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Ausgabe:

1920

Spalte:

18-19

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Graf von Hertling als Augustinusforscher 1920

Rezensent:

Mirbt, Carl

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jy Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 1/2.

fätzliche Unterfcheidung Luthers zwifchen den Gebieten
des Glaubens und des natürlichen Lebens ihn dazu führt,
die Selbftzwecklichkeit und Eigengefetzlichkeit des letzteren
(und damit der Vernunft) anzuerkennen. Doch bedeutet
die Unterfchiedenheit beider Gebiete nicht ihre
tatfächliche Scheidung; fondern der Glaube an Gottes
Welt erhöht zugleich die Weltoffenheit, vertieft die fitt-
liche Verpflichtung und verwehrt die Abfolutierung der
natürlichen Werte (auch in ihrer Gefamtheit). Diefer Abitand
vertieft fleh weiter durch Luthers peffimiftifches
Urteil über den fittlichen Zuftand der Welt und durch
feinen Ausblick in die Zukunft, der eben nicht eine Ver-
chriftlichung der ganzen Welt, fondern ihren Untergang
ins Auge faßt, womit denn ein ftarkes Empfinden für
die Disharmonien zwifchen beiden Reihen und zugleich
eine innerliche Freiheit gegenüber der Welt gegeben ift.
Daß diefe Gedanken ein einheitliches, kraftvolles Ganzes
bilden, fcheint mir erwiefen, ebenfo deutlich aber auch
aus K.s eigener Unterluchung hervorzugehen, daß bei
Luther noch allerlei andre Motive nachwirken und daß
auch die einzelnen Elemente feiner Anfchauung einer
Nachprüfung bedürfen. — Über die Stellung Luthers zu
den Trinkfitten feiner Zeit handeln von praktifchen Inte-
reffen aus, aber mit vollem wiffenfehaftlichen Rüftzeug
Stubbe22 und Römer23, erfterer, indem er die Sitte der
Zeit und Luthers Denken und Tun mit viel Sachkenntnis
kulturgefchichtlich einordnet. Luther muß, wenn man auch
heute über manches, was er gefagt hat, den Kopf fchütteln,
mag, in feiner Zeit als ein .Mäßigkeitsmann' gelten, der über
die Macht und die Folgen des Trunkes nachgedacht und
dagegen geeifert hat. Römer legt umfaffendes Material
aus Luthers Schriften vor und befpricht namentlich die
Mittel, die Luther im Kampfe gegen die Trunkfucht
erwogen hat.

Kattenbufch24 betont, daß es in Luthers Sinn
einen weitern und einen engern Kirchenbegriff gebe, die
Chriftenheit im ganzen und die Kultusgemeinde (einen
ihrer Teile). Jene ift das heilige Gottesvolk, das Unver-
gänglichkeit, Gerechtigkeit und Seligkeit in fich trägt und
fich wie eine Art Kolonie des Himmels auf Erden er-
fcheint. Luther felbft ift .religiöfer Kommunift', dürftet
gerade in der Gemeinfchaft mit Gott nach Gemeinfchaft
auch mit Menfchen und kennt die Seligkeit nur als Ge-
meinbefitz. Er denkt jene Gemeinfchaft nicht in Rechtsformen
organifierbar, weil fie auf Erden notwendigerweife
vielerlei Gemeinfchaftsformen erzeugt (Haus, Obrigkeit;
Kirche). Die Kultgemeinde hat ihre Aufgabe in der
Predigt des Evangeliums und der Seelforge am ganzen
Volke. Das Evangelium ,nach dem reinen Verftande' ift
der .Chriftus der Bibel'. Im übrigen kann nach Luther
ein chriftlich Gewiffen das andere nicht urteilen. Man
wird darnach der Kirche die Aufgabe ftellen müffen,
Bildnerin der Weltanfchauung und Gefinnung zu fein,
geiftige Fühlung zu nehmen mit allen Bewegungen der
Zeit, auch dem Sozialismus, aber mit praktifchen Werken
foll man fie nicht belaften, fondern diefe der chriftlichen
Gefellfchaft überlaffen. Auch wird man zwifchen Kirchlichkeit
und Chriftlichkeit (d. h. fittlicher Anregung durch
das Evangelium) zu unterfcheiden haben. — Rade25
weift überzeugend nach, daß Luther allezeit die commu-
nio sanetorum als wirkliche Gemeinfchaft gefaßt hat

22) Stubbe, Dr. Chr.: Luther und der Trunk. (S.-A. a. d. Intern.
Monatsrehr, zur Bekämpfg. des Alkoholismus.) (20 S.) 8". Hamburg,
Neuland-Verlag 1917. M. —40

23) Römer, Pfr. A.: Luther und die Trinkfittcn. Eine gefchichtl.
Studie. (S.-A. a.: Die Alkohollrage. 1917.) (15 S.) gr. 8". Berlin,
Mäßigkeits-Verlag (1917). M. —30

24) Kattenbufch, Ferd.: Der evangelifche Kirchenglaube im An-
fchluß an Luther dargelegt. (Fluglchriften des deutfeh. ev. Gemeindetages
Nr. 10.) (32 S.) gr. 8°. Berlin, Deut.-ev. Gemeindetag 1917. M. —40

