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Ausgabe:

1921

Spalte:

91-92

Autor/Hrsg.:

Hofmann, Paul

Titel/Untertitel:

Eigengesetz oder Pflichtgebot? Eine Studie über die Grundlagen ethischer Überzeugungen 1921

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1921 Nr. 7/8.

92

keiten, mit denen es zu ringen hat, gerade in der Gegen- !
wart find. Er fchildert die Verfuche, fie zu überwinden,
die feitens des Griechentums, des Chriftentums, der Aufklärung
, der modernen Denkweife gemacht worden find. 1
Er übt Kritik an diefen Unternehmungen: am Chriften-
tum fpeziell hat er auszufetzen, daß feine Vorftellung vom |
Lebensgrund allzu anthropomorphiftifch fei und daß es dazu
neige, den Menfchen auf ein rein paffives Verhalten zu
befchränken. Im Gegenfatz dazu verweift er eindringlich |
darauf, daß eine befruchtende Berührung mit dem Grund j
alles geiftigen Lebens und eine dadurch erfolgende Kräftigung
nur möglich fei, wenn der Menfch nicht untätig
verharre, fondern in angeftrengtem Streben nach .Wefens-
bildung' fich um Gemeinfchaft mit der transzendenten
Welt bemühe.

Das Buch wird demjenigen, der fich bereits häufiger
mit dem Jenenfer Philofophen befchäftigt hat, leicht breit
erfcheinen. Fernerftehenden bietet es eine verhältnismäßig
anfchauliche Darfteilung der Grundgedanken Euckens.
Gießen. E. W. Mayer.

Meffer, Prof.Dr. Auguft: Sittenlehre. (115 S.) 8°. Leipzig
Quelle & Meyer 1920. geb. M. 5 40

Hofmann, Priv.-Doz. Paul: Eigengefetz oder Pflichtgebot?

Eine Studie üb. d. Grundlagen ethifcher Überzeugungen.
(X, 118 S.) 8». Berlin, Vereinig, wiff. Verl. 1920.

M. 6 —

Wilutzky, Konrad: Die Liebe. Wiffenfchaftliche Grundlegung
der Ethik. (37 S.) 8°. Jena, E. Diederichs 1920.

M. 5 —

Drei Werke der philofophifchen Ethik, die fich mit
der Grundlegung der Ethik befchäftigen, aber eine recht
verfchiedenartige Beantwortung diefes großen Problems
darbieten.

1. Meffer geht in feiner Sittenlehre' von dem Gedanken
aus, den er fchon 1918 in feiner .Ethik' ausführlicher zu
begründen gefucht hat, daß alle Ethik auf Werturteilen
und Wertftreben beruht. ,Als allgemeinfter und oberfter
fittlicher Grundfatz kann der bezeichnet werden, daß
es unfere Pflicht ift, in jeder Lage den höchft möglichen
Wert (oder geringften Unwert) nach beftem Wiffen
und Gewiffen zu verwirklichen' (S. 24). Er gibt dann
eine populär-verftändliche Ausführung der aus diefem
oberften Grundfatz abzuleitenden fittlichen Lebensforderungen
in 2 Abfchnitten: ,Die fittlichen Werte des Einzellebens
' und ,Die fittlichen Werte des Gemeinfchaftslebens'.
Im Schlußabfchnitte befpricht er dann ,die Verwirklichung
der fittlichen Werte', indem er die Entwicklung des fittlichen
Bewußtfeins befonders durch Jugenderziehung und
Selbfterziehung, unter Gewiffenskonflikten, unter Glauben
an die fittliche Freiheit und unter religiöfem Glauben an
Gott in Betracht zieht. Das Ganze ift fehr klar und gefchickt
gefchrieben, mit knapp gefaßter, aber doch fehr reichhaltiger
und gut geordneter Behandlung der praktifchen Probleme
Anfchauungen und Gefahren für den fittlich ftrebenden
Menfchen der Gegenwart. Der Verf. meint, wie er im
Vorwort fagt, daß das Buch insbefondere Lehrern nützen
kann, die Moralunterricht, fei es in Verbindung mit der
religiöfen Unterweifung oder felbftändig zu erteilen haben
Dazu ift das Buch in der Tat fehr geeignet.

Freilich daß in dem Buche die fittlichen Gewiffensforderungen
von ihrem tiefften Grunde aus verftanden find,
kann ich nicht zugeben. Die letzte Grundlage der eigenartigen
Autonomie beim fittlichen Wollen liegt doch nicht
in folchen Werturteilen, welche durch Erziehung und Überlieferung
und durch eigenes Nachdenken und Fühlen
gewonnen werden, fondern allein in dem angeborenen
Triebe, das Wollen und Handeln in Einklang mit dem
eigenen Wiffen zu fetzen, nicht mit einem Wiffen um
Werte, fondern mit einem Wiffen um Sachverhalte, um
bewußt gewordene, in der Erinnerung feftgehaltene Tatfachen
, aus denen beim praktifchen Willensverhalten die
richtigen Folgen gezogen werden füllen ohne Rücklicht

auf den dabei herauskommenden eigenen Schaden. Nur
fo entliehen die elementaren Gewiffensforderungen von
felbft im Bewußtfein des Kindes. Nur fo bildet fich für
den Menfchen ein unmittelbares fittliches Wertgefühl, von
dem aus dann alle anderen Werte erft in die fittliche
Beleuchtung gefetzt werden. Nur fo ergibt fich auch die
gewaltige Steigerung, welche das fittliche Pflichtgefühl
beim religiöfen Glauben gewinnen kann, nicht beim bloßen
Hören göttlicher Gebote, wohl aber beim Überzeugtfein
von göttlichen Wirkungen und Gaben. Ich habe diefe
pfychologifche Grundlage alles fittlichen Pflichtbewußt-
feins in meiner Schrift: ,Die fittliche Pflicht', 1916, darzulegen
gefucht. Natürlich hat fich mir jetzt beim Lefen
der fonft fo trefflichen .Sittenlehre' M.s immer wieder das
Bedauern darüber aufgedrängt, daß meine Ausführungen
dem Vf. ganz fremd geblieben find.

2. Die Schrift Hofmann's: ,Eigengefetz oder Pflichtgebot
?' ift beherrfcht durch Kants Prinzip der Autonomie
aller ethifchen Forderungen im Menfchen. Der Vf. möchte
diefes Prinzip nur zu vollfter Durchführung bringen. Er
vertritt eine rein individualiftifche Gefinnungsethik oder
,Perfönlichkeitsethik', die von der Überzeugung ausgeht,
,daß der individuelle Menfch in feiner ethifchen Befinnung
auf feinen eigenen innerften Willen alles finden und begründen
kann, was fein Urteil als echt ethifche oder gute
Regungen beftimmen muß' (S. IX).

Das, was den individuellen Gelinnungst'orderungen des Menfchen
ihren höchften idealen Normcharakter gibt, braucht nicht ein überindividuelles
Motiv zu fein, dem gegenüber der Individualitätscharakter ab-
geftreift werden müßte, fondern ift vielmehr das innerfte reale Wefen
des Individuums felbft, der eigentliche Kern feiner Perfönlichkeit. ,Diefer
innerfte Kern meines Willens, mein eigenfter und echtefter Wille, wird
nicht mehr als etwas Überindividuelles oder auch nur Nicht—mehr—
individuelles angefehen, fondern gerade als das Prinzip des realen be-
fonderen 'und individuellen Dafeins der Perfon' (S. 86). Man darf nicht
aus der eigenen Natur des Menfchen nur die rein felbftifchen Neigungen
herleiten, fondern muß gerade auch die fozialen Neigungen als im tieferen
Kern der menfchlichen Natur veranlagt erkennen. ,Liebe ift eine der
tiefften Tendenzen unferer Veranlagung' (S. 101).

Diefe Gedanken werden vom Vf. fehr feinfinnig erwogen
und klar ausgeführt. Die Hauptgedanken find derart, daß
auch der theologifche Ethiker von feinem religiöfen Standpunkte
aus wichtige Wahrheitsmomente in ihnen anerkennt.
Es fehlt m. Er. nur die rechte pfychologifche Erklärung
des fchnellen, ohne lange Überlegung erfolgenden Auf-
tretensderGewiffensforderung. Die fittlicheSelbftbefinnung,
die der Vf. zeichnet, ift gewiß ein innerer Prozeß im gereiften
fittlichen Individuum, aber nicht der elementare
Prozeß des erften Regewerdens des Gewiffens im Kinde
und auch nicht des fortdauernden apriorifchen Wirkfamwerdens
des Gewiffens in den Einzelfällen des Lebens.
In diefer Beziehung bedarf die Ausführung des Vf. der-
felben Ergänzung, wie ich fie oben für Meffer's .Sittenlehre
' gewünfcht habe.

3. V ilutsky will in feiner Schrift ,Die Liebe' etwas
ganz Neues zur wiffenlchaftlichen Grundlegung der Ethik
bringen. Er fühlt fich als Schöpfer, der in diefem Buche
zum erften Male die Tür zu einer neuen Kultur aufftößt.
Sein Neues ift, daß die Liebe das Göttliche ift und daß
in diefer Wahrheit die Richtigkeit der Religionslehre Chrifti
befteht. Liebe ift eine Naturkraft wie Elektrizität, aber
doch nicht eine wie andere Naturkräfte in der Fläche
liegende, fondern eine aus der Tiefe wirkende, deshalb
perfpektivifch anzufchauende Kraft. Es gibt 3 Kräfte der
Natur, die hintereinander in der Perfpektive flehen: Gefetz,
Schönheit und Güte. Tief im Räume der Güte fleht die
Liebe. .Weil die Liebe die reine Anfchauungsform a
priori der Religion ift, deshalb wird es nie mehr eine
andere Religion geben als die Religion der Liebe' (S. 35).
— Alle diefe .neuen' Gedanken werden pathetifch proklamiert
, aber nur ganz oberflächlich angedeutet, nicht
ernftlich durchgearbeitet. Es fehlt jede präzife Erläuterung
auch der wichtigften Begriffe. Und das foll .wiffenfchaftliche
Grundlegung der Ethik' fein.

Jena. ___ II. H. Wen dt