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Ausgabe: | 1920 |
Spalte: | 16-18 |
Kategorie: | Christliche Kunst und Literatur |
Autor/Hrsg.: | Seeberg, Reinhold |
Titel/Untertitel: | Zur Religionsphilosophie Luthers 1920 |
Rezensent: | Titius, Arthur |
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Theologilche Literaturzeitung 1920 Nr. 1/2.
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Heil bezogen. Dem gegenüber gilt es, die perfönliche
Religion in die Gefchichte des Reiches Gottes einzugliedern
d. h. wie der 2. Vortrag (der eine feine Charakte-
riftik Vinets bietet), ergänzend ausführt, das Chriltentum
bei all feiner Göttlichkeit als echt menschliche Erfüllung
tieffter Sehnfucht zu erfaffen, die ftaatskirchliche Gewiffensbevormundung
aufzuheben, die Seelenknechtfchaft der
mechaniftifch-materialiftifchen Organifation der Weltarbeit
durch einen geiftig-feelifchen Sozialismus zu überwinden.
So fehr ich mit diefen Beftrebungen auf Weltwirkfamkeit
des Chriftentums fympathifiere, fcheint mir doch der
Schwerpunkt in bedenklicher Weife auf das Äußere verlegt
. — Lütgert15 fchildert die deutfche Reformation
als Tat des deutfchen Geiftes und hebt fchön die Züge
deutfchen Wefens an Luther hervor. In feinem Kampfe
gegen die Kirche handle es fich nicht um den Gegenfatz
zweier Kulturepochen — in diefer Beziehung fei der Pro-
teftantismus noch von mittelalterlichen Elementen erfüllt
—, fondern um den Gegenfatz gegen das in die Kirche
eingedrungene Judentum; fein Glaube bildet allerdings
die Grundlage der modernen Kultur, aber dicfe habe
die Spannungen des Reformationszeitalters (gegenüber
der katholifchen Kirche, der Myftik, dem Humanismus,
den revolutionären Bewegungen ufw.) noch keineswegs
überwunden. Auch feien durch unfere Naturerkenntnis
neue Schwierigkeiten aufgetaucht und es fehle noch an dem
zufammenfaffenden Gottesgedanken. Die Reformation fei
alfo kein Abfchluß, fondern eine Grundlegung. Nicht
einmal der Paulinismus ift durch die Reformation erfchöpft,
und erft recht gilt das von dem Evangelium Chrifti. —
Grützmacher16 wendet fich der Frage nach
der richtigen gefchichtsphilofopifchen Methode zur Er-
faffung der Religion zu und kontraftiert mit dem Evolutionismus
das ,ideographifche' Verfahren (im Sinne
Diltheys). In Bezug auf die letzten religiöfen und ethi-
fchen Probleme gebe es nur eine relativ fehr begrenzte
Anzahl typifcher Löningen, in deren Meter Auseinander;
fetzung die geiMige Bewegung beMehe. Insbesondere handle
es fich um Typen, gebildet aus den fich wefentlich
gleichbleibenden Tendenzen der menfchlichen Natur (eudä-
moniMifche Aufklärung und dgl.) und folche, die aus
einmaligem, aber in feinem Wirken beharrenden gefchicht-
lichen Gefchehen erwachfen find. Das geiMige Leben
werde nicht durch fynkretiMifche Gebilde gefördert (Mer-
bende Antike, NeuproteMantismus), fondern durch kräftige
KontraMierung der großen individuellen Typen in ihrer
charakteriMifchen Reinkultur. Sehr gut gefagt, aber daß
auch ,NeuproteManten' die ideographifche Methode
meiMerhaft zu handhaben verMehen, zeigt unter anderm
diefer Überblick, und auch die feinfte Analyfe des Individuellen
kann ohne ,umfaffend durchgeführte religions-
und geiMesgefchichtliche Orientierung' (wie auch G. fie
fordert) nichts ausrichten, weil eben alle GeiMesgefchichte
auf individueller Synthefe allgemeiner Kulturelemente beruht
. Mit einfacher Erhaltung einmal gegebener Gebilde
läßt fich eben deshalb nichts ausrichten. — Arnold 17
fchildert Luther als Lehrer, als Organifator der Univerfi-
tät, als Forfcher. Wenn er auch nicht eigentlich forfchen-
der, fondern handelnder Charakter iM, fo fußt doch feine
Lehre auf kritifcher SelbMbefchränkung, womit er unfruchtbare
Wege des Denkens verlaffen hat und auf Freiheit
von äußern Autoritäten. Sein Sinn für das Fak-
tikhe treibt ihn zur Quellenforfchung, wobei er nicht
feiten divinatorifchen Scharffinn zeigt. In feiner Heran-
15) L ü t g er t, Wilh.: Die deutfche Reformation u. Deutfchlands Gegenwart
. Fcftrede, zur Feier der 4. Jahrh.-Feier der Reformation in der Aula
der verein. Friedrichs-Univ. Halle-Wittenberg geh. (Hallifche Univerfität-
reden 7) (23 S.) gr. 8Ü. Halle a. S., M. Niemeyer 1917. M. 1 —
16) Grützmacher, R. H.: Altproteftantismus und Neuproteftan-
tismus. (Neue Kirch], Ztfchr. 1915, Heft II, S. 789—825 u. Heft 12,
S. 865—914.)
17) Arnold, Geh. Rat Prof. Dr.: Luthers Stellung in der Gefchichte
der Geifteswiflenfchaften. Feftrede, geh. am 31. Oktober 1917.
