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Ausgabe:

1921

Spalte:

259-262

Autor/Hrsg.:

Holl, Karl

Titel/Untertitel:

Die justitia Dei in der vorlutherischen Bibelauslegung des Abendlandes 1921

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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259

2Ö0

Marefch, Dr. Maria: Briefe der Katharina von Siena. Ausgewählt,
überfetzt und eingeleitet. (153 S.) 8U. M.-Gladbach, Volksvereins-
Verlag 1021. M. 15 —
Auch diefes Heft, das 29. in der Reihe der ,Führer des Volks',
Sammlung von Zeit- und Lebensbildern des M.-Gladbacher Volksvereins,
hat zum Ziel, ein altes Heiligenbild dem Verftändnis der Gegenwart
nahezubringen. Die einleitende Abhandlung und die kurzen erklärenden
Worte vor den einzelnen Abfchnitten der Briefe zeigen das aufs deut-
lichfte. Die ausgewählten Briefe und Kapitel aus dem Dialog geben in
der Tat ein lebendiges Bild der leidenfchaftlichen Heiligen, ihrer myfti-
fchen Glut und ihrer politifchen Tätigkeit. Wenn man Worte lieft wie
die (S. 41): ,Seid ein wahrer Bräutigam der Wahrheit. Tauchet unter
im Blute Chrifti des Gekreuzigten, badet Euch im Blute, beraufchet Euch
im Blute, fättiget Euch im Blute, kleidet Euch im Blute', wenn man
andererfeits mitten unter den heißen religiöfen Mahnungen Ratfchläge von
außerordentlicher politifcher Klugheit in vielen der Briefe lieft, dann
kann man den Unterfchied des Charakters und der Zeitlage fühlen, der
zwifchen Katharina v. Siena und Franz v. Alfifi befteht. Einzelne
Partien, befonders der letzte Brief an Urban VI. (S. 138 ff.), können der
Form nach faft an Nietzfche-Zarathuftra erinnern.

Stuttgart. Ed. Lempp.

Müller, A. V.: Una fönte ignota del sistema di Luthero (Ii

beato Fidati da Cascia e la sua teologia). Quadernl

di Bilychnis N. 2. 1921. -
Holl, K: Die justitia Dei in der vorlutherifchen Bibelauslegung

des Abendlandes. (Harnack-Feftgabe, 1921, S. 73—92).
Müller fährt unermüdlich fort, dem Auguftinismus
im Mittelalter nachzuforfchen, Beweife beizubringen, daß
es da dauernd eine ,Auguftinusfchule' gegeben habe, Luther
von ihr beeinflußt, ja in feiner Entwicklung zum Reformator
maßgebend beftimmt worden fei. Wieder kann
ich auf einen wertvollen Auffatz von ihm hinweifen, der
(wie fchon zwei frühere, der über Fayaroni, 1914, und
der überPerez, 1920) in der Bilychnis erfchienen ift.

Die neue Studie gilt dem italienifchen Auguftiner
Simone Fidati da Cascia, geft. 1348, seliggefprochen
durch Gregor XVI, 1833; fie berührt in der Kürze auch
deffen Lehrer Fra Angelo di Clareno (oder da Cignoli-
den er zeitlebens befonders hochhielt und deffen Schrif,
ten er zu erhalten fuchte (eine derfelben, das Breviloquium
ift in der Monographie über Fidati von Mattioli, Rom
1898, zum Drucke gebracht; Müller gibt S. 46 fr. Proben
daraus). Ich will fogleich fagen, daß ich M.'s Nachweife,
über Fidati wichtiger und bedeutfamer finde, als die früheren
über Favaroni und Perez. Ich befprach diefe in
ThLtzg. 1921 N. 7/8, nicht etwa ablehnend, fondern
nur in ihren Schlußfolgerungen in Hinficht von Luther
.begrenzend. M. ift mit mir nicht zufrieden, S. iof., er
bleibt dabei, in Luther nur auch einen Adepten der Au-
guftinusfchule zu fehen, und hält mir Argumente vor, die
ich gern auf mich habe wirken laffen. M. ftreitet in der neu-
eften Studie durchaus würdig und ruhig. In der Tat ift
die Streitfache von der Art, daß fie sine ira et studio behandelt
werden muß. Sie ift nicht rafch zu erledigen.
In der Entdeckerfreude, die ihm zufteht, ift M. geneigt,
feine Nachweife für jeden überzeugend zu erachten. Was
er über Fidati beibringt, hat den doppelten Vorzug vor
anderm früher befchafften Material, daß es einmal reichlicher
und in fich felbft (durch Klarheit) tragfähiger ift,
fodann aber mit mehr Wahrfcheinlichkeit in Verbindung
mit Luther gebracht werden kann. Fidati fcheint durchaus
Biblizift gewelen zu fein. M. nennt von ihm ein Hauptwerk
, das zum Teil unter dem Titel De gestis Domini
Salvatoris überliefert fei, zum Teil Super totum corpus
evangeliorum oder auch De religione christiana heiße und
in 15 Bücher zerfalle. Unter zufammenfaffenden Gefichts-
punkten aus den Evangelien Kapitel bildend, fcheint es
eine Art .Leben Jefu' darzuftellen, überall bemüht parä-
netifch zu fein: Fidati ift nicht Scholaftiker, fondern Af ke-
tiker; er will religiös wirken, erbauen. Diefes Werk ift
1480 und 1485 in Straßburg gedruckt, dann noch einmal
1517. Es ift wirklich gar nicht unglaublich, daß Luther
es kennen gelernt hat. M. meint, es werde zumal in den
Auguftinerklöftern verbreitet gewefen, von den einzelnen
Mönchen für fich gelefen, oder auch vielleicht bei den
gemeinfamen Mahlzeiten vorgelefen fein. Das ift keine

