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Ausgabe:

1922 Nr. 10

Spalte:

235-236

Autor/Hrsg.:

Hügel, Baron Friedrich von

Titel/Untertitel:

Essays and Addresses on the Philosophy of Religion 1922

Rezensent:

Heiler, Friedrich

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235

Theologifche Literaturzeitung 1922 Nr. 10.

236

keineswegs fo originell, wie man nach Mitteilungen des
Vorworts erwartet. Ebenfo wenig finde ich den Titel
.Grundriß einer neuen Philofophie' zutreffend. Das ift
bei weitem zuviel gefagt. Tatfächlich haben wir im
beften Falle nur Grundlinien einer Erkenntnistheorie, und
diefe in der Form von Behauptungen.

Ausgangspunkt ift das der Unterfcheidung zwifchen Ding und
Bewußtfein, Phyfifchem und Pfychifchem vorausliegendc .Gegebene',
das .philofophifche Element' genannt. Bfp. das noch gänzlich Undifferenzierte
— ,jene einfach gefchehend Einheit' —: ,Baum-Sehcn', ,Tifch-
Taften'. Von da aus macht fich alles weitere fehr einfach. .Sobald
mehr als Einhcitlches exiftiert, ift Zueinander, d. i. ift Raum und Zeit
gegeben' (S. 29). Dann . gibt es die ,Nochelcmente' (Erinnerungen).
.Das Gegebene' .empfindet' den Unterfchied zwifchen .Urelement' und
, Nochelement', nachdem es vorher fchon einen ,nächften Augenblick
erlebt' hat (S. 40). Damit ,ift der Unterfchied zwifchen Bewußtfein
und Ding vollzogen' (S. 41). Auch das Erkennen macht fich felbft
als ein .wechfelfeitiges Sich-Spiegeln und Sich-Beftimmen' (S. 44) zwifchen
den ,von-früher-her-fich-noch-forterhaltenden' .Bcftandteilen' des
Bewußtfeins und hinzutretenden neuen. .Dabei ftellt fich ein Nachprüfen
der Gleihhheiten und Ungleichheiten' ufw. ein- Es .ftellt fich ein' ein
.Sich-Bilden von neuen Begriffen'. Das ift das Denken (S. 48). Man
gewinnt in der Tat fatal den Eindruck, als äußere fich hier ein Denken,
das in verhängnisvoller Weife .durch unwillkürliche Abwehr gegen jedwede
Beeinfluffung' (Vorwort) fich felber außerhalb der philofophifchen
I'roblemzufammenhänge gcftellt hat.

Herrnhut. Th. St ein mann.

Hügel, L. L. D., D. D. Baron Friedrich von: Essays and
Addresses on the Philosophy of Religion. (XIX, 308 S.)
gr. 8°. London, J. M. Dent & Sons 1921. 15 sh.
Der einem öfterreichifchen Adelsgefchlecht entfprof-
fene, feit Jahrzehnten in England lebende, nun 69jährige
katholifche Laientheologe hatte die Achtung der wiffen-
fchaftlichen Welt gewonnen durch fein Werk ,The My-
stical Element of Religion as studied in the St. Catherine
of Genoa and her Friends' 2 Bde. (1908), das mit einer
muftergültigen biographifch-religionspfychologifchen Un-
terfuchung der genuefifchen Heiligen beginnt und mit
einer umfaffenden Religionsphilofophie endet. Sein zweites
Werk .Eternal Life' (1913) befchränkt fich keineswegs
auf die Jenfeitshoffnung, fondern behandelt eine religiöfe
Hauptkategorie, ein Wefensmerkmal des Göttlichen;
nicht nur das Thema, fondern auch die Art der Behandlung
— die Vereinigung von hiftorifcher Kenntnis, philo-
fophifchem Scharffinn und religiöfer Sehergabe — ftellt
diefes Werk der Schrift Rudolf Ottos .Das Heilige' ebenbürtig
zur Seite. Sein neueftes Werk -— ,Gefammelte
Reden und Auffätze' — verdient nicht geringere Beachtung
wie die früheren. Der mit H.'s Schrifttum Vertraute
begrüßt fie fchon deshalb dankbar, weil fie noch
deutlicher feinen perfönlichen religiös-kirchlichen Standpunkt
zum Ausdruck bringen, während derjenige, der
nicht Zeit und Fähigkeit hat, fich in die großen Werke
einzuarbeiten, die Quinteffenz der H.'fchen Religionsphilofophie
dargeboten erhält.