(II S.) 8°. Breslau, W. G. Korn (1918). M. —50
ziehung aller erreichbaren Hilfsmittel für das VerMändnis
des alten TeMaments iM er ein Vorläufer der modernen
Spezialforfchung. — W.Köhler18 läßt den Humor und
Übermut der Wittenberger Studenten an uns vorüberziehen
, um dann gegenüber dem griesgrämigen Urteil
des alternden Luther den Nachweis zu führen, daß trotz
Fortwirkung der alten, wilden Sitten die Reformation
doch der Studentenfchaft einen neuen GeiM einzuhauchen
vermocht hat. Erfatz der ScholaMik durch die Bibel war
die akademifche Schöpfertat, durch die der Unterricht
auch wiffenfchaftlich auf eine, von den Studenten gewürdigte
, ganz neue Höhe geMellt wurde. Dazu kam dann
die Perfönlichkeit der Lehrer und der Einfluß ihres
Familienlebens. In alledem iM den Studenten ein neues
Ziel ihres Strebens aufgegangen, und fie haben auch ihre
Ehre darin gefetzt, es zu vertreten und dafür zu leiden,
haben auch gleich den Bienen den BlütenMaub der neuen
Lehre weithin getragen und durch ihre Nachfrage den
Büchermarkt völlig umgeMalten helfen; in einzelnen Fällen
hat ihre Vermittlung fogar kirchengefchichtliche Bedeutung
gewonnen.
Seeberg19 zeichnet Luthers Religionsphilofopie
Luther hat die Verbindung zwifchen Theologie und Phi-
lofophie nicht überhaupt aufgehoben, fofern es dasfelbe
formale (apriorifche) Seelenvermögen iM, vermöge deffen
fich beide bilden. Wohl aber lehnt er jede Ableitung
der Glaubenserkenntnis aus den Denkprinzipien ab; jede
rein rationale, konMruktive Methode prallt an ihm ab,
weil nur das Reale ihn anzieht und dies Reale nur auf
dem Wege einer gewiffen Transzendentalperzeption zu
erfaffen iM, daher er das Zentrum feiner geiMigen Welt
in religiöfer Empirie fuchte und in dem radikalen Böfen
wie in der Willensenergie des ChriMusgeiMes fand. Diefer
Irrationalismus der voluntariMifchen Gedankenwelt Luthers
vollendet fich im PrädeMinationsgedanken, doch bleibt
die Starrheit des fkotiMifchen Voluntarismus bei ihm gemildert
durch die gemütvolle Empfindung des göttlichen
Allwaltens. Mit Kant verbindet ihn wie fein Voluntarismus
, fo fein transcendentaler Realismus, er kann fagen:
sicut de Deo cogito, ita mihi fit. Doch hat er auch
Sinn für den objektiven GeiM mit feinem Walten in Natur
und Gefchichte. Seinen innern Ausgangspunkt bildet das
religiöfe Erlebnis, in dem (an ChriMus) die Fähigkeit und
der innere Antrieb zum Gottesempfinden befreit und neu
erlebt wird und fchließlich der Gottes gewiß gewordene
Menfch ihn in fich wirken läßt und fich zum Organ der
göttlichen Liebe beMimmt. — Guthe20 vergleicht Luthers
Bibelforfchung mit der heutigen. Luther kennt nicht die
freie Forfchung im Sinne der heutigen Gefchichtswiffen-
fchaft, fondern fein MaßMab iM ausfchließlich ein religiöfer
. Aber von diefem macht er trotz feines Infpirations-
glaubens einen fo überrafchend unbefangenen Gebrauch,
daß er damit die freie wiffenfchaftliche Prüfung der Gegenwart
vorweggenommen hat: weder vor dem Kanon,
noch vor einer Kritik der einzelnen Schriften, ihres Inhalts,
ihrer Anordnung ufw. macht er Halt. Pofitiv vorgearbeitet
hat er der wiffenfchaftlichen Forfchung durch feine
Forderung fprachlicher, hiMorifcher, fachlicher Vorkennt-
niffe, durch feine Betonung des Wortfinnes der Schrift
und feine AbMufung der alt- und neuteMamentlichen
Religion gegeneinander. — Kunze21 zeigt, wie die grund-
18) Koehler, Prof. Dr. Walther: Die deutfche Reformation und
die Studenten. (Vortrag bei der Reformationsfeier des akad.-thcol. Vereins
in Zürich.) (Sammlung gemcinverft. Vorträge u. Schriften 84.) (45 S.)
gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1917. M. 1.35
19) Seeberg, Reinhold: Zur Religionsphilofophie Luthers. (Zeitschrift
für Philofophie u. philof. Kritik, Bd. 164, S. 81—115.)
20) Guthe, Prof. D. Dr. Hermann: Luther und die Bibelforfchung
der Gegenwart. (Vortrag vor dem Zweigverein des Ev. Bundes in Lübau,
geh. am 2. April 1917.) (Sammlung gemeinverft. Vorträge u. Schriften
83.) (41 S.) gr. 8". Tübingen, J. C. B. Mohr 1917. M. 1.35
21) Kunze, Geh. Konf.-Rat Prof. D. Dr. Jons.: Das Chriftentum
Luthers in feiner Stellung zum natürlichen Leben. Rede, bei der Reformationsjubelfeier
der Univ. Greifswald geh. (38 S.) 8°. Leipzig,
Dörffling & Franke 1918. M. —80