25) Rade, Prof. D.: Luther und die cominunio sanetorum. (Vortrag
, geh. am 5. Juri' '9'7 in Marburg vor den Freunden der Dorfkirche.
Sonderdr. a. dem Lutherheft [Nr. ro/n] der Dorfkirche 191617.) (15 S.)
8*. Herlin, Deut. Landbuchh. 1917. M. —60

deren Glieder unter fich zufammenhängen, mit einander
im fortwährendem dienftbaren Austaufch ftehen und einander
tragen; fie ift als eine folidarifche Einheit, ein un-
zertrennter Leib gedacht, ihr feierlicher, von Chriftus
geftifteter, ftetig zu wiederholender Ausdruck ift das hl.
Abendmahl. — Ritfehl25 geht von dem Doppeljubiläum
der Reformation und der Union aus und betont der unio-
niftifchen Harmoniftik gegenüber die ftarke Verfchieden-
heit in den Überzeugungen und Intereffen der Reformatoren
; ihre perfönliche Eigenart, die Verfchiedenartigkeit
der auf fie wirkenden Einflüffe und ihrer Grundüberzeugungen
wird herausgearbeitet. Während fich in England
der Calvinismus nicht auf der urfprünglichen Höhe
feines religiöfen und ethifchen Idealismus gehalten habe,
habe fich die theologifche Denkweife der deutfehen Reformierten
anders geftaltet, und fo fei es in dem einheitlichen
Kirchentum der Union zu einer fruchtbaren Ergänzung
beider Konfeffionen gekommen. — MirbP27
zeigt, weshalb es im alten Proteftantismus zu kirchlicher
Einheit nicht gekommen ift, und verfolgt dann die Beziehungen
der Lutheraner und Reformierten zu einander.
Der Zeit der konfeffionellen Polemik folgte eine grund-
fätzliche Umwertung des Konfeffionellen, unter deren
Einfluß die Union fich vollziehen konnte; diefe aber rief
im Rückfchlag einen neuen Konfeffionalismus hervor.
Zur Aufhebung der kirchlichen Trennung ift kein Weg
gefunden, und es befteht die Möglichkeit, das der Prozeß
der Bildung neuer Kirchen fortfehreitet. Mit diefem Verzicht
ift indes zugleich der Grundfatz der Freiheit der
Entwicklung für das kirchliche Leben aufgeftellt. Allgemein
feftftehende Formen der kirchlichen Verfaffung, des
Dogmas und des gottesdienftlichen Lebens gibt es für
den Gefamtproteftantismus nicht. Diefe Mannigfaltigkeit
ift nicht ein Symptom fortfehreitender Haltlofigkeit und
Zerfahrenheit, fondern vielmehr eine Äußerung dauernden
Vorwärtsftrebens. Dagegen ift durch die immanenten
Prinzipien des reformatorifchen Chriftentums eine Art von
gtiftiger Gemeinfchaft gefchaffen und in gemeinfamer
Arbeit ein proteftantifches Gemeingefühl entftanden, während
der innerproteftantifche kirchliche Partikularismus
an Boden verloren hat und die alten Streitpunkte gegenüber
den modernen Fragen zurückgetreten find, auch
zwifchen der Formulierung der Bekenntnisfchriften und
ihren Grundgedanken unterfchieden wird. Es hat alfo
eine Weiterbildung des Proteftantismus ftattgefunden.
Das neue Jahrhundert verlangt Achtung und Schutz für
das gefchichtlich Gewordene, aber zugleich Refpekt vor
abweichender Überzeugung. Diefe Sätze dürfen zugleich
als Gefamtergebnis unferer Überficht gelten.

Göttingen. Titius.

26) Ritfchl, Otto: Reformation und Evangelifche Union. Akade-
mifclie Feftrede zu dem kirchl. Doppeljubiläum am 31. Oktober 1917
(27 S.) gr 8°. Bonn, A. Marcus & E. Weber 1917. ' M. 1—

27) Mirbt, Karl: Der Einheitsgedanke in der Gefchichte des
Proteftantismus. (Dcutfch-Evangeiifch 1918, Heft 1, S. 8—23, Heft 2
s- 57-63-)__

Hertling, Georg von: Erinnerungen aus meinem Leben.

(In 3 BdnJ 1. Bd. (VIII, 384 S. m. Bildniffen.) 8°.
Kempten, J. Köfel 1919. Vorzugspr. f. Bd. I—III M. 24 —;

geb. M. 30 —

Helfen, D. Dr. Johs.: Graf von Hertling als Auguftinusforfcher.

(21 S.) 8°. Düffeldorf, Cäcilien-Verlag 1919. M. 3 —
Aus dem Vorwort erfahren wir, daß Hertling im
Jahre 1915 mit der Niederfchrift diefer Lebenserinnerungen
begonnen und bis wenige Tage vor feinem Tode
an ihnen gearbeitet hat. Diefer erfte Band, dem noch
zwei weitere Bände folgen follen, bietet wertvolles
Material für die neuefte Zeitgefchichte und rechtfertigt
das Urteil des Herausgebers, daß für das Verftändnis
der Entwicklung Hertlings hier wichtige Auffchlüffe gewonnen
werden. Als die in Italien zugebrachte Zeit, die
ihm reiche Anregungen zuführte, ihr Ende erreicht hatte,