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Ausgabe:

1922 Nr. 11

Spalte:

258-260

Autor/Hrsg.:

Krose, Hermann A. (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland. 9. Bd.: 1919-1920 1922

Rezensent:

Scheel, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 11.

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Das würde auch im großen und ganzen der Wirklichkeit
entfprechen. Die .Vorbereitung' der Reformation
befteht faft ganz in der Mißwirtfchaft der landfremden
Bifchöfe, die ihre Machtinterefien allem anderen vorordneten
.. Die Reformation, mit dem Jahre 1536 langfam
beginnend, aber auf keine Volksbewegung fich ftützend,
1552 durchgeführt, dankt die Infel im wefentlichen dem
Verlangen des dänifchen Königs, feine weltliche Macht
zu mehren. Erft in der zweiten Hälfte des 16. Jhds. dringt
die evangelifche Lehre durch. Der fchwierige Verkehr
mit Dänemark-Norwegen hat freilich verhindert, daß die
isländifche Kirche in dem Maße Staatskirche wurde wie
die dänifch-norwegifche Kirche, zugleich aber auch den
geiftigen Austaufch mit der Mutterkirche gehemmt. Die
Gefchichte der isländifchen Kirche wird darum zu einer
Gefchichte vornehmlich ihrer Bifchöfe, unter denen es
doch nicht allzu viele gegeben hat, die fich über den
Durchfchnitt erhoben. Sie gaben aber der Kirche ihr
Gepräge, und konnten es um fo leichter, als feit Begründung
des Abfolutismus im dänifchen Staat Island in kirchlicher
Beziehung faft ganz vergeffen wurde. Das hatte
freilich eine von den Isländern heute freundlich begrüßte
Folge: die Verfchonung von dem in Dänemark und Norwegen
eingeführten konfeffionellen Zwang. Im übrigen
findet man in Island bekannte Züge des orthodoxen Zeitalters
: Beobachtung der äußeren kirchlichen Bräuche,
Kirchenbefuch und Auswendiglernen des Katechismus
als Bekundung chriftlicher Frömmigkeit, Herrfchaft des
Aberglaubens, Glauben an Hexen und Zauberer, Verbrennung
von Hexen und Zauberern (zuletzt 1690), heilige
Namen als Befchwörungsmittel, kurz die .verzauberte
Welt'. Selbft die Heiligen der katholifchen Vergangenheit
leben wieder auf. Verehrt werden durften fie natürlich
nicht. Aber ihre Namen wurden als Zauber benutzt
. Auf den Kanzeln herrfcht die faft ganz von dänifchen
und deutfchen Vorlagen abhängige Kontroverspredigt
. Selbft vor den Calviniften wird gewarnt, obwohl
kein folcher Ketzer auf Islands Boden wandelte, gefchweige
denn die Gemeinden gefährden konnte. Dennoch follen
fie die Calviniften verabfcheuen lernen wie die Türken.
Der Einfluß der Predigt auf das Leben war gering. Trunk-
fucht und Unfittlichkeit find weit verbreitet und machen
felbft vor den Pfarrhäufern nicht halt. Pietismus und
Aufklärung haben keine ftarke Wirkung in Island entfaltet
. Der .Miffionsverfuch' der Brüdergemeinde verpuffte.
Die Entfendung des dänifchen Kommiffarius Harboe (1741)
und feine Kirchenvifitation in Island blieb ohne nachhaltige
Wirkung. Die materielle Not, die im 18. Jhd.
Island heimfuchte, hat die kirchliche Entwicklung ungünstig
beeinflußt. Helgafon nennt gradezu das 18. Jhd. eine
Zeit des kirchlichen Niedergangs für Island. Zugleich
freilich kann er feftftellen, daß in diefer Zeit der wiffen-
fchaftliche und kulturelle Aufftieg Islands begann (Alter-
tumswiffenfchaft). Gegen Ende des Jahrhunderts zieht
die Aufklärung ein, ohne freilich in die breiteren Schichten
einzudringen oder auch nur einen größeren Teil der Geift-
üchkeit zu gewinnen. Dem Juriften Stephenfen gelang
es allerdings, einige Erfolge zu erringen (1801 neues Gefangbuch
). Aber in die Breite und Tiefe hat die Auf-
Wärung auf Island nicht gewirkt. Mit Henderfons Befuch
Islands beginnt dann die englifche Evangelifation in Is-
fend Boden zu faffen, die für Island eine ähnliche Bedeutung
gewann wie für Dänemark. Isländifche Bibel-
gefellfchaft und Traktatgefellfchaft find die Frucht diefer
Bewegung. Ihr folgen Einfiüffe der Romantik und nun
auch, zunächft durch Martenfen vermittelt, Anregungen
der deutfchen Theologie, vornehmlich eines Schleiermacher
, aber auch der Tübinger Schule. Das 19. Jahrhundert
Stellt die isländifche Kirche in lebendigen Zufammenhang
n't der allgemeinen Gefchichte des Proteftantismus, deffen
wiffenfchaftliche und praktifche Probleme nicht mehr bloß
ei" mattes Echo in Island erwecken, fondern eine felb-
Ständige Behandlung erfahren.

