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Ausgabe:

1921 Nr. 2

Spalte:

299-300

Autor/Hrsg.:

Dechent, Hermann

Titel/Untertitel:

Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation. 2. Bd 1921

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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299

Theologifche Literaturzeitung 1921 Nr. 23/24.

300

die kleinfte unter den fränkifchen Reichsftädten, fo entfaltete
fich hier doch ein charakteriftifches Eigenleben,
fo hat auch hier die Reformationsgefchichte einen eignen
Charakter aufzuweifen. Das zeigt fchon der Beginn. Das
glänzende kirchliche Leben am Ausgang des Mittelalters
entbehrt aller häßlichen Flecke, die fich fonft vielfach
zeigen. Dennoch führt gerade hier das Eindringen der
ev. Lehre zu ftürmifchen Szenen. Ein Zeichen, daß das
äußere Kirchentum das religiöfe Bedürfnis der Maffen
nicht befriedigen konnte. Die Stadt lehnte fich wohl vielfach
an Nürnberg an, aber oft genug bedurfte es aller Klugheit
der leitenden Perfönlichkeiten, um den rechten Weg
zu finden, um fo mehr, als die ev. Prediger durchaus keine
führenden Geifter waren. Das zeigte fich zur Zeit des
Bauernkrieges, zur Zeit, als die Wiedertäufer die ganze
Gegend mit ihren Gedanken erfüllten, das gilt vor allem
für die Zeit des Interims und des 2. markgräflichen Krieges.
Einen tiefen Einblick in das Leben und Treiben der kleinen
Stadt gibt uns die Schilderung der Verhandlungen Georg
Vogler's und feines Schwiegervaters Michael Bernbeck
mit dem Rat. Mit dem Religionsfrieden 1555 mündete
die ganze Bewegung in ruhige Bahnen ein; die Ablehnung
des Orthodoxismus 1577—1580 hat kaum befonders die
Gemüter in der Stadt befchäftigt. Die treffliche Arbeit
bietet am Schluffe noch wichtige Aktenftücke, wie die
Berichte Sebaftian Hagelfteins vom Augsburger Reichstag
1530, den Windsheimer Ratfchlag 1524, worauf befonders
aufmerkfam gemacht fei.

Alfeld. Schornbaum.

Dechent, Geh. Konf.-Rat, Pfr., D. Dr. Hermann: Kirchen-
gefchichte von Frankfurt a. M. feit der Reformation. 2.
Bd. (VIII, 588 S. u. 54 Abb.) gr. 8°. Frankfurt a. M,
Keffelring 1921. M. 36 —

Diefes Werk, deffen erfter Band 1913 erfchienen ift,
liegt nun vollendet vor. Es hat nicht bloß für Frankfurt
Wert und Bedeutung, fondern wird bei allen für Kirchen-
gefchichte und Kulturgefchichte intereffierten Gebildeten
lebhafte Freude und Teilnahme wecken. Es ift dem Ver-
faffer vortrefflich gelungen, mit einer unabfehbaren Fülle
wertvollen und vielfeitigen Stoffes anfchaulich und zufam-
menhängend darzulegen, wie auf dem begrenzten Boden
des felbftändigen Frankfurter Gemeinwefens alle wefent-
lichen Strömungen deutfchen Geifteslebens feit der Reformation
zur Auswirkung kommen und fich eigenartig
wiederfpiegeln. Dies beruht auf der geographifchen Lage
und gefchichtlichen Bedeutung Frankfurts und auf der
großen Anzahl der verfchiedenften hervorragenden Perfönlichkeiten
, die hier dauernd oder vorübergehend gewirkt
haben. Der vorliegende zweite Band beginnt mit der
Zeit des 30jährigen Krieges und behandelt dann die beiden
Jahrzehnte des Seniorats Speners (1666—1686), weiter den
durch innerkirchliche Kämpfe, die zweite Einwanderung
von Hugenotten und die Begründung des Konfiftoriums
gekennzeichneten Abfchnitt von 1686—1791, das allmähliche
Durchdringen des Pietismus (1731—1748), die Frankfurter
Goethezeit (1748—1773), den Einzug der Aufklärung
und der konfeffionellen Gleichberechtigung in Frankfurt
(T773—I790i den vollen Sieg der Aufklärung nebft den
durch die Saekularifation, die Herrfchaft Dalbergs und
die Freiheitskriege herbeigeführten Erfchütterungen und
Veränderungen (1791 —1815), die erfteZeit nach der Wieder-
herftellung der Selbftändigkeit Frankfurts mit den Ver-
faffungskämpfen, Unionsverfuchen und Anfängen des kirchlichen
Vereinslebens und modernen Schulwefens (1815—
1830), die Zeit von 1830—1848 mit der kirchlichen Dotation,
der Inneren Miffion, dem Guftav Adolf-Verein und der
deutfch-katholifchen Bewegung, und die letzte Zeit der
freien Stadt Frankfurt mit der Nationalverfammlung, den
politifchen und kirchlichen Fortfchrittsbewegungen, der
Verfaffung von 1857 una" dem Ende von Altfrankfurt
(1848—1866). Alle kirchlich, religiös und fittlich irgendwie
bedeutfamen Gefichtspunkte und Fragen find umfich-

tig in Rechnung gezogen. Überall find die Zuftände
nicht bloß der Lutheraner in Stadt und Land, fondern
auch der Reformierten, Katholiken, Freidenker, Sekten
und Israeliten berückfichtigt. Nicht nur die Theologen,
fondern auch die Laien kommen zu Wort und Geltung.
Glanzpunkte find die Abfchnitte über die Spenerzejt und
die Goethezeit. Treffende Lebens- und Charakterbilder
werden nicht bloß von Pfarrern und Kirchenmännern gezeichnet
, befonders von den Senioren, die, durch den Rat
meift von auswärts berufen und den verfchiedenften deutfchen
Landfchaften entflammend, namentlich im 17. und
18. Jahrhundert die geiftige Führung gehabt haben, fondern
ebenfö von andern hervorragenden Perfönlichkeiten,
z. B. vom Arzt Dr. Senkenberg, Senator von Meyer,
Fürftprimas von Dalberg und der ,fchönen Seele' Sufanne
von Klettenberg. In einem Anhang von 100 Seiten gibt
Dechent noch eine zufammenfaffende, gefchickte Überficht
über die Zeit von 1866 bis zur Gegenwart, wobei freilich
eine Reihe von Ungenauigkeiten oder Druckfehlern unterlaufen
find. Auch wären hier allerlei Ergänzungen, namentlich
aus den Synodalverhandlungen, zu wünfchen. —
Mehr als 50 gute Bilder, dazu eine Menge von wertvollen,
bisher meift unbekannten Notizen, Epigrammen, Verfen,
witzigen Worten, Litteraturangaben und kultur-hiftorifch
bedeutfamen Einzelzügen machen die Lektüre des mit
einzigartiger Sachkenntnis, weitherziger Befonnenheit und
leichtgefchürzter Anmut gefchriebenen Werkes zu einem
wirklichen Vergnügen. Weitere Forfchungen werden vielleicht
einzelnes in ein fchärferes oder anderes Licht rücken
und neuen Stoff heranfchaffen. Aber eine treffliche Grundlage
ift gelegt, ein einheitliches Gefamtbild gefchaffen.
Das Ganze ift die reife, willkommene und dankenswerte
Frucht 5ojähriger unermüdlicher wiffenfchaftlicher und
praktifcher Arbeit.

Frankfurt a. M. W. Bornemann.

Brandenburg, Prof. D. Erich: Die materialiftifche Ge-
fchichtsauffaffung. Ihr Wefen u. ihre Wandlungen
(66 S.) 8°. Leipzig, Quelle & Meyer 1920. M. 3 —
Die erweiterte Rektoratsrede Bs. bezieht fich auf das
für den Hiftoriker wichtigfte Problem der Unterbau-Überbau
-Lehre, gibt zunächft eine Darfteilung der Urheber
der fozialiftifchen Gefchichtstheorie, wobei er auf die phi-
lofophifchen Hintergründe abfichtlich weniger eingeht.
Hierfür darf ich auf meine Studien über den Begriff einer
hiftorifchen Dialektik Hift. Zeitfchr. 1919 verweifen. B.
legt vor allem Wert auf die von Anfang an beftehenden
Lücken in der Stringenz diefer Theorie und auf die Erweiterung
diefer Lücken bei den fpäteren fozialiftifchen
Theoretikern. Gleichzeitig zeigt er aber auch die Annäherung
der bürgerlichen' Hiftoriker an die Wahrheitsmo-
mente der Überbau-Lehre. Er ftellt abfchließend feft,
daß der Unterfchied heute gar nicht mehr fo fehr groß
fei, und wundert fich, daß die Einwirkung diefer Entwicklung
auf den Sozialismus praktifch fo fehr gering ift.
Es läßt fich das m. E. fehr wohl aus dem Klaffenkampf-
dogma erklären, das praktifch alles beherrfcht. Gäbe
m andie relative Selbftändigkeit des ideologifchen Überbaus
wirklich zu, dann müßte man die Arbeitsteilung
materieller und geiftiger Leiftung und der letzteren wieder
in fich, alfo die Differenzierung des Lebens und das
,Bildungsmonopol' der ,Geiftigen' zugeben. Aber gerade
das will man um keinen Preis, in diefer Hinficht foll die
von der bürgerlichen Epoche erreichte Arbeitsteilung
fchlechtweg rückgängig gemacht werden. Nur im Großbetrieb
und der materiellen Gütererzeugung wird fie als
Mittel der den Sozialismus bedingenden und allein möglich
machenden enormen Güterfteigerung feftgehalten.
Die Arbeit ift ausgezeichnet und äußerft lehrreich. Stammlers
.Überwindung des Marxismus' lehnt B. mit Recht
rundweg ab.

Berlin. Troeltfch.