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Ausgabe:

1920 Nr. 2

Spalte:

255

Autor/Hrsg.:

Sailer, Joh. Mich.

Titel/Untertitel:

Über den Selbstmord. Neue Ausgabe 1920

Rezensent:

Mulert, Hermann

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255

Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 21/22.

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artiges kann mitten im Katholizismus (ich ereignen, ja
man ift zuweilen verfucht zu fagen: es kann allen wirklich
tief chriftlichen Geiftern dort zu Teil werden. Denn
der ,prophetifche' religiöfe Typus, der Typus der Perfön-
lichkeitsmyftik, ift der genuin chriftliche. Eingefchränkt
wird diefe Annahme nur durch die Bemerkung, daß im
Katholizismus eine folche Frömmigkeit ftets doch nur
inmitten einer Überlieferung lebt, die zum größten Teil
in andere Richtung weift. Die Bedeutung des Luthertums
fei es, daß es alle Folgerungen aus der tiefen, individuellen
chriftlichen Frömmigkeit ziehe. In diefem Urteil ift weder

Sprache (ein Schönheitsfehler iftS. 331 der ,alte Hiftoriker,
ftatt: der Hiftoriker für alte Gefchichte), ficherer Linienführung
verlieht Lenz einen plaftifchen Gefamteindruck zu
erzielen. DabeiiftdieKunftderPorträtierung befonders wohl
gelungen; diefe Virchov, Mommfen, Sendling, der .Herkules,
der die Hydra des Hegelianismus vertilgen follte', Droyfen,
der — auch eine Mahnung an die Gegenwart! — mit feiner,
wie wir heute fagen: ftaatsbürgerlichenErziehunggegenüber
dem forfchenden Ranke gar keinen Erfolg hat, Treitfchke,
der .Herold des deutfehen Reiches', E. Curtius oder die
Alcibiades-Natur des Schweizers Keller, fie alle werden

die Myftik der katholifchen Kirche noch die Gnadenlehre ! in kurzen Strichen meifterhaft gezeichnet! Nicht minder
des Katholizismus und der Reformation richtig gekenn- die leitenden Minifter und Beamten, Puchhorn vorab, deffen
zeichnet. Es handelt fich wirklich nicht bloß um die j lchikanöfer Bevormundung des geiftigen Lebens gegenüber
Frage, ob, wie W. mehrfach andeutet, die Gnade ein Ge- Varnhagen nicht mit dem .Lumpen' fpart, dann natürlich
fchenk fei oder nicht. Daß W. von diefem Gedanken j Althoff, der 1857 wegen Renitenz und Verhöhnung der

nicht loskommt, erklärt wohl auch fein der Korrektur
bedürftiges Urteil über den Thomismus und Occamismus.
Die katholifche Gnadenlehre ift von der reformatorifchen
oder proteftantifchen grundverfchieden. Es ift, in der
technischen Sprache jener Zeit ausgedrückt, der Unterfchied
von übernatürlichem Habitus und Imputation. Doch das
Gefagte will nur den Verfaffer anregen, diefen Fragen

Pedelle und Polizeibeamten das Confilium abeundi und
14 Tage Karzer erhalten hatte (S. 279. ebd. Ähnliches von
Lucanus), feinen Dank dafür durch eine prächtige, unermüdliche
Großzügigkeit abftattete, oder Falk. Endlich
die Könige, Friedrich Wilhelm IV. mit feiner Sucht, lauter
Berühmtheiten nach Berlin zu bringen, fodaß Varnhagen
über ,die verfluchte Rumpelkammer' fpottete, der in fehr