unerlaubte, haltlos fchweifende .Phantafie'. Beweifen kann
man es nicht. Aber wenn in fo kurzen Abftänden drei
Auflagen in Deutfchland erfchienen find, wird das Werk
wohl auch in Deutfchand viel gelefen fein. Und wir
dürfen wirklich nicht meinen, daß wir alle Lektüre kennten,
die Luther getrieben hat. Luther zitiert ja ganz feiten
mit Namen und Titeln die Bücher, die feine Studien beeinflußt
haben, denen er zu danken habe oder die er bekämpfe
. Das ift der Charakter der ganzen Zeit. Auch
Fidati .zitiert' nicht, wie M. bemerkt. So weiß man nicht,
in welchen Umfange er original ift. Schade, daß wir
beinahe gar nicht mehr von den Büchern Kunde haben,
die zu der Erfurter Univerfität oder den Erfurter Klöftern
gehörten, (Scheel, M. Luther2 I, S. 163 u. ö.)

Was in der Sache die Theologie des Fidati und die
Berührungen zwifchen ihr und derjenigen Luthers betrifft,
fo ift mir alsbald fehr interelfant gewefen, was M. in einem
Eingangskapitel unter der Überfchrift ,La metodologia',
S. iöff., beibringt. Hier kann man wirklich zum Teil
faft im Wortlaut in Luther'fchen Sätzen Fidati'lche Anklänge
hören. Luthers fehr früh einfetzende Ablehnung
der Philolophie, feine Abneigung gegen Ariftoteles, feine
Betonung der Unfähigkeit der Vernunft, Gott und göttliche
Dinge zu verliehen, fein Pochen auf den Glauben und
deffen unbedingten Supranaturalismus, das alles hat bei
Fidati Parallelen, an denen man nicht ohne weiteres vorbeikommt
. Der Ton der Polemik ift bei Luther und
Fidati der gleiche, bei beiden dasfelbe .Schelten' auf die
superbia der ratio, diefelbe Ablehnung der ,ZweifeIfucht'
der Scholaftiker, des ewigen ,utrum' bei ihnen, der
Streit gegen die leeren syllogismi. Weder bei Luther
noch bei Fidati handelt es fich um die .doppelte Wahrheit',
die ja gerade ein ideelles ,Recht' der Philofophie vorausfetzt
: Fidati lehnt nicht anders als Luther alle Meta-
phyfik abl Nur der heil. Geift, nur die .Gnade' hat
die Theologie zu beftimmen. Der .Chrift', die scientia
christiana tritt vor Unbegreiflichkeiten, aus denen der Seele
ganz was anderes als Skrupel, reine bloße Ehrfurcht entflieht
. In Luthers Stellung zur Philofophie liegt wohl in
höherem Maße ein hiftorifches Problem vor, als wir bisher
gedacht haben. Steht Fidati einfam da in feiner Zeit
und Luther in feiner? Wäre Luther fpäter als der Fall
ift ein Gegner des .Ariftoteles' und der ratio nasuta geworden
, fo wäre es leichter fich ihn dabei als .Original'
vorzuftellen. Vorerft gebe ich M.'s Mutmaßung (ich fage
nicht ohne weiteres: Nachweilung), daß Luther von Fidati,
fpeziell ihm, da maßgebende Eindrücke gewonnen habe,
Raum.

Im übrigen zeigt M. den Fidati als treuen rechten
Schüler Auguftins in der Heilslehre. Er bringt Zitate
von kräftiger, unzweideudiger Prägung, wobei Überein-
ftimmungen mit Luther nicht zu verkennen find. So über
die Buße, das neue Leben, den Glauben, Natur und Gnade,
Rechtfertigung und Werke, dauernde Unzulänglichkeit der
letzteren, Erbarmen Gottes, Gerechtigkeit nur in Chrifto,
Chriftus als ,gallina:, als einzige ,petra', u. a. Aber das
eigentliche Problem Luther und der Auguftinismus liegt
minder einfach, als M. erkennt. Ich habe oben mit M.'s
Studie zugleich die von Holl, die A. v. Harnack gewidmet
ift, verzeichnet, weil fie vielleich am ficherften oder kür-
zeften M. vor Augen ftellen kann, daß und wiefern er
feine Beobachtungen, fo wichtig und wertvoll fie bleiben,
überfchätzt.

Holl hat fich ein großes Verdienft dadurch erworben, daß er die
von Denifle zufammengeftellten Erklärungen von Rom. 1,17, bzw. der
Begriffe justitia Dei und justificatio, die im Abendlande feit dem Am-
brofiafter und Auguftin (bis in Luthers Zeit) vorgetragen worden
fystematifch verarbeitet und in eine Ordnung gebracht hat, in
der man fleht, wie fie unter fich zufammenhängcn und eine Entwicklung
darfteilen, in der es nicht an Gegenfätzlichkeiten fehlt und die doch
eben .katholifch' bleibt. Denifle felbft war unfähig, das von ihm fo
fleißig und gelehrt gefammelte Material wirklich als Hiftoriker zu verarbeiten
. M.'s Forfchungen nach dem mittelalterlichen Auguftinismus
(Denifle verkannte ja keineswegs die Fortwirkung gerade auch der
Gedanken Auguftins) haben eine breitere Bafis als Denifles, infofern als