Unter ungewöhnlichen Schwierigkeiten ift die isländifche
Kirche in das reformatorifche Bekenntnis hinein-
gewachfen. Jetzt hat fie einen auch durch die jüngfte
nationale Entwicklung Islands nicht geftörten ficheren
Zufammenhang mit dem europäifchen Proteftantismus erreicht
und außerdem durch die isländifche Auswanderung
nach Amerika eine Verbindung mit dem amerikanifchen
Kirchentum gewonnen. Vermutlich erwachfcn ihr nun
auch eigene Probleme, die die Aufmerkfamkeit des alten
Kontinents verdienen. Jedenfalls dürfen wir es Helgafon
Dank wiffen, daß er uns diefen .Überblick' gefchenkt hat.
Der Befürchtung des Verfaffers, daß Islands Kirchenge -
fchichte uns ärmlich erfcheinen möge, darf erwidert werden,
daß die Treue nie arm und mager ift. Und Dansk-is-
landsk Kirkefag wird, wie wir hoffen, an ihrem Teil dazu
beitragen, daß diefe Generationen lang faft vergeffene
ultima Thüle uns nahe gerückt und im Austaufch mit
uns bleiben wird.

Tübingen. Scheel.

Kirchliches Handbuch für das katholifche Deutfchland neble
Mitteilungen der amtl. Zentralftelle f. kirchl. Statiftik.
In Verbindg. mit H. Auer, Dr. R. Brüning, Dr. II. O.
Eitner u. a. hrsg. v. H. A. Krofe, S. J. IX. Bd.:
1919—1920. (XX, 459 S.) 8°. Freiburg i. Br., Herder
& Co. 1920. geb. M. 34 —
Die ev. deutfehe Theologie ift mit dem nachgelaffenen
Ivrbe der Gedankenwelt Schleiermachers keineswegs fo
pietätvoll umgegangen, als es nach der manchmal fall
abgöttifchen Verehrung anzunehmen gewefen wäre, die
ihm die zweite Hälfte des 19. Jahrh. entgegen getragen
hat. Schi, rechnete bekanntlich die .kirchliche Statiftik'
zu den akademifchen Disziplinen (Darft. des theol. Studiums
), hier wohl Stäudlinfche Gedanken aufnehmend;
er verftand darunter das, was wir heute .Kirchenkunde
der Gegenwart' nennen, die ,Kenntnis von dem dermali-
gen gefellfchaftlichen Zuftand der chrifflichen Kirche'.
Sie war ihm die Brücke zwifchen hiftorifcher und prak-
tifcher Theologie. Diefe Brücke ift 70—80 Jahre lang
ungebaut geblieben. So lange klaffte die Kluft, zum
Schaden fowohl der Theologie, als der Kirche. Jene
wurde immer abftrakter und wirklichkeitfremder, diefe
immer hilflofer, von der Theologie verlaffen, ftaatskirch-
lichen Pünflüffen preisgegeben. Kirchengefchichte des
19. Jahrhunderts zu lefen war für einen akademifchen
Dozenten noch vor 30 Jahren ein Wagnis, man fetzte
den Ruf der Wiffenfchaftlichkeit aufs Spiel. Die Gefchichte
, auch die politifche, hörte immer 100 Jahre hinter
der Gegenwart auf. Es gab fehr gelehrte Kirchen-
hiftoriker, die bis in die feinfte Nuance zu fagen wußten,
wie es etwa ums Jahr 450 in einer kappadozifchen Chri-
ftengemeinde ausgefehen hat, aber davon nur fehr nebu-
lofe Vorftellungen hatten, wie es derzeit wohl in einer
pommerfchen Landgemeinde ausfehen möchte. (Non
refero relata. Ref. redet als damaliger amanuensis; no-
mina sunt odiosa).

Wie ift das doch feit 20 Jahren fo ganz anders geworden
! Wir haben, um nur eins zu erwähnen, eine
.Evangel. Kirchenkunde der Gegenwart' (Drews); der 7.
Band wird uns befcheert. Auch der akademifche Betrieb
ift aus feiner Weltfremdheit erlöft. Theologie und
Kirche haben fich wiedergefunden. Das ift von unendlichem
Wert, jetzt beim Neubau der .Kirche'. Die Brücke
ift gebaut, auf der Theoretiker und Praktiker fich begegnen
. Beide nehmen von einander und geben einander,
mehr als jemals zuvor. Man kann feine Freude daran
haben.

E)he die Akademiker an den Brückenbau dachten,
wurden fchon auf der andern Seite die Fundamente gelegt
. Ein evangel. Diasporapfarrer war es, der das in
feinen Anfängen fehr dürftige Werk fchuf, das heute
unter dem Titel des .Kirchlichen Jahrbuchs' faft 50 Jahre
alt geworden ift — eine Zufammenfaffung der kirchlichen