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Ausgabe:

1920

Spalte:

36

Autor/Hrsg.:

Franz, Erich

Titel/Untertitel:

Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre Kants 1920

Rezensent:

Buchenau, Artur

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Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 3/4.

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gegenüber fragen: wendet es fich mehr an Katholiken
oder mehr an Evangelifche? An Theologen oder an
Laien? Erwünfcht wäre, daß es von beiden gelefen
würde. Vereinzelt braucht E. unbefehen katholifch-theologifche
Ausdrücke, die der proteftantifche Lefer mein:
nicht verfteht, z. B. S. 104 theologifche Schuld. Die re-
ligionsgefchichtlichen Herleitungen katholifcher Bräuche
werden jeden intereffieren, aber wenn aus der Gefchichte
z. B. des katholifchen Bußwefens manches mitgeteilt wird,
fo werden die einen noch mehr, die andern weniger
wünfchen. Die am Schluß ausgefprochene Hoffnung, daß
die Konfeffionen einander durch wiffenfchaftliche For-
fchung fich nähern, erinnert an Lagardes Gedanken über
kritifche Theologie und deutfche Religion. E. ift vor-
fichtiger; aber gerade wenn er die Aufgabe konkreter
faßt und die Begründung eines Forfchungsinftituts zu
jenem Zweck anftrebt, wird man urteilen muffen: je
weniger folche Abficht uns bei unferem Forfchen
leitet, um fo eher werden wir uns verftändigen. Eine
ausgefprochene Tendenz diefer Art müßte, fchon weil
fie auf katholifcher Seite ficher fogleich Widerfpruch und
amtliche Verurteilung erführe, die Sache nur erfchweren.
Wirkfamer ift es, wenn wir mehr Bücher wie das vorliegende
bekommen, vorausgefetzt daß fie auf beiden
Seiten beherzigt werden. S. 117 nach dem Abf. ließ künft-
lerifch ftatt künftlich; S. 8 2O°/0 ftatt 25%.
Kiel. Mulert.

Ruppin, Dr. Arthur: Der Aulbau des Landes Ifrael. Ziele
und Wege jüd. Siedlungsarbeit in Palältina. (311 S.)
8°. Berlin, Jüd. Verlag 1919. Geb. M. 8 —

Unter den zioniftifchen Verfaffern, welche einer jü-
difchen Befiedelung Paläftinas den Weg bahnen wollen,
ift Arthur Ruppin ohne Zweifel der fachkundigfte und
in Folge davon der urteilfähiglte und vor utopifchen
Plänen am beften geficherte. Sein jetzt fchon vergriffenes
Werk ,Syrien als Wirtfchaftsgebiet' (1917) ift eine ausgezeichnete
Darftellung der in Paläftina bis zum Kriege
vorhandenen wirtfchaftlichen Verhältniffe. Das neue Buch
ift ein bis in alle Einzelheiten ausgearbeitetes Programm
der jetzt zu unternehmenden jüdifchen Befiedelung. Ihre
Vorausfetzung foll eine vom Völkerbund eingefetzte
Verwaltung Paläftinas bilden, welche verpflichtet wird,
einer möglichft großen Anfiedlung von Juden den Weg
zu ebnen, und die zurücktreten foll, fobald zwei Drittel der
wahlberechtigtenPaläftinerlelen und fchreiben können und
damit als fähig gelten, durch ihre gewählten Vertreter
das Land felbft zu regieren. Nach dem Siedelungsplan
Ruppins follen in 20 Jahren 1—1V4 Million Juden dort
wohnhaft geworden fein. Die nichtjüdifche Bevölkerung
würde gleichzeitig noch keine Million betragen. Da die
Juden lefen und fchreiben können, würde dann das Ziel
erreicht fein, und zugleich wäre den Juden die Mehrheit
im Landtage der paläftinifchen Republik generiert. Alles
beruht darauf, daß es den Juden gelingt, das erforderliche
Kapital von 2 1/2 Milliarden Franken für die erften drei
Jahrzehnte der Siedelung zu befchaffen, die zur Anfiede-
lung geeigneten Perfonen zu finden, auszubilden und
feftzuhalten, und den nötigen Grund und Boden zu
erwerben und ertragsfähig zu machen. Wie dies ge-
fchehen foll, ift in Ruppins Buch mit wohlerwogenen
und fehr beachtenswerten Ausführungen klargeftellt.
Doch find nicht alle Schwierigkeiten in Rechnung gezogen
. Ich zähle hier nur folgende auf. R.s Berechnungen
beruhen auf den Verhältniffen vor dem Krieg.
Der Getreidebauer foll mit 1166 Fr., der Kleinfiedler mit
1050 Fr. jährlicher Reineinnahme leben können. Werden
die jetzigen höheren Preife der Produkte, die Arbeitslöhne
und die Preife der zu kaufenden Werkzeuge, Kleider
, Schuhe, Baumaterialien ufw. in abfehbarer Zeit in
entfprechendem Einklang ftehen? Eine, wenn auch maßvolle
Sozialifierung der Arbeitsverhältniffe und eine Be-
fchränkung der Rechte des Grundbefitzers wird in Aus-

