutragen. In feinem vornehm-läffigen Deutfch
gibt er dasjenige, was von den Gedanken, auch den
Spöttereien, der ganzen und halben Atheiften vergangener
Zeiten ihm noch wirkfam zu fein fcheint, wieder und
bringt auch gelehrte Einzelforfchung im Plaudertone.
Der Ernft, den er an die Sache fetzt, zeigt fich vor allem
darin, daß er feine Gefchichte des Atheismus zu einem
lebendigen Beifpiel atheiftifcher Gefchichtsbetrachtung
zu geftalten fucht, für die es Sinn, Zweck und Ziel in
der Menfchheitsgefchichte nicht geben darf. Eben das
aber bedingt die Schwäche des Buchs als hiftorifche
Leiftung. Gefchichte fchreiben heißt unter dem Gefichts-
punkte eines Telos einen finnvollen Zufammenhang des
Werdens in der Mannigfaltigkeit des Zeitablaufs erfchauen.
M. kann fich dem auch nicht ganz entziehen, und oft genug
erfcheint die Überwindung des Gotteswahns als
Telos eines finnvollen Prozeffes, obwohl fie ihm im Grund-
fatz nur als Gefichtspunkt fubjektiver Auswahl und wertender
Betrachtung gelten foll. Da er aber diefem letzteren
Grundfatz doch im ganzen treu ift, löft fich ihm der ge-
fchichtliche Zufammenhang mehr oder weniger auf in
einer Summe von Einzelbiographien. Man kann infofern
fein Werk als einen zufällig chronologifch geordneten
atheiftifchen Helden- und Heiligenkalender bezeichnen.
— Eine andre Begrenzung der hiftorifchen Leiftung, die
bei dielem Thema und diefen Vorausfetzungen ebenfalls
unvermeidlich war, ift der mangelnde Sinn für die
Willensbedingtheit des gefchichtlichen Lebens. Eigentlich
ift M. an Auswirkungen des Willens nur eine bekannt
: die Tapferkeit, die zu den Erkenntniffen des
Verftandes fteht. Hiermit glaube ich es in Zufammenhang
bringen zu dürfen, daß er für die Macht der
Frömmigkeit über Menfchenherzen Gefühl nicht hat. Er
ift viel zu geneigt, die Bekenner des Gottesglaubens als
Heuchler zu nehmen.

Der Wert des Buchs kann nach dem allen nur in
der Einzelbeobachtung liegen. Darum wird es für den
Forfcher feffelnd und lehrreich erft von dem Augenblicke
an, wo M. auf die Renaiflance zu fprechen kommt. Bis
dahin ift M. (wie er felbft unterftreicht) im wefentlichen
von den Forfchungen andrer (z. B. Hermann Reuter's) abhängig
, und nur die Beleuchtung des Ganzen, fowie diefer
und jener Einfall, find M. eigen. Von der Renaiflance
an dagegen ift fein Werk auf eine felbftändige Durcharbeitung
des ganzen Stoffs geftellt, und die Urteile find
faft immer folche auf Grund eingehender eigner Bekannt-
fchaft. Nur bei den biographifchen Notizen bleibt die
Abhängigkeit von den Vorarbeiten. Selbftverftändlich
ift die Originalität der entworfenen Bilder des öfteren
erkauft mit dem Preis der Richtigkeit. Die Darftellung
Brunos z. B. wird fo leicht niemanden überzeugen. Aber
es ift auch an den zahlreichen Stellen, wo man anders urteilt
, lehrreich, die Sache einmal mit M.s Augen anzu-
fehn, und überdies wird man manche gelehrte Zurechtrückung
von einzelnen Daten, manche Einflechtung auch
neu erarbeiteter Daten finden, für die man dem Verf.
dankbar ift.

Befondere Hinweife auf nichtiges oder Unrichtiges verbieten lieb
bei dem Umfang des Buchs eigentlich. Jedenfalls kann es fich nur
um Koftproben handeln. Faft unbegreiflich ift für den Dogmen-
hiftoriker, wie man den Tcufelswahn auf Auguftin's Erbfündenlehre
zurückführen kann (ais ob nicht mit der urchriftlichen Efcbatologic
Teufelsvorftellungcn eingehender Art von je verbunden gewefen wären).
Irrig ift, daß Thomas von Aquino der letzte doctor ecclesiae fei; törichtes
Gerede, daß Luther nur mutig war gegen den Papft, weil er die Fiirften
hinter fich wußte. Lehrreich dagegen ift die Behauptung, daß um
das Jahr 1650 ein entfeheidender Einfchnitt der Geiftesgefchichte an-
zufetzen fei (das ift viel richtiger als die Anfetzung auf 1689), ift z.B.
die Schilderung Petrarca's und Bayle's (Bayle ift von M. in feiner
Wirkung weit richtiger eingefchätzt als in den bisherigen Darftellungen,
in feiner letzten Gefinnung vielleicht doch verkannt).

Man wird dem dritten Band des Werks, der die