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Ausgabe: | 1920 |
Spalte: | 40-41 |
Kategorie: | Naturwissenschaft und Theologie |
Autor/Hrsg.: | Rösermüller, Rudolf |
Titel/Untertitel: | Gesunder Naturtrieb oder Theologische Bevormundung in der Geschlechtsliebe? Kritische Gedanken und Betrachtungen 1920 |
Rezensent: | Titius, Arthur |
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Theologikhe Literaturzeitung 1920 Nr. 3/4.
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Sexualethifches.
Rohdens Buch1, veranlaßt durch den Zentral-
Ausfchuß für Innere Miffion, foll vornehmlich den Vertretern
der Kirche und Schule die nötige Sachkunde,
vor allem grundfätzlicher Art vermitteln und entledigt
fich diefer Aufgabe in fehr anerkennenswerter Weife,
mit großem Freimut und weitem Gefichtskreis. Das
Natürliche faßt R. mit Schleiermacher und Goethe als
Überhöhung der Natur, das Sittliche als geiftgewordene
Natur (vgl. befonders S. 41. 76. 86. 130), ohne doch die
Irrationalität des finnlich-fittlichen Lebenzprozeffes mit
feinen großen Spannungen und feiner Disharmonie verdecken
zu wollen (88 ff). Befonders der Mann bekommt
diefe innere Entzweiung zu fpüren, während das Wefen
der Frau, weil urfprünglicher, einheitlicher ift, in der
Schamhaftigkeit wie in der Mutterliebe eine inftinktive
Verfchmelzung des Naturhaften und Sittlichen zeigt und
in feinem gefamten fexuellen feelifchen Sinn und Fühlen
noch viel ausgefprochener monogamifch veranlagt ift
als das des Mannes (47 f. 5 5 f. 88). In Reinheit und Treue
behauptet edle Weiblichkeit lediglich lieh felbft; das
Haus (mit Pflege und Erziehung des Kindes) ift die
große Kulturleiftung der Frau (51. 60). Von der Ge-
fchlechtsgemeinfchaft geht alle kulturelle wie fittliche
Entwicklung der Menfchheit aus (S. 87); demnach ift die
Monogamie Grundform und Quelle zugleich aller fozia-
len Sittlichkeit (56) und fomit als Krone für jede Neuordnung
der Verhältniffe zu verwenden. Aber allerdings
kann in Anbetracht der wirklichen Verhältniffe
(vgl. S. 62, wo aber die beigebrachte Verhältniszahl
fehlerhaft fein muß) die gefellfchaftliche Ordnung nicht
fo eingerichtet bleiben, als gäbe es rechtmäßigerweife
nur verheiratete Erwachfene! . Die Reformgedanken bewegen
fich in der Richtung forgfältiger Erziehung der
Jugend zu Selbftändigkeit und Selbft/.ucht, ftufenweifen
Abbaus der Proftitution, Förderung der Ehefchließungen
und des Wohnungswefens, Geftaltung des ehelichen Ver-
hältniffes als eines lolchen vollendeter Ebenbürtigkeit beider
Gefchlechter und vor allem des Pflichtgefühls gegenüber
den kommenden Gefchlechtern. Der obligatorifche Aus-
taufch von Gefundheitszeugniffen vor dem Plhefchluß
wird befürwortet, ebenfo ein .freundlicherer' Schutz des
unehelichen Kindes. Bei aller Würdigung der gefell-
fchaftlichen Beziehung der Ehe, wodurch diefer erft volle
innere Sicherheit zuwächft (74. 102 ff. 124), fällt doch
auch ein freundliches Licht auf das ,Verhältnis', das ,oft
eine gemütvolle geheime Ehe darfteilen mag' (99). Doch
bleibt ledige Mutterfchaft wie Vaterfchaft eine Schuld
(112). -
Als Vorfitzender des deutfehen Auslchuffes für den
mathematifchen und naturwiffenfchaftlichen Unterricht
hat der Mathematiker Timerding2 das wichtigfte Material
für den Ausbau der Sexualethik (auch das juri-
ftifche und medizinifche) zufammengeftellt und vorurteilsfrei
, aber behutfam zu den Problemen Stellung genommen
. Gegenüber dem ethifchen Naturalismus ftellt er
feit, daß die Naturwiffenfchaft nie Grundfätze für das
ethifche Handeln, fondern nur Mittel zu feiner wirkungsvollen
Geftaltung liefern kann, und daß, was wir auf
ethifchem Gebiet .natürlich' nennen, felbft erft das Erzeugnis
einer langen Kulturentwicklung, mithin ein Kulturideal
ift, das Ideal ,möglichfter Übereinftimmung der
menfehlichen Handlungsweife mit dem natürlichen Verlauf
der Dinge' (S. 26ff). Ohne den Wert auch der in-
dividuell-ethifchen Gefichtspunkte für die Würdigung der
fexualethifchen Probleme in Abrede ftellen zu wollen,
glaubt er doch, daß fich abfchließende Urteile nur von
1) Rohden, D. Dr. G. v.: Sexualethik. (XV, 171 S.) 8°. Leipzig
, Quelle & Meyer 1918. 4.20; Pappbd. 5 —
2) Timerding, Prof. Dr. H. E.: Sexualethik. (Aus Natur
und Geifteswelt, 592. Bd.) (120 S.) kl. 8U. Leipzig, B. G. Teubner
1919. M. 1.60
der Leitidee der Wohlfahrt der Gefamtheit gewinnen
laffen. Er verkennt indes nicht, daß die ,gute Sitte' aut
fexuellem Gebiet ganz wefentlich durch die geltende
Religion beeinflußt ift, und möchte in diefen religiös-
ethifchen Grundfätzen einen ,Kern innerlicher Wahrheit'
anerkennen. Das ihm vor fchweb ende Ideal ift wefentlich
das der proteftantifchen Sittlichkeit. Die monogamifche
Ehe entfpricht eben doch auch den fozialen und wirt-
fchaftlichen Bedingungen der höchft entwickelten Gefell-
fchaft. Auch fammeln fich alle hochftrebenden Kräfte
des Mannes unter dem Einfluß echter Weiblichkeit.
