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Ausgabe:

1921 Nr. 2

Spalte:

331-333

Autor/Hrsg.:

Girgensohn, Karl

Titel/Untertitel:

Der seelische Aufbau des religiösen Erlebens. Eine religionspsychologische Untersuchung auf experimenteller Grundlage 1921

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1921 Nr. 25/26.

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heit entbehrt. Es ift der nüchternfte und nackfefte Pofi-
tivismus einer reinen, die Elementarzufammenhänge zu
Grunde legenden Kaufalitätsforfchung. Die „fummarifchen
Überfichten" feien zumeift Schwindel, was nicht hindert,
daß doch auch Paul von inneren Zufammenhängen', ,zu
Grunde liegenden Tendenzen', geradliniger und durchbrochener
Entwickelung', von ,ewigen Werten und Giltig-
keiten' redet. Diefe zweite Begriffsgruppe gehört offenbar
einer anderen Dimenfion an als die erftgenannte, doch
fcheint fie oder daß ihr Verhältnis zu dem grundfätzlich
maßgebenden Kaufalismus der Einzelvorgänge dem Verf.
keine Probleme zu enthalten.

Berlin. Troeltfch.

Girgenfohn, Prof. D. Dr. Karl: Der feelilche Aufbau des

reÜgiöfen Erlebens. Eine religionspfycholog. Unter-

fuchung auf experimenteller Grundlage. (XII, 712 S.)

gr. 8°. Leipzig, S. Hirzel 1921.

M. 120—; geb. M. 135—
Das vorliegende Werk bezeichnet einen gewaltigen
Fortfehritt in dem Betriebe der Religionspfychologie.
Es ift ausgezeichnet durch die ftaunenswerte Energie, mit
der der Verf. fich neues Material verfchafft, durch die
Umficht, den Scharffinn und das kritifche Urteil, mit dem
er es bewältigt, und durch nicht wenige wichtige Ergeb-
niffe, die er erreicht und mit den ihm verfügbaren Mitteln
begründet und gefichert hat. Es führt die vor allem von
Oswald Külpe ausgebildete Methode einer experimentellen
Pfychologie in die Ergründung der feelifchen Zuftände
und Leiftungen auf dem Gebiete des religiöfen Lebens
ein. Doch ift der Verf. weit entfernt davon, fich einfeitig
auf die Anwendung diefer Methode zu befchränken. Vielmehr
vertritt er fie durchaus im Zufammenhang mit den
fchon bisher mit mehr oder weniger Erfolg geübten Methoden
der pfychologifchen Introfpektion und der Einfühlung
in fremdes Seelenleben, die dem Hiftoriker des
geiftigen Lebens vertraut ift. Mit dem namentlich von
amerikanifchen Pfychologen vertretenen aus der Statiftik
übernommenen Verfahren indiskreter Fragebogen hat
Girgenfohns experimentelle Methode nichts zu fchaffen.
Vielmehr hat er mit 13 Beobachtern (6 Männer und
7 Frauen), denen er felbft fich als vierzehnter anreiht
(vgl. S. 34 mit 349), zufammengearbeitet. Teils hat er
mit ihnen Gefpräche über wichtige religiöfe Gegenftände
geführt, teils Verfuche mit dem Denken religiöfer Gegenftände
mit ihnen vorgenommen. Vor allem hat er
ihnen 26 von ihm ausgewählte weniger bekannte Gedichte
religiöfer Färbung vorgelegt und fie unmittelbar nach
deren mehrfach wiederholter Lefung jedesmal berichten
laffen, welchen Eindruck ihnen jene Stoffe gemacht
und welche Gedanken, Gefühle, Regungen und Impulfe
fie unter diefem Eindruck gehabt haben. In den mündlichen
, die frifche Erinnerung des foeben Erlebten fixierenden
Bericht feiner Beobachter hat er als Verfuchs-
leiter mit gefchickten und durchweg diskreten Fragen
immer wieder eingegriffen und auf diefe Weife noch vieles
ermittelt, was der Beachtung der Verfuchsperfonen entgangen
und was deren Auifaffung und Urteil zu klären
geeignet war. Gleichzeitig hat er die Berichte und die
in fie verworbenen Unterredungen fchriftlich aufgezeichnet
und fo find die Protokolle entftanden, deren wichtigfte
Abfchnitte in feinem Buche mitgeteilt find und etwas
mehr als deffen Hälfte ausmachen.

Diefe Protokolle find das hauptfächliche Material,
mit dem der Verf. gearbeitet hat. Seine aus ihm gewonnenen
Ergebniffe hat er dann noch vergleichend gefichert
durch eine pfychologifche Unterfuchung von Be-
kenntniffen ekftatifcher Myftiker, von Auguftins Konfef-
fionen und von Wicherns Tagebuchblättern und Briefen.
Dazu kommt in den übrigen Teilen des Buches die Darlegung
der von dem Verf. auf Grund feines Materials vertretenen
pfychologifchen Anflehten in gründlicher Au.s-

einanderfetzung mit andern Pfychologen, befonders mit
Wundt.