ficht genommen. Wird es gelingen, damit die einftrö-
menden Bolfchiwiften zu befriedigen und zugleich das
Vertrauen und die aktive Teilnahme des Kapitals zu
gewinnen? Ganz unbeachtet bleibt die jüdifche Religion,
obwohl ihr. Gefetz doch mit Sabbatjahr und Jobeljahr,
mit Zehnten, Erftlingen und Priefterhebe in die wirtfchaftlichen
Dinge gewaltig eingreift. Wird die jüdifche Orthodoxie
jemals zugeben, daß der ,Oberfte Rat' der Jüdifchen
Gemeinfchaft' in Paläftina diefe Teile des Gefetzes
abfehafft? Die bisherige Außerkraftfetzung durch die
Annahme, daß das Gefetz hierin nicht gelte, folange es
Fremdherrfchaft im Lande gibt — die Pharifäer waren einft
anderer Meinung —, wird fich dann nicht mehr fefthalten
laffen. Die Aufftellungen R.s beruhen durchweg auf der
Vorausfetzung, daß das Land diesfeits und jenfeits des
Jordan mit Nordgrenze bei der häsbäni-Quelle am weltlichen
Hermon und Südgrenze am Meerbufen von cakaba
das Land Ifrael der Zukunft wird. Es fcheint aber noch
nicht feftzuftehen, wo Frankrefch als Protektor von Syrien
die Südgrenze feines Gebietes anfetzt. Akko ift dafür
genannt worden. Wird es fich bis zum Litani zurückdrängen
laffen? Der König von Arabien foll das ganze
Oftjordanland in Anfpruch nehmen, und würde damit
Paläftina feiner Kornkammer berauben. Paläftinifche Araber
fordern den Anfchluß ihres ganzen Landes an Arabien.
Wenn die Analphabeten unter den Nichtjuden das Hindernis
für ihr Selbftbeftimmungsrecht find, werden fie ohne
Zweifel dies Hindernis rafch befeitigen und dafür zu forgen
wiffen, daß die Selbftändigkeit des Landes erklärt wird, ehe
die Juden die Majorität haben. So wird das Programm
Ruppins in feiner Ausführung gar manchem Widerftande
begegnen und vielen Abänderungen unterworfen fein.
Die Not der ofteuropäifchen Juden, aber auch der durch
den Krieg fchwer gefchädigten Araber Paläftinas läßt
wünfchen, daß doch wichtige Teile davon fich verwirklichen
.

Greifswald. Guftaf Dal man.

Franz, Dr. Erich: Das Realitätsproblem in der Erfahrungslehre
Kants. Eine krit. Studie m. befond. Rückficht auf
den Neukantianismus der Gegenwart. (Kant-Studien,
No. 45.) Berlin, Reuther & Reichard 1919. (X, 94 S.)
gr. 8°. M. 5 —

In diefer Studie wird eine immanente Kritik an den
Kantifchen Grund-Pofitionen verfucht, wobei der Ver-
faffer von der Anficht ausgeht, daß alle Erkenntnis einen
wefentlich rezeptiven Charakter hat. Das führt ihn zur
Ablehnung des Cohen-Natorpfchen Neukantianismus. Die
Unterfuchung fchreitet folgendermaßen fort: Realitätsproblem
und Ding an fich — Das transzendente Ding
an fich als Urfache der Erfcheinungen — Das Ding an
fich innerhalb der Erfahrung — Der Begriff .Erfcheinung'
in der neueren Philofophie — Kants feinsphilofophifcher
Realismus im Gegenfatz zum Neukantianismus — Abfo-
luter und relativer Realismus — Der negative Phänomenalismus
— Form und Stoff der Erkenntnis. Der Verfaffer
ift im Grunde naiver Realift, wie fich aus einem Satze
wie dem folgenden ergibt: ,Wenn auch Erkenntnis und
Sein nicht als im Verhältnis von Kopie und Original aufgefaßt
werden, fo känn trotzdem das Sein, die Wirklichkeit
felber, als maßgebend für die Wahrheit der Erkenntnis
angefehen werden'. Hier ift erftens die Gleichfetzung
von ,Sein' und .Wirklichkeit' abzulehnen, denn wie foll
die (doch wohl ftets zufällige 1) Wirklichkeit die (notwendige
) Wahrheit beftimmen? Zweitens aber: woher weiß
der Verfaffer von diefem .maßgebenden' Verhältnis?
,Maß' ift ein Erkenntnisbegriff und ,maß-geben' kann
doch wohl nur das Denken! Die Arbeit ift recht gelehrt
und zeigt eine gute Kenntnis der modernen Literatur,
aber an dem Kernproblem geht fie vorbei.

Berlin. Artur Buchenau.