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Ausgabe: | 1920 Nr. 2 |
Spalte: | 279-282 |
Kategorie: | Kirchenfragen der Gegenwart |
Autor/Hrsg.: | Wieland, Constantin |
Titel/Untertitel: | Judas Iscariot. Die Kirche im Weltkrieg 1920 |
Rezensent: | Schian, Martin |
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Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 23/24.
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der D. C. S. V. charakteriftifch find, handelt der erfte (Lic.
E. Stange) von den .Aufbauenden Kräften unferes Glaubens
im Zufammenbruch'; der dritte (Prof. O. Schmitz), der
wie der Titel zeigt, das Herzftück des Ganzen bildet,
befpricht das Thema Jefus, der Herr, eine Tatfache und
eine Forderung'; der fünfte (Prof. A. Schlatter) befchäf-
tigt fich mit dem ,Unfer Vater und unfere gegenwärtige
Lage'. Sie fchließen fich unter dem Gefichtspunkt: Hinführung
zu Chriftus, Chriftus, Geftaltung des Lebens im
Sinne Chrifti, zu einer Einheit zufammen. Dahinein ge-
fchoben wollen der zweite und vierte Vortrag, die den
Lefer am ftärkften feffeln, weniger erwecken, erbauen,
ermahnen, als Probleme ftellen und löfen. Prof K. Heim
geht in feinem Vortrag ,Tolftoi und Jefus' der Frage nach,
warum uns Tolftoi im Gegenfatz zu Jefus, fo aufrüttelnd
er wirkt, nur einen halben, gebrochenen Eindruck macht
und unbefriedigt und hilflos läßt. Das liegt nicht daran,
daß er überfpannte Forderungen ftellt, die niemand, auch
er felbft nicht erfüllen kann, fondern daß er nicht ganz
Ernft macht, den radikalen Bruch mit der Welt und dem
eigenen Ich vermeidet und fich fo um die beglückende
PLrfahrung der erften Jünger Jefu bringt, daß Welt und
Leben in Jefus einen ganz neuen, pofitiven und verklärten
Gehalt gewinnen. Man könnte das auch fo ausdrücken,
Tolftoi ift lediglich Ethiker und kennt die Religion nicht,
und darum muß auch feine Ethik trotz verzweifelter An-
ftrengungen unzulänglich bleiben. Lic. G. Reichel behandelt
unter dem Titel: Gott oder Jefus? das Problem, ob nicht
die Lofung: Jefus der Herr1 der Ehre Gott-Vaters zu
nahe tritt. Er fchildert auf Grund eindringenden Studiums
die Löfung, die Zinzendorf in einem naiven Modaüsmus
fand, der Schöpfergott und Jefus einfach identifiziert. Damit
kann R. fich freilich nicht einverftanden erklären und
hält fich feinerfeits an die bekannte Formel: Gott in Chrifto.
Ich muß geliehen, daß mir Zinzendorfs Löfung, die aus-
fichließliche religiöfe Herrenftellung Jefu vorausgefetzt, die
allein mögliche zu fein fcheint. Wer zu Jefus betet, hat es
nicht mit Gott in Jefus fondern mit dem göttlichen Jefus
felbft zu tun. Sonft müßte man auch andere Menfchen
anbeten dürfen, durch die und in denen uns doch ebenfalls
Gott nahe treten kann.
Iburg. W. Thimme.
Störring, Prof. DD. Guftav. Die Hebel der fittliohen Entwicklung
der Jugend. 2. verb. Aufl. (VIII, 155 S.) gr. 8°. Leipzig, W.
Engelmann 1919. M. 6 —
Die erfte, 1911 erfchienene, Auflage diefes fachkundigen anregenden
und klaren Buches ift 1912, 85 f ausführlich befprochen und warm empfohlen
. Die Tatfache der faft unveränderten Neuauflage zeigt, daß das
Buch die gewünfchte und verdiente Beachtung gefunden hat.
Hannover-Kleefeld. Schufter.
Schriften zur Kirchenfrage.
(Vgl. Nr. 13/14, 1920.)
1. Die Anklagen gegen die Kirche wegen ihrer
Haltung gegenüber dem Krieg verftummen nicht. Gewiß
gibt es allerhand zu kritifieren; aber kaum irgendwo wird
die Stimme einer verftändnisvoll abwägenden, gerechten
Kritik laut; das große Wort haben die allgemeinen, rein
theoretifchen Anklagen, die — wie in zwei wörtlich gleichlautenden
, nur verfchieden betitelten Heften E. Boehmes1
— darin gipfeln, daß die Kirche ,keine direkt kriegsfeindliche
Pofition' eingenommen habe. Auf die einfache
Antwort: ,Weil fie damit ihr Volk inmitten einer waffen-
ftarrenden Welt zum wehrlofen Spielball raubgieriger
Nachbarn gemacht hätte' kommt B. nicht. Während B.
mehr die evangelifchen Kirchen im Auge hat, denkt
1) Böhme, Pfr. Ernft: Was hat die Kirche vor dem Kriege
unterlaffen? (18 S.) 8°. Winnenden, Zentralstelle z. Verbreitg. guter
deut. Lit. 1919. M. — 80
—; Die Unterlaffungsfünde der Kirche vor dem Kriege. (Pazi-
riftifche Volksbücherei, Heft 2). (18 S.) 8«. Stuttgart, Verlagsbuchh.
d. deutfch. Friedensgefellfch. (o. J.). M. — 80
Wieland1 ganz ftark auch an die katholifche. In feinen
Ausdrücken ift er faft noch ftärker; auch ftellt er feine
Anklagen auf eine noch breitere Bafis: ,eine Gefchichte
der Liebe auf Erden ift die Kirchengefchichte wahrlich
nicht'. Beide Brofchüren dienen wefentlich populärer
Agitation.