Der Grenzen feiner experimentellen Methode ift fich der Verf. in
jeder Hinficht bewußt. In der Einleitung und in einer Schlußbetrachtung
ftellt er fie mit aller nur wünfehenswerten Gründlichkeit feft. Und
doch erhebt er den Anfpruch, daß fein Verfahren in wichtigen Stücken
die Leiftungsfähigkeit der anderen pfychologifchen Methoden überbiete
und daher die durch diefe gewonnenen Ergebniffe teils zu berichtigen
geeignet fei, teils pofitiv ergänze. In der Tat hat er die
namentlich von Wundt gegen die Ausführbarkeit pfychologifcher Experimente
erhobenen Einwände, foweit er fie nicht felbft als zutreffend
zugibt, zum guten Teil entkräftet. Daß dennoch auch io noch vieles
ungeklärt übrig bleibt und der wilfenfchaftlichen Erkenntnis wohl überhaupt
ftets unzugänglich fein wird, erkennt er ausdrücklich an. Künft-
lich laffen fich die eigentlichen religiöfen Ergebniffe eben doch niemals
herbeiführen und beobachten. Daher ift es auch nur ein mittelbares
Erkennen aus experimentell erreichbaren Reproduktionen eines fubjektiv
leligiölen Befitzcs feiner fei es typifchen, fei es individuellen Begleit-
erfcheiunngen, worauf es der Verf. abfieht. Indem er fich fo feine Aufgabe
eng begrenzt gedeckt und von vornherein darauf verzichtet hat,
dae religiöfe Leben in feinen primären innern Erfcheinungen an anderen
Perfonen zu beobachten, ift es dem Verf. möglich gewefen, ohne jegliche
Indiskretion oder methodidifche Zudringlichkeit der keufchen
Zartheit fremden feelifchen Lebens zu laffen, was ihr unbedingt zukommt
und was auch wiffenfehaftlicher Erforfchung fich verfchließt und
gar nicht preisgegeben werden kann, ohne geradezu in fein Gegenteil
umzufchlagen. Vietmehr id die taktvolle Zurückhaltung, mit der nach
dem gefamten Eindruck feiner Protokolle der Verf. in der Ausfprache
mit feinen Beobachtern durchweg verfahren id, in hohem" Grade anzuerkennen
. Hierin unterfcheidet er fich fehr zu feinem Gunden fo-
wohl von den Fragebogenpfychologen amerikanifchen Stile wie von der
Freudfchen Schule, deren Sclmüffelei nach fexuellen Motiven er jedenfalls
von der Pfychologie des religiöfen Erlebens als folchen mit
treffenden Nachweifungen abwehrt.

Kurz von feiten des Verf. aus betrachtet erfcheint feine experimentelle
Methode mindedens als durchaus unverfänglich. Andererfeits
aber macht auch das Verhalten feiner Verfuchsperfonen überwiegend
einen überaus gündigen Eindruck. Doch darf wohl auf einen Umdand
hingewiefen werden, den der Verf. vielleicht einer nachträglichen Prüfung
unterziehen dürfte. Ich habe den Eindruck, als ob, wohl infolge
der ganzen Situation, in die fie fich verletzt fahen, die Beobachter unwillkürlich
die ihnen vorgelegten Gedichte, die durchfehnittlich fowohl
poetifch als auch religiös nicht eben befonders hervorragende Leidungen
dardellen, viel zu wichtig genommen und zu viel darin finden zu follen
gemeint haben. So Rheinen durch diefe Stoffe von doch nur mittelmäßiger
Bedeutung zum Teil unverhältnismäßig darke Affekte und
allzu hoch greifende Betrachtungen ausgelöd worden zu fein. Darin
aber tritt eine gedeigerte Intenfität der künfilich herbeigeführten religiösen
Reproduktion hervor, von der es fraglich id, ob fie fich auch ein-
gedellt hätte, wenn diefelben Perfonen diefelben Gedichte ohne den fie
immerhin därker erregenden Apparat eines pfychologifchen Vcrfuchs
gelcfen hätten. Wieweit diefer Umdand etwa als Fehlerquelle zu wirken
geeignet id, wird der Verf. beffer als ich zu beurteilen imdandc fein.
Da es fich dabei jedoch mehr nur um quantitative als um qualitative
Verfchiebungen im Vergleich mit dem natürlichen religiöfen Erleben
handelt, Rheinen mir immerhin die wichtigden Ergebniffe für die
Struktur des religiöfen Erlebens, die der Verl. zugleich ja auch mit
Hilfe der übrigen pfychologifchen Methoden gewonnen hat, unter jenem
wefentlich nicht Sachverhalt gelitten zu haben. Nicht berührt durch diefen
aber werden die von dem Verf. mit feinen Helfern geführten felbdändigen
religiöfen Gefpräche. Doch meine ich, hätten folche Unterredungen auch
noch auf manche andere Gegendände, die zuweilen von den Beobachtern gelegentlich
berührt werden, wie zuweilen über die Dankbarkeit, die Ergebung
, die Demut, den Donnochglauben und ähnliche charakteridifch
religiöfe Zuftände und Leidungen ausgedehnt und für die plychologifche
Theorie truchtbar gemacht werden können.

Von den Ergebniffen des Verf.s können aus ihrer
reichen Fülle nur wenige grundlegende Ermittelungen kurz
zufammengefaßt werden. Die vielfach noch vertretene
mechaniftifche Afforiationspfychologie, die vor einigen
Jahrzehnten geradezu die Vorherrfchaft hatte, aber bereits
durch Wundts Lehre vor der Apperzeption ertchüttert
worden ift, wird als durchaus unzureichend zur Erklärung
des feelifchen Lebens erwiefen. Aber auch über Wundt,
der auf halbem Wege flehen geblieben ift, geht der Verf.
in der von Th. Lipps verfolgten Richtung hinaus, indem
er Ichfunktionen als die konftruktiven F-lemente in den
Erfcheinungen des pfychifchen Lebens kennen lehrt.
Zu den Organempfindungen als defien elementaren
Baufteinen nehmen fie eine dominierende Haltung ein.
Aus beiden Beftandteilen bauen fich die Luft- und Un-
luftgefühle. Doch erfchöpfen fich in diefen nicht die Gefühle
. Vielmehr ließen auch Gedanken Gefühle, wenn fie einen
geringen Bewußtfeinsgrad haben. So erfcheint im Unter-