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Ausgabe:

1921 Nr. 1

Spalte:

209-210

Autor/Hrsg.:

Bauer, Karl

Titel/Untertitel:

Die Beziehungen Calvins zu Frankfurt a. M 1921

Rezensent:

Bornemann, Wilhelm

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Seite 1

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209

Theologifche Literaturzeitung 1921 Nr. 17/18.

210

Bauer, Privatdozent Lic. Karl: Die Beziehungen Calvins

zu Frankfurt a. M. (Schriften des Vereins f. Refor-
mationsgefchichte 38.Jhrg. Nr. 133) (76S.) 8°. Leipzig,
M. Heinsius Nfl. in Komm. (Für Mitglieder durch
Rud. Haupt, Halle a. S.) M. 6 —

Dies Thema ift bereits früher von Fresenius, Henry,
Schröder, Ebrard; von mir und von dem bei Bauer nicht
gewürdigten und nur gelegentlich genannten Dechent behandelt
worden. Bauer hat das einlchlägige Material
vollftändiger als alle feine Vorgänger und, foweit ich beurteilen
kann, lückenlos gefammelt und in einer fehr anregenden
und lesbaren Darftellung wiedergegeben. Leider
kann ich ihm in zwei von ihm vertretenen, neuen Ge-
fichtspunkten nicht zuftimmen.

Erdens in dem Urteil über Poullain, den erden Pfarrer der fran-
zöfifch-reformierten Gemeinde (1554—1556)1 der nacb fortdauernden,
wechselnden Streitigkeiten endlich durch ein Schiedsgericht unter dem
Vorlitz Calvins zwar von den schwerden, gegen ihn erhobenen Anschuldigungen
freigefprochen, aber zugleich zur Amtsniederlegung genötigt
wurde. Bauer urteilt: ,dem Frieden der Gemeinde opferte Calvin ebenso
schonungslos verdiente Männer wie Poullain und Houbraque, ohne
lange zu fragen(I), ob sie nicht etwas besseres verdient hätten.' (S. 75.)
Er redet von .Mißgriffen' und .ungerechtem Urteil' (S. 75), von einer
.verfehlten kirchcnpolitifchen Weisheit, um des Friedens willen einen
verdienten Pfarrer einigen auflässigen Elementen zu opfern, datt ihm
einen Rückhalt zu geben' (S. 55). Diese Urteile fallen umsomehr auf,
als Bauer hinlichtlicht der lutherifchen Pfarrer die einfeitige Dar-
dellung Calvins sich redlos aneignet und durch seine hinzugefügten Bemerkungen
noch vcrfchärlt. Demgegenüber id nach Bauers eigner Dar-
dellung fedzudellen, daß Calvin, dem Poullain feit etwa einem Jahrzehnt
bekannt war und mehr als einmal zu ernden freundfehaftlichen Wam-
und Mahnungen Anlaß gegeben hatte, (S 14—16. 43) die ganze Angelegenheit
mit größter Vorficht, Sorgfalt und Schonung behandelte und
fo daß er perfönlich die Entfcheidung des Schiedsgerichts eigentlich
viel zu milde fand. (S. 49.) Mit Calvins durchgängiger und fleh gleichbleibender
Beurteilung Poullains dimmtn Mykonius (S. 14) und viele
andere (S. 43) überein, ja eigentlich — Bauer felbd. Denn nach feiner
eigenen Charakteridik der Wirksamkeit Poullains S. 40 f. id die Entfernung
Poullains doch eine Notwendigkeit gewefen. Man lefe nur fämt-
liche Briefe Calvins unbefangen, insbefondere gleich die erden über die
Verlobungsangelegenheit, auf die Bauer felbd hinweid (S. 13), ohne fte
im Wortlaut wiederzugeben. Dann wird man Bauers Behauptung,
Calvin habe mit der ganzen Verdändnislofigkeit eines Junggefellen in
Herzensangelegenheiten ihm wenig Gerechtigkeit widerfahren laifen,
(S. 13) ohne weiteres ablehnen, zumal Calvin 1547 nicht Junggefelle,
fondern feit 7 Jahren Ehemann war. Man wird die Entfcheidung des
Schiedsgerichts verdehen und billigen.

Wichtiger ift der zweite Punkt, in dem ich Bauer
widerfprechen muß, in dem aber diefer nach Einleitung,
Schlußwort und fonftiger Darfteilung anfeheinend den
bedeutendften Fortfehritt feiner Arbeit fieht. Bauer ftellt
es nämlich fo dar, als habe Calvin ,im Intereffe der Weltaufgabe
des Proteftantismus' die Abficht verfolgt, daß
.Frankfurt auf feine Anfchauungen und Pläne einginge',
'fich Calvin anfehlöffe', ,für den Calvinismus gewonnen
würde' weil ,von Frankfurt aus der reformierte Gelämt-
proteft'antismus in Deutfchland vordringen konnte.' (S. 2 f.
71. 74). Er fpricht davon, daß freilich 1539 und in den
vierziger Jahren für Calvin ,die Zeit noch nicht gekommen
gewefen fei, auf feine Eindrücke von einzelnen (Frankfurter
) Perfönlichkeiten Pläne für die Zukunft zu bauen',
und davon, daß Calvin bei feiner Reife nach Frankfurt
Pläne gehabt habe, eine Union in der Stadt anzubahnen.'
(S. 9. 34): In den Jahren 1554 und- 1555 hätte es nach
der Haltung des Rates ,den Anfchein gewonnen, als ob
Frankfurt zu den Städten zähle, die auf der Seite des
Genfer Reformators ftanden' (S. 12). Das Ergebnis faßt
er deshalb auch dahin zufammen, daß die .Hoffnungen,
die Calvin für den Fortgang feines Unionsproteftantismus
gerade auf diefe Stadt gefetzt habe, erfolglos geblieben
feien' (S. 71). E>»? klingt alles fehr fchön, ift aber mindeftens
eine ungeheure Übertreibung und findet bei Calvin felbft
nicht den leifeften deutlichen Anhalt. Nur befondere
Zwecke, aber nicht planvolle kirchenpolitifche Erwägungen
haben Calvin nach Frankfurt geführt: 1539 die Hoffnung,
bei dem Fürftentage für die Evangelifchen Frankreichs
Hülfe zu finden; 1556 die Schlichtung der Schwierigkeiten
in der franzöfifchen Gemeinde, für die er als bedeutendfter
Sachverftändiger in Betracht kam, und daneben der Ver-