Immer wird die ohne Mann lebende Mutter dem feft-
gefügten Organismus der Familie gegenüber im Nachteil
fein. Doch follte auch die ledige Frau die Freiheit
haben, ein Kind zur Welt zu bringen und aufzuziehen,
ohne daß deshalb ein fittlicher Makel auf fie iällt (S. 72).
Das Kind ift zu fchützen und alle dahin zielenden Be-
ftrebungen des Mutterfchutzes find zu billigen. Begün-
ftigung der Ehefchließung aber auch Ermöglichung der
Scheidung ohne PVftftellung einer Schuld find zu fordern
. Die Ehe ift als geiftige Gemeinfchalt zwifchen
Gleichwertigen zu geftalten, aber die Ruhe und Sicherheit
des geordneten eigenen Heims mit lebendiger Anteilnahme
an der Gefamtheit und ihren Kulturgütern zu
verbinden. Eine Gefundung des Gefchlechtslebens ift
nur von der fittlich-religiöfen Hebung des Volkes zu erwarten
, bei der auch die Sexualpädagogik eine wichtige
Rolle zu übernehmen hat. Dabei ift die Heiligkeit der
Ehe zu betonen, aber die bloße Gefühlsromantik zu bekämpfen
. Verltändnis des fexuellen Lebens ift (unter
Heranziehung biologifcher und medizinifcher Gefichtspunkte
) zu erftreben, zugleich das Verantwortlichkeitsgefühl
zu vertiefen. Sexualpädagogifche Lehrgänge für
die Lehre, Elternabende und namentlich Sprechftunden
für die Eitern find einzurichten. Diefe Vorfchhige wie
die ganze Schrift verdienen alle Beachtung. Nicht zu-
ftimmen kann ich der allerdings nur im Vorbeigehen
gemachten Konzeffion an die ledige Frau, ein Kind zur
Welt zu bringen, ohne daß fie ein Makel trifft. Denn
weder kann die vorangehende gefchlechtliche Verbindung
als etwas für ihr Innenleben und für ihr Würde
irrelevantes, noch die Abficht nachfolgender Pflege und
Erziehung des Kindes ohne Vater als fittliches Wollen
angefehen werden. Durch diefe Beurteilung der Handlung
felbft kann natürlich über den fittlichen Wert der
unehelichen Mutter, der fich ganz nach der Perfon und
ihrem innern Gehalte richten wird, noch nicht entfehie-
den fein. Bemerkt fei übrigens, daß die Auffaffung, als
beurteile das ,Urchriftentum' die Ehe als .notwendiges
Übel' (S. 90), fich gegenüber 1 Tim 2,15. 4,3. 5,14 nicht
halten läßt. Bei den Ausfagen über denUrzuftand dürfte
es zweckmäßig fein, auf Wundts völkerpfychologifche
Unterfuchung des Primitiven und feine triftige Beftrei-
tung der Theorie der Promiskuität Bezug zu nehmen.
Röfermüller1 tritt als rechtgläubiger Katholik dem
.Rigorismus' der katholifchen Lehrbücher, namentlich in
der Pernhaltung alles Sexuellen vom Brautftande, fcharf
entgegen. Die bräutliche Liebe ift die Zeit der Hoch-
fchule der Liebe, wo alles gelehrt wird, was zur Ehe
notwendig ift, und zwar alles von den Liebenden felbft;
die Liebenden müffen die phyfifche Natur ,auf das ge-
funde Höchftmaß ihre Beitragsfähigkeit zum Liebesglück
einftellen'. Die Ausführungen enthalten manches Schwülstige
, hie und da auch Bedenkliches (Nacktkultur in der
Brautzeit S. 24. 35!), aber auch fehr Beachtenswertes
z. B. hinfichtlich der fexuellen N.atur der Frau (S. 17. 341). —
Goslar2 will der jüdifchen Jugend Deutfchlands
1) Röfermüller, Rudolf: Gefunder Naturtrieb oder Theologifche
Bevormundung in der Gefchleclitsliebe? Kritifche Gedanken und
Betrachtgn. (45 S.) kl. 8°. Leipzig, Xenien-Verlag 1919. M. 1 —
21 Goslar, Hans: Die Sexualethik der jüdifchen Wiedergeburt.
Ein Wort an unfere Jugend. (48 S.) gr. 8°. Berlin, Jiid. Verlag
1919. M. 1.50