nochmals nachzugehen. Wahrfcheinlich wird er dann j vielen Punkten, wohl ungewollt, wieder einmal in Wilhelm II.
auch die Grenze gegen das fchwedifche Mittelalter etwas feine Parallele findet, in fofern namentlich, als er in ganz
fchärfer ziehen als gefchehen ift. Den eigentlichen Dank | anderem Maße als fein unmittelbarer Nachfolger die Dinge
werden ihm jedochnichtfolchekritifchenRandbemerkungen an der Univerfität felbft machen wollte, trotzdem erft
geben, fondern die gewiffenhafte Befchäftigung mit feiner ; nach 1870 die Alma mater Berolinensis ,das geiftige Leib-
Darftellung und dann vornehmlich wohl die fchwedifche regiment des Haufes Hohenzollern, dem Palais des Königs
Reformationsgefchichte, die Holmquift uns in Ausficht gegenüber einquartiert' (Dubois-Reymond) wurde. Befon-
geftellt hat. ders eingehend und liebevoll hat fleh L. auch der Studenten
angenommen; die viel Neues bietende Darfteilung
ihrer Beteiligung an der Revolution von 1848 wächft fleh
geradezu zu einer kleinen Monographie aus. Ift in die
Darftellung auch eine Gefchichte der Fakultäten eingewoben
, fo kann fich die theologifche Fakultät wahrlich
nicht über Zurückfetzung befchweren. Ich hebe heraus
die eingehende Würdigung der Perfönlichkeit — hier tritt
die innere Haltlofigkeit klar heraus — und des .Falles'

Tübingen. Otto Scheel.

Sailer, Bifch.Joh. Mich.: Über den Selbftmord. Neue Ausgabe. (VIII,
63 S.) kl. 8°. Freiburg i. B., Herder 1919, M. 2—

Von den Beifpielen, die Kant in der Grundlegung zur Metaphyfik
der Sitten für die Richtigkeit feines kategorifchen Imperativs bringt, ift
gerade das des Mannes, der Selbftmord begehen will, nicht beweiskräftig.
Auf die Frage: ,könnteft du wollen, daß alle anderen ebenfo handelten?,
wird diefer Mann, wenn er völliger Peffimift ift, antworten: ,mir wäre
das recht; diefe Welt ift zu fcUMh*. Kants Prinzip bedarf der Er- | Bruno
ganzung, hier durch einen Grundlatz der Kratterhaltung oder-fteigerung. Tr TT 01 1 •• j- t/ i_ «• 1.1 j rt

Auch Sailer hat diefen Grundfatz, der von allen theoretifchen Gründen | Von Hengftenberg hören wir die Ungeheuerlichkeit, daß
gegen den Selbftmord, wenn man folche focht, der ftärkfte ift, nicht ! er gegen Kuno Pifcher intriguiert, dabei aber ein Gutfonderlich
fcharf herausgearbeitet, immerhin unter anderen Argumenten achten über den Erlanger Philofopheil Karl Philipp Fifcher

mehrfach gebraucht, überhaupt liegt der Wert der Schrift nicht fo fehr j einreicht — ,es war ihm alfo nicht einmal der Name,

in ftraffem Gedankenaufbau, als in Lebensweisheit und religiöfer Wärme. ;__<- 1_____■__j;. CA_al„ j„„ n/r___ 11____.__._/■

So mag Ge, obwohl heute die geiftige Lage anders ift als 1785, wo der ! gefchweige die Schriften des Mannes bekannt gewefen,
Werther noch nachwirkte, noch oder wieder gelefen werden. Die Anlage
ift: Gründe gegen, Scheingründe für, Bewahrungsmittel vor dem Selbftmord.
Kiel. H. Mulert.

Lenz, Max: Gefchichte der Königl. Friedrich-Wilhelms-Uni-
verfität zu Berlin. 2. Bd., 2. Hälfte: Auf dem Wege
zur deutfehen Einheit. Im neuen Reich. (XI, 512 S.)
hoch 40. Halle a. S., Buchh. des Waifenhaufes 1918.

M. 10 —

Aus dem Frühjahr 1918 datiert diefer zweite Band
der Darfteilung von Max Lenz' Gefchichte der Univerfität
Berlin, und es fleht fall aus, wie wenn von dem
Schwung, der gerade damals unfer Volk befeelte, etwas
in das Äußere und Innere hineingekommen wäre: es ift
noch das feine Papier und die fefte Heftung der guten