fuch, die lutherifchen Pfarrer in dem entftandenen Abend-
mahlsftreit zur Vorficht und zur Verftändigung mit ihm
zu veranlaffen. Auch fämtliche von Calvin in, nach oder
über Frankfurt gefchriebenen Briefe, auch die an den
Rat und an die ihm befreundeten Herren von Glauburg,
find nicht von Calvins planvoller Initiative, fondern von
ganz konkreten Anläffen hervorgerufen, — z. B. abge-
fehen von den fchon erwähnten wichtigeren Fragen durch
die Leichenpredigt Hartmann Beyers, durch die Tatfache
, daß Servets Schriften auf der Frankfurter Meffe
vertrieben werden follten, daß Streitfchriften gegen
die Abendmahlslehre Calvins in Frankfurt gedruckt waren,
ufw. Calvin hat feine Korrespondenz über und mit Frankfurt
nur foweit fortgeführt, als diefe befonderen Probleme
ihm es notwendig Rheinen ließen, und in dem Wortlaut
diefer fämtlichen Briefe ift keine Andeutung davon, daß
ihm die Stadt Frankfurt im Zufammenhang feiner Kirchenpolitik
befonders wichtig oder befonders ausfichtsreich
gewefen wäre. Die Beziehungen zu den Glauburgs hat
er jahrelang ruhen laffen, (S. 74). Den Frankfurter Rat,
den er in der damals üblichen Weife zu ehren und gün-
ftig zu ftimmen verfuchte, und von dem er in der üblichen
Weife wieder geehrt wurde, hat er auf den Dank
für das Ehrengefchenk 5 Monate warten laffen (S. 21 f),
und diefer hat Calvins Antwort einfach zu den Akten
genommen. (S. 26). Die Mitteilungen über die Geltung
Calvins bei den Ratsherren (S. 29) würden eine größere
Bedeutung haben, wenn fie nicht von Poullain, fondern
von Glauburg flammten. Nach alledem ift Bauers Hypo-
thefe fchwerlich haltbar.

Indem ich noch bemerke, daß S. 5 Anm. 2 in elfter
Linie Dechent zu nennen war, daß Calvins Brief wegen
Servet (S. 11) in dem von Bauer erwähnten Frankfurter
Kirchenkalender 1918 von mir nicht nur erwähnt, fondern
auch S. 24 abgedruckt ift, empfehle ich Bauers Schrift
zu gründlichem Studium. Auf das S. 15 Anm. 1, in Ausficht
geftellte Buch bin ich gefpannt.

Frankfurt, a. M. W. Bornemann.

Haeckel, Ernft: Entwicklungsgeschichte einer Jugend. Briefe
an die Eltern 1852/6. (VIII, 216; 1 Bild.) 8". Leipzig,
K. F. Koehler 1921. M. 30.— ; geb. M. 40.—

Bei dem rückhaltlofen Vertrauen, das Ernft Haeckel
mit feinen Eltern verband, gewähren feine an diefe
während der Würzburger Studienjahre gerichteten Briefe
einen vollen Pdnblick in die Entwicklung feiner Perfön-
lichkeit, feiner beruflichen uiMwiffenfchaftlichen Neigungen
und Pläne, fowie feiner Weltanfchauung. Der die ganze
Studienzeit durchziehende innere Kampf um den Lebensberuf
führt den von vornherein mehr für die Botanik und
Zoologie, als für die Heilkunde intereffierten Studiofus der
Medizin zu dem Entfchluffe, das begonnene Studium
zwar zu Ende zu führen, als eigentliche Lebensaufgabe
aber die wiffenfehaftliche Zoologie zu erwählen. Für
uns ift es von befonderem Intereffe, die zahlreichen und
I eingehenden Äußerungen diefer Briefe über Haeckels
damalige Stellung zur Religion zu verfolgen. Es wird
überrafchen, daß der fpätere Monift in feinen medizi-
nifchen Studienjahren eifrig die Kirche befucht. Er fleht
offenbar noch unter den Nachwirkungen feines eine freifinnige
Frömmigkeit pflegenden, den proteftanten- vereinlichen
Kreifen des .Berliner Unionsvereins' naheftehenden
Elternhaufes. Sein Widerwille gegen ,die unwahre Schein-
religion' der kath. Kirche, den Ultramontanismus und
befonders die Jefuiten, wie feine Abneigung gegen ,das
heuchlerifche Frömmelwefen unferer pietiftifchen Orthodoxie
' werden durch feine Würzburger Erfahrungen noch
verftärkt. Allmählich fetzt dann unter der Einwirkung
feiner Studien und dem Einfluß feiner Freunde und
Lehrer (Virchow! deffen Affiftent H. 1856 war) der
Kampf um die Weltanfchauung ein. Haeckel hat ihn
eifrig und ehrlich gekämpft. Er ift entfetzt über den Materialismus
: ,wenn ich nicht die feftefte Überzeugung von einer von