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Ausgabe: | 1920 |
Spalte: | 13-18 |
Kategorie: | Christliche Kunst und Literatur |
Autor/Hrsg.: | Herrmann, Wilhelm |
Titel/Untertitel: | Der Sinn des Glaubens an Jesus Christus in Luthers Leben 1920 |
Rezensent: | Titius, Arthur |
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Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 1/2.
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Gnadenmittel, zur fortgehenden Gegenwart Gottes wird;
er löft die Spannung zwifchen fubjektivem Erlebnis und
objektiver Wirklichkeit, weil er felbft unmittelbare Gewißheit
um Gott ihr. Auch die Spannung zwifchen individueller
und fozialer Religion gleicht fich aus, indem
das perfönliche Chriftentum in unlösbarem Zufammen-
hange mit der Kirche fteht. Niemand darf allein feiig
werden wollen. Als beftändig fortdauernd erfüllt diefe
Gottesgemeinfchaft das ganze Leben, indem es Seligkeit
wird, Gott zu dienen. Als Religion ift Chriftentum ein
Erleben, als Sittlichkeit ein Darleben der Gottesgemein- |
fchaft in Chriftus. Das Haben Gottes wird zur unaufhörlichen
Aktivität, zum kämpfenden Glauben, zum luctari
ab incertitudine ad certitudinem und lo mit zum Bewußtfein
der Geborgenheit für Zeit und Ewigkeit. — Ganz
ähnlich fchildert W. Herr mann8 Luthers Erfahrung
als den Anfang einer neuen Chriftenheit und wendet fich
dann befonders dem Anteil zu, den an diefer Erfahrung
die Perfon Jefu und feine Paffion hat. Was Luther daran
erlebt, ift nicht etwa völlige Überwindung der Sünde,
fondern eine andre Stellung zu ihr; fie drückt uns fchwer,
aber gerade in Sündern will Gott durch Jefus Chriftus
herrfchen, indem er ihnen die Aufgabe, von der Sünde
loszukommen, zu einer unerfchöpflichen macht, womit
dann unfere Ohnmacht an den Tag kommt, aber auch
immer neu ein Lebensmorgen mit neuem Lebensmut in
uns erweckt wird. Unficher blieb freilich das Verhältnis
diefes wahrhaft chriftlichen Glaubens zur Lehre. Luther
hat niemandem ein Syftem von Gedanken aufnötigen
wollen, das er felbft weder hatte noch fuchte und in der
Schätzung der im Bekenntnis zufammengefaßten Lehren
und im Syftem fah er felbft dasfelbe Unheil heraufziehen,
wodurch der wahre Glaube in der römifchen Kirche faft
erftickt war. H. betont, daß die religiöfen Gedanken (z.
B. über Gottes Alleinwirkfamkeit und die menfchliche
Freiheit) einander widerfprechen müffen. Der Glaube
lebt eben nicht vom Begreiflichen, fondern von der Kraft
einer unbefchreiblichen, aber täglich neu erlebten Wirklichkeit
. Die Lehre kann daher nur Ausdruck, nicht
Grund des Glaubens fein, diefer fchafft vielmehr, wenn
er fein volles Leben gewinnt, fich felbft feinen anfchau-
lichen Ausdruck.— Heitmüller9 vergleicht Luthers Chriftentum
mit dem Urchriftentum, fpeziell dem Paulinismus.
Indem er als das Charakteriftifche an Luther die fchlecht-
hin perfönliche (von aller Dinglichkeit und allem Ge-
fühlsüberfchwang gelöfte) Erfaffung der Religion hervorhebt
, findet er, Luthers Gottesbewußtfein überrage an
Tiefe und Kraft das paulinifche, wie denn .überhaupt
das neuteftamentliche Chriftentum nicht die normative
oder auch nur klaffifche Ausprägung des Wefens der
chriftlichen Religion' fei (23) —, was, in diefer Allgemeinheit
gefagt, doch wohl mindeftens mißverftändlich ift.
Die in Luther verkörperte deutfche Seele gelangte zu
einer .eigenartigen, kraftvollen Erfaffung der im Paulinismus
enthaltenen Jefuskräfte'.
v. Schubert10, in umfaffender Betrachtung die Ge-
fchichte des Chriftentums bis zur Gegenwart überfchau-
end, würdigt die Reformation als Bruch mit der Rechtsreligion
, als Zurücklenken zur heroifchen Religion Jefu.
Daß Luther den Weg des fouveränen, den Menfchen
gegenüber autonomen Glaubens wiederfand, das war die
große Tat, die an die ältefte Vergangenheit anknüpfte
und doch die weitefte Zukunft öffnete. Freilich blieb der
S) Herr mann, W.: Der Sinn des Glaubens an Jefus Chriftus in
Luthers Leben. (23 S.) 8°. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1918.
M. — 80
9) Heitmüller, Prof. z. Zt. Rckt. D. Wilh.: Luthers Stellung in
der Religionsgelchichte des Chriftentums. Rede zur 400 jähr. Reformations
-Feier der Philipps-Univerfität. (Marburger Akadem. Reden Nr. 38.)
(32 S.) 8°. Marburg, N. G. El wert 1917. M. — 60
10) Schubert, Hans v.: Die weltgefchichtliche Bedeutung der
Reformation. Feftrede bei der Reformations-Gedächtnisfeier der Univ.
Heidelberg geh. (Reformationsreden.) (39 S ) 8°. Tübingen, J. C. B.
Mohr 1917. M. 1.35
lutherifche Proteftantismus in Abhängigkeit vom Staat
und in Enge ftecken, die romanifche Reformation läßt
die ftrenge Trennung von Religion und Recht vermiffen.
Erft die Independenten gingen im Kampfe mit dem
Staate auf die Grunderfahrungen vom perfönlichen Charakter
der Religion zurück und es entwickelten fich dann
die großen Gedanken religiöfer, vom Staate unbeeinflußter
Freiheit, von denen wir heute leben. Auch der Neukatholizismus
fcheint praktifch auf dem Wege zu fein,
fich des Rechts- und Zwangscharakters zu entledigen. —
I Lietzmann11 nennt als Luthers Ideal vorerft feine Erkenntnis
vom alleinigen Wert der religiöfen Perfönlich-
keit, die erft durch die feither erfolgte wiffenfchaftliche
Zertrümmerung des intellektualiftifchen Ideals voll gefi-
chert fei, weiter feine Ideale des allgemeinen Prieftertums
und der Sammlung der ernften Chriften, deren Realifie-
rung durch freies Spiel aller evangelifcher Kräfte gerade
die Forderung der Gegenwart und ihrer Not fei. Das
Eingreifen des Landesherrn in die kirchlichen Angelegenheiten
habe Luther ftets durch den vorhandenen Not-
ftand motiviert, der dann zum Normalftand geworden fei.
Es gelte eine Umbildung der Kirchenverfaffung in Luthers
Sinn. Karl Müller1'2 erblickt das Wefentliche der re-
formatorifchen neuen Gefamtanfchauung in der Religion,
die ganz in der Zuverficht zu der vergebenden Liebe
Gottes in Chrifto aufgeht. Als wahrhaft gut kann nur
noch gelten, was, aus dem innerften Menfchen geboren,
die Perfönlichkeit heiligt und der Gemeinfchaft dient. Für
die Kirche als eine geiftige Gemeinfchaft kann nur der
lebendige geiftige Austaufch der religiöfen Güter und
Kräfte von Perfon zu Perfon entfcheidenden Wert haben.
In einer Zeit der Emanzipation der Maffen ftellt die
Durchfetzung diefer Ideen fchwerfte Aufgaben, indes haben
fie fich bisher in der deutfchen Geiftesgefchichte wie in
der erneuerten Theologie immer wieder erhalten und neu
geformt, und auch die Gegenwart bedarf einer unerfchöpflichen
Licht- und Wärmequelle. Die großen Gedanken
der Reformation vermögen fich mit jeder neuen Kultur-
ftufe zu verbinden und darin ihre Lebenskraft zu erweifen.
— Kittel13 fchildert in umfaffendem Umblick Luther
als den religiöfen Heros, der mit feinem Vordringen zu
religiöfer Gewißheit und Freiheit das gefamte Geiftesleben
befreit, das Recht der Perfönlichkeit, der Geiftesfreiheit
wieder gewonnen, auch in feinem Rückgang auf die
Quellen der Wiffenfchaft Wege gewiefen habe, die erft
in der Aufklärungszeit wieder aufgenommen wurden.
Unter feiner Nachwirkung fteht bis heute nicht nur die
Geifteswiffenfchaft, fondern auch das neue Lebensideal
und der Staatsgedanke. Die erneute Theologie wandelt
in feinen Bahnen und auch die überlieferten kirchlichen
Formen find, weil bloßer .Notbehelf', einer Umgeftaltung
in feinem Sinn nicht unzugänglich. — Karl Stähelin14
mißt die Reformation an der Heilsgefchichte, der fich
vorbereitenden Königsherrfchaft Chrifti. Im Katholizismus
fei die Kirche zur großen Myfterienanftalt, die Erlöfung
demgemäß zu einer rein individuellen Angelegenheit geworden
. Dagegen feien auf verfchiedenen Wegen die
■ Reformatoren wieder zur Unmittelbarkeit lebendiger
. Gottesgemeinfchaft hindurchgedrungen, die Kirche aber
blieb als Heilsanftalt auf ein bloß individuell-jenfeitiges
11) Lietzmann, Hans: Luthers Ideale in Vergangenheit u. Gegenwart
. Rede zur Reformationsfeier der Univ. Jena am 31. Oktober
1918. (16 S.) 8". Bonn, A. Marcus & E. Webers Verl. 1918. M.— 80
I 12) Müller, Karl; Die großen Gedanken der Reformation und
die Gegenwart. Rede bei der Feier der ev.-theol. Fakultät Tübingen
) am 31. Oktober 1917. (Reformations-Reden.) (24 S.) 8". Tübingen,
1 J. C. B. Mohr 1917. M. 1.33
13) Kittel, Geh. Rat Domhr. Prof. Dr. Rudolf: Luther und die
) Reformation. Rede, geh. am 31. Oktober 1917 zum Antritt des Rekto-
3 rats der Univ. Leipzig. (24 S.) gr. 8°. Gotha, F. A. Perthes 1918.
r M. 1 —
14) Staehelin, Priv.-Doz. Lic. Ernft; Die Bedeutung der Reformatoren
und Alexander Vinets für die Gegenwart. Zwei Jubiläumsvor-
5 träge. (62 S.) 8". Bafel, Helbing & Lichtenhahn 1918. M. 1.50