Nr. 1 unterfucht die .Verantwortung im religiöfen Glauben', die
drei Verpflichtungen in fich fchließt: asketifche Selbftdisziplin, Demut
vor Gott und Beugung unter die religiöfe Gemeinfchaft. — Nr. 2
(Religion und Illufion, Religion und Realität) zeigt gegen Feuerbach
die religiöfe Erfahrung als das reale Innewerden einer übernatürlichen
Realität, verbunden mit dem Bewußtfein, daß die fromme Erfahrung
diefer Realität nicht adäquat und nicht mit ihr identifch ift. — Nr. 3
(Fortfehritt in der Religion) kennzeichnet die Markfteine des Entwicklungsganges
, den die jüdifche und chriftliche Religion durchlaufen hat.
— Nr. 4 (Die Voraussetzungen des religiöfen Glaubens und die Tatfache
des Leidens) bietet eine neue Beleuchtung des Problems der
Tbeodizee. — Nr. 5 (Das apokalyptifche Element in der Lehre Jefu)
ift der genialfte bisher unternommene Vernich, Jefu Enderwartung mit
dem Inkarnationsdogma in Einklang zu bringen. — Nr. 6 (Der behindere
Geift des Chriftentums) beleuchtet die Religionsphilofophie, Rcli-
gionsfoziologie und Ethik von Ernft Troeltfch. — Nr. 7 (Was bedeutet
Himmel? was bedeutet Hölle?) gehört zu dem Scharf- und Feinsinnig-
ften, was neuere katholifchen Theologen über das Schickfal der Seelen
im Jenfeits gedacht und gefchrieben haben. Der alte chriftliche Glaube
an die Ewigkeit der Höllenftrafen empfangt durch H. eine neue fpiri-
tualiftifche Faffung. — Nr 8 (Die Wefcnsbeftandtcile des Katholizismus)
behandelt in geiftvoller Auseinanderfetzung mit Rudolf Sohm das Verhältnis
von fichtbarer und unfichtbarcr Kirche. — Nr. 9, ein z. T. anfechtbarer
Auffatz, den H. anläßlich des Reformationsjubiläums veröffentlichte
, will ,die dem Katholizismus und Proteftantismus gemein-

famen Überzeugungen' darlegen. Drei Momente verbinden den Katholizismus
mit dem proteftantifchen Kirchentyp (Luthertum und Calvinismus
): Gnadencharakter der Religion, Kirchengedanke, gefchichtlicher
Offenbarungsglaube, drei entgegengefetzte mit dem .nonkonformiftifchen'
Sektentyp: methodifche Selbftdisziplin, Heiligungsidee, Freiheit der
Kirche vom Staat. Gegen Luther erhebt H. vier Vorwürfe: die fachliche
Unrichtigkeit feiner Äußerungen über feine Erfahrungen im
Mönchtum, der Widerfpruch von L.'s sola ßi/es zum Evangelium des
fynoptifchen Jenas, L.'s Unkenntnis des klaflifch-katholifchcn Ideals, fein
Formalismus im religiöfen Leben. — Nr. 10 (Institutionelles Chriftentum
oder die Kirche, ihre Natur und Notwendigkeit) kritifiert den kirchen-
lofen Individualismus und verflicht — bei ftrengfter Beachtung aller
bibelkritifchen Ergebniffe — den Nachweis, daß die katholifche Kir-
cheninftitution in der Intention des gefchichtlichen Jefus liege. — Nr. 11
(Das Chriftentum und das Übernatürliche) will den Unterfchied zwifchen
Natur und Übernatur herausarbeiten und die Auswirkung des übernatürlichen
im fittlichcn Leben feftftellen (zölibatäres Leben, Fcindesliebe ufw.).
H.'s ethifches Ideal ift ein ,chriftlichcr Asketismus ohne Rigorismus'.

H.'s Werk ift wie fein ganzes Schrifttum eine ,mo-
derniftifche' Apologie des Katholizismus. Paul Sabatier
hat ihn mit Recht vor Jahren als den ,cvcque läique' der
katholifchen Moderniften gepriefen. Kardinal Newman,
der Vater des Modernismus, ift auch fein großer Lehr-
meifter. Aber im Gegenfatz zu feinem verftorbenen
Freunde George Tyrrell, ift H. frei von aller impulfiven
Leidenfchaft und polemifchen Schärfe; gegenüber Tyrrells
paulinifchem Enthusiasmus zeigt H. eine johanneifche
Milde und Abgeklärtheit. Seine vorfichtige Zurückhaltung
hat ihn bis heute vor jeder kirchlichen Zenfur bewahrt
. Wie Tyrrell, Fogazzaro u. a. Moderniften ift 11.
Katholik vom Scheitel bis zur Sohle, ,fo katholifch wie
nur möglich' (Söderblom). H. ift in der gefamten modernen
Philofophie zu Haufe, er handhabt mit bewundernswerter
Freiheit und Virtuofitat die bibelkritifche
Methode, er kennt genau die zahllofen Entartungserfchei-
nungen des Katholizismus in Vergangenheit und Gegenwart
— aber das alles ftört ihn nicht in feinem Glauben
an die ,Abfolutheit' der una saneta catliolica. Freilich
weicht der ,volle, wohlverftandene, genuine Katholizismus',
(S. 229, 233) der Hügel vorfchwebt, von dem Durch-
fchnittskatholizismus weit ab.

Der Katholizismus ift für II. im Gegenfatz zur .Exklufivität und
Exzeffivität' der Häretiker .csscntially balancc, mclusivncss, richncss' (S.234).
Trotz aller Mißbräuche lieht H. in ihm ,einc Fertigkeit (massivncss) des
Übernatürlichen, einen Sinn für die unlichtbare Welt, für Gott als die
wahre Heimat der Seele, wie er fich anderwärts nur in Fragmenten,
Annäherungen und Unterbrechungen findet' (281). Immer wieder rühmt
er an ihm, daß er (im Gegenfatz zum evangclifchen Panchriftismus)
,die Wahrheitselementc, die in allen Menfehen und allen Religionen
gegenwärtig find' (62) anerkennt und fchützt, ja, daß er fogar die
außerreligiöfen Komplexe des Lebens' (Philofophie, Kunft, Politik) ,als
von Gott flammend' wertet und in feine Dienfte zieht (238). Die
außcrchriftliehen' Elemente im Katholizismus (helleniftifche Myftcrien-
riten, römifche Jurisprudenz, neuplatonifche Myftik, ariftotelifche Philofophie
) erfcheinen ihm nicht als Trübung, fondern als Ergänzung und
Bereicherung des chriftlichen Denkens und Lebens (135). Im katholifchen
Prinzip findet H. die größere Toleranz als im proteftantifchen.
Er verweift wiederholt auf den Jefuitenkardinal De Lugo, der unter den
Augen Urbans VIII. die Thefe vertrat, daß die Angehörigen aller außer-
römifchen, ja, außcrchriftliehen Religionsgemeinfchaften und Philofophcn-
fchulen mit Hilfe der göttlichen Gnade das ewige Heil erlangen, indem
fie nach ihren Lehren und Geboten leben. Gegenüber den fpiritualifti-
fehen Religionsidealen ift H. der Anwalt des katholifchen Sakrarnenta-
lismus; der katholifche Reichtum an finnlichen ,Reizcn', .Vehikeln' und
.Ausdrucksformen' gilt ihm nicht als Schwächung oder Hemmung, fondern
als ftärkfte Förderung des geiftigen Innenlebens. Am reinften
findet H. das katholifche Ideal im .goldenen Mittelalter' ausgeprägt, im
Jahrhundert des Thomas von Aquino, Franz von Affisi und Dante
(welch letzterem das Buch gewidmet ift). ThomM von Aquino ift nach
H. trotz feiner abftrakten Geiftesart .reicher und ausgeglichener und
ift darum tiefer in den befonderen Geift des Chriftentums eingedrungen
als Paulus und Auguftinus mit ihrer größeren Unmittelbarkeit und
Kraft' (87). Er hat nicht .Sünde und Gnade', fondern .Natur und Cbcr-
natur' in den Mittelpunkt des religiöfen Denkens gcftellt (XV).

Schon wegen diefer originalen und feinen Intemre-
tation des Katholizismus verdient H.'s Werk aufmerkfame
Beachtung durch die deutfehe Theologie. Es wäre ein
geeigneter Ausgangspunkt für eine fruchtbare Diskuffion
des konfeffionellen Problems. Das Erfcheinen einer Über-
fetzung des Buches, deffen Lektüre durch den komplizierten
Stil fehr erfchwert ift, wäre fehr zu wünfehen.
Marburg. Friedrich Heiler.