2. Eine grundlegende Frage befpricht Zoellner2:
Kann die Neuordnung des kirchlichen Handelns auf dem
Prinzip des allgemeinen Prieftertums aufgebaut werden?
Ein gefchichtlicher Überblick und eine grundfätzliche
Betrachtung — die letztere an meine Ausführungen in
der Imftfchrift für G. Kawerau anknüpfend — führt zu
einem Nein. Das Attribut des allgemeinen Prieftertums
gehört der un fichtbaren Krirche. Die empirifche Kirche
darf nicht fo tun, als ob fie die vollendete Kirche wäre.
Unter diefen Umftänden gewinnt für fie das Gnaden-
mittelamt felbftändige bleibende Bedeutung; es ift die
von der Gemeinde gefchaffene und hochzuhaltende Grundlage
ihrer Organifation. Aber Z. will nicht einen von
der Gemeinde unabhängigen Lehrftand; die Kirche als
Subjekt des Handelns ift es, die ihn fchafft. Stimme ich
mit Z.s grundfätzlichen Ausführungen über das a. Pr.
weithin überein, fehe ich mit Freude, daß er auch in der
Stellung, die er dem Amt gibt, und in der Energie, mit
der er gegen ein Monopol des Amtes Stellung nimmt,
Wege geht, die ich gutenteils mitgehen kann, fo bleiben
immerhin gewiffe Unterfchiede, die hier näher zu erörtern
leider nicht möglich ift. — Die kleine Schrift, die der
Veteran Grundemann3 zum 60. Jahrestag feiner Doktorpromotion
gefchrieben hat, greift fehr weit aus. Von
der Weltanfchauung aus nimmt fie Stellung zum Weltkrieg
. In den Rahmen diefer Anzeige gehören nur einige
Ausführungen, die das kirchliche Gebiet ftreifen: dem
Herzenschriftentum foll die erfte beherrfchende Stellung
eingeräumt werden, die verftandesmäßigen Formen follen
in den Hintergrund treten.
3. Zur verfaffungsmäßigen Neugeftaltung der
Kirche nehmen zwei nichttheologifche Lutheraner das
Wort: der Leipziger Jurift Oefchey4 und der Münchener
Freiherr von Pechmann. Oe. befpricht neben Darlegungen
über den Charakter des landesherrlichen Kirchenregiments
als Staatsgewalt die wichtigeren Fragen des Neubaus:
Landesfynode Trägerin der Kirchengewalt, Wahlen durch
die Gemeinde, nicht durch die ,zummmengefchmiffenen
Stimmen der Einzelnen' (er behandelt diefen Punkt genau
fo obenhin, wie das faft überall zu beobachten ift), Verhältniswahl
(trotz mancher Vorzüge abgelehnt), Bifchofs-
frage ufw. Daß er möglichft weitgehende Selbftverwal-
tung der Gemeinden fordert, ift erfreulich; die öfter betonte
Unterfcheidung der religiös verftandenen Kirche
von der Rechtskirche ift nicht überall fcharf durchgeführt;
S. 18 fcheint Vf. anzunehmen, daß das fog. Nicaenum in
Nicaea 325 befchloffen worden fei. Das Ganze ift, wie
viele andere ähnliche Schriften zur Sache, in manchem
anregend, ohne ausgeprägt förderlichen Charakter. —
v. Pechmanns6 Schrift, ein Sonderdruck aus der Neuen
kirchlichen Zeitfchrift, enthält mehr als nur Ausführungen
zur Kirchenverfaffung; der Vf. mußte fich allerhand Gedanken
über Revolution und Recht vom Herzen fchreiben.
1) Wieland, Conftantin: Judas Iscariot. Die Kirche im Weltkrieg
. (32 S.) 8°. Augsburg, Tb.. Lampart 1920. M. 1.80
2) Zöllner, Generalfup. D.: Das allgemeine l'rieftertum der
Gläubigen und die Bedeutung des Gnadenmittelamtes. (Hefte der All-
gem. Kv.-Luth. Konferenz, Heft 7). (21 S.) -80. Leipzig, Dorffling &
Franke 1919. M. —60
3) Grunde mann, l'aft. a. D. Prof. h. c. D. Dr. Reinhold: Die
deutfehe Weltanfchauung und der Weltkrieg. Feftfchrift zur Feier des
60. Jahrestages der Promotion, 1858/1918. (32 S.) gr. 8". Leipzig.
J. C. Hinrichs 1918. M. 1 —
4) Oefchey, Privatdoz. Dr. jur. Rudolf: Grundlinien für den
kirchlichen Neubau. (Hefte der Allgem. Ev.-Luth. Konferenz, Heft 4).
(27 S.) 8°. Leipzig, Dörffling & Franke 1919. M. —70
5) Pech mann, D. Wilh. Freiherr v.: Zur neuen Kirchenverfaffung.
(6a S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert 1920. M. 3.60