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Ausgabe:

1921

Spalte:

88-89

Autor/Hrsg.:

Farner, Oskar (Übers.)

Titel/Untertitel:

Huldrich Zwinglis Briefe. 2. Bd.: 1524 - 1526 1921

Rezensent:

Baur, August

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Theologifche Literaturzeitung 1921 Nr. 7/8.

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etc.), und es ift gar kein Zweifel, daß die beiden Männer
echte auguftinifche Gedanken vertreten. Auch das ift
garnicht zu beanftanden, daß Luther fich fehr oft ganz
ebenfo ausdrückt und gewiß von Auguftin direkt und
indirekt bei feiner Entwicklung zum Reformator beeinflußt
worden ift. Mir fcheint es letztlich ein Streit um Worte
zu fein, ob man behauptet, daß es im ganzen Mittelalter,
gerade auch noch zuletzt vor und neben Luther eine
.Auguftinusfchule' gegeben habe oder nur mehr oder
weniger ftarke, zufammenhängende Einwirkungen augufti-
nifcher Schriften, alfo eine in unbeftiminter Weife frei
fleh fortfetzende auguftinifche Tradition, fortdauernde
Befchäftigung der Theologen (vieler von ihnen) mit Auguftin.
Müller bringt wirklich ausreichende Zeugniflfe dafür bei,
daß zumal und gerade im Auguftinerorden fich Studium
des Auguftin erhalten gehabt, nicht am wenigften, vielmehr
recht deutlich bezüglich der Lehre von der Rechtfertigung
, und daß die Gedanken des großen Meifters
immer neu thetifch und antithetifch vertreten find. Freilich
foll man nicht denken, der Geift Auguftins habe wirklich
die Mafien erreicht. Auch unter den Theologen hat man
offenbar zu unterfcheiden zwifchen folchen, die Auguftin
bloß ,lafen' und als ,Gelehrte' kannten und benutzten,
andererfeits folchen, die fich ihm in perfönlicher Lebendigkeit
in ihrem eigentlichen religiöfen und fittlichen Empfinden
erfchloffen. Wie mir fcheint, unterfcheidet Müller
da nicht genug, achtet infonderheit nicht genug darauf,
in welcher Veranlaffung Auguftin zitiert oder fonft verwertet
wird. Es gibt doch auch eine äußerliche Art, von
Gedanken, ,Theorien' großer Meifter Gebrauch zu machen,
und ich habe den Eindruck, als ob Ordensinterefien als
folche auch im Spiele feien, wenn man nicht abließ, den
Auguftin zu lefen, geltend zu machen, im ,Streite' zu vertreten
, ferner daß noch erheblich mehr, als bisher gefchehen,
auseinander gehalten werden muffe, was ,Exegeten' und
was ,Dogmatiker' vertraten, bzw. welche Tragweite Er-
kenntniffe jener bei diefen gewonnen hatten. (In letzterer
Beziehung braucht Müller weniger zur Umficht gemahnt
zu werden, als mancher andere.)

Doch das alles ift mir nicht die Hauptlache. Vielmehr
dürfte es das Wichtigfte fein, zwifchen dem zu unterfcheiden
, was Luther, wo er auf Auguftin oder auguftinifche
Theologen traf, fchon wußte und was er da erftmals hörte
und fich aneignete, auch zwifchen dem, was ihm an Auguftin
auffiel und wichtig fchien und was Auguftin und die
Auguftiner ihrerfeits meinten; Luther hat fich der Beihilfe
Auguftins (und anderer) auch da gefreut, wo er bei ihm
(oder ihnen) nur in eingefchränkter Weife feine eigenen
Gedanken wiederfand, ja vielleicht nur Antriebe gewann,
weiter zu forfchen. Manches bei Auguftin (Tauler, dem
Frankfurter u. a.) hat ihm wohlgetan, ihn fympathifch berührt
, erbaut, bekräftigt, wo er nicht daran dachte fich
mit ihnen zu indentifizieren. Infoweit ift Luther ferner
lange, vielleicht ftets Scholaftiker geblieben, daß er das
Spezialthema, das er gerade hat (zumal als Exeget) fich
auch zur Begrenzung der Tragweite einer Thefe, die er
aufftellt, der Zuftimmung, die er äußert, gereichen läßt
und vom Exegeten feiner Schriften erwartet, daß er ihn
nicht weiter in Anfpruch nehme, als der .Moment', die
augenblickliche Veranlaffung, die darin ftillfchweigend mitliegende
Ablehnung für etwaige andere Zufammenhänge,
es geftatte. Dafür hat Müller durchaus Verftändnis, er ift
eben felbft genug .Scholaftiker' gewefen, um da richtigen In-
ftinkt bei Luther zu bewähren. Alfo ich begrüße da die
bei ihm vielfach zu Tage tretende Methode und ftreite
nur über einzelnes, oder meine, daß fie mehr Ertrag ergebe
, als er bemerkt. Manches Wort eines Auguftin und
anderer hat Luther fich in feinem Sinne angeeignet und
erwartet, daß man das berücksichtige. Ich meine, es fei
noch eine fehr verwickelte Arbeit, zu ermitteln, ,wie'Luther
andere Autoren, felbft die Bibel las und für fich fruchtbar
machte. Sehe ich recht, fo wird man mit der Möglichkeit
rechnen müffen, daß Luther viele Lektüre geübt, die

I wir aus den erhaltenen Dokumenten feiner Entwicklung
nicht erkennen, und auch manches, was ihm fchon einmal
I aufgeleuchtet, wieder vergaß oder im M o m e n t nicht gegen-
| wärtig hatte bzw. da nicht zu verwerten vermochte. Jedem
von uns Theologen geht es doch fo. Wir werden letztlich
| darauf aufmerkfam, daß es gilt zu fragen, welches eigent-
i lieh die Grundkonzeption war, die Luther zum Reformator
1 gemacht hat, und wie früh die anzufetzen fei. Das war
i nicht das ,Turmerlebnis'. Diefes ift nur eine Befreiung
j von letzten .exegetifchen' Bedenken gewefen. Auch die
wachfende Kenntnisnahme von Auguftin und verwandten
| Theologen hat ihm nur nebenher Dienfte getan. Das
j Entfcheidende war der ihm entftandene Mut, Gott in der
I lebendigen Intuition mit dem Chriftus in eins zu fetzen,
| den er in der Bibel vor fich fah. Nur daß er natürlich
nicht fogleich alle Konfequenzen überfah und im einzelnen
noch lange fich vonandernhatverwirrenlaffen. Lutheriftder
| erfte Theolog gewefen, dem das Dogma von der Gottheit
Chrifti mehr bedeutet hat als ein Geheimnis und eine, Voraus-
letzung' der Lehre von der gratia Dei. Darum hat er
auch (je länger, je völliger) vermocht, den Begriff der
gratia feinem Inhalte nach dem Banne zu entziehen, in dem
er auch bei Auguftin liegt. Denn ihm wird die Gnade
aus einem habitus und einer virtus an Gott rein zu dem
Merkmal des .Willens' d. i. des Herzens Gottes. Und
! von da aus wird ihm die ,remiffio' zum Ein und Alles
in der juftificatio. Das wunderliche Abwägen der Akte
Gottes einerfeits, der Menfchen andererfeits, (wobei die
I gratia völlig die Oberhand behalten kann: darüber ift
| und bleibt Streit zwifchen den .Auguftinern' und andern
j Theologen im Mittelalter), wird von da aus für Luther
gegenftandslos. Begreifiicherweife gewinnt der Gedanke
von der fides dann den integralen Charakter von fiducia,
entwickelt fich auch bei Luther die fublime Verfeinerung
der Idee von der coneupiscentia (fie tritt bei ihm
faft völlig auf die geiftige Seite: letzter und fchlimmfter
Inhalt des ,Begehrens' wird ihm die .Selbftgerechtigkeit',
der Wunfeh nach ,Verdienften' d. i. nach ,Ruhm vor
Gott'). Und noch manches andere kommt hinzu, worin
Luther nicht auf Auguftin reduzierbar ift (ob auch Einzel-
dikta bei diefem ihm entgegenkamen und ihn förderten).

Was ich an Widerfpruch gegen Müllers Auffaflung
von .Luthers Werdegang' andeute, beeinträchtigt nicht
den Dank, den feine Forfchung verdient. Denn allerdings,
Luther hat an den .Auguftinern' doch Wegebereiter gehabt
, die wir viel zu wenig gekannt haben. Es bleibt
Müllers Verdienft, gezeigt zu haben, daß es Brücken
zwifchen unbeanftandeter mittelalterlicher Theologie
und der Neuerung Luthers gegeben hat; erft das Tridenti-
I num hat eine Kluft befeftigt, wo noch Verftändigungs-
I möglichkeiten beftanden und zufammenhängende Entwicklung
hätte werden können, was nun nur als Bruch
fich auswirkt.

Halle. F: Kattenbufch.

Schulter, Prof. D. Hermann: Luther und die deutfehe Gegenwart.

(Volksfchriften zum Aufbau, Heft 10) (16 S.) 8". Berlin, Verl. des
Evang. Bundes 1920. M. — 70

Eine Volksfchrift im bellen Sinne des Wortes. Sie wird ihrer
Aufgabe vollkommen gerecht. Dem Verfaffer ift voll und ganz bei-
j zuftimmen, wenn er der Perfönlichkeit Luthers die größte Bedeutung
für den fittlichen und religiöfen Aufbau unferes Volkes zufchreibt. Mit
kosmopolitifchen und paziiiftifchen Ideen ift nicht zu helfen, allein die
geiftigen Kräfte der Reformation können den Materialismus unferer Zeit
überwinden. Es heißt die Gellalt des Reformators unferm Volk wieder
lieb und wert machen, das ift der belle Dien 11, den man ihm tun kann.
Wir wünfehen diefer Schrift die weitelle Verbreitung.

Alfeld. Schornbaum.

Huldrich Zwingiis Briefe. Überfetzt von Ffr. Lic. theoh
Oskar Farner. 2. Bd.: 1524—1526. (271 S.) kl. 8°.
Zürich, Rafcher & Cie 1921.
Den erften Band der vorliegenden Überfetzung der
Briefe Zwingli's habe ich in der Theol. Literaturzeitung 1919
Nr. 25/26 S. 298 angezeigt. Ich freue mich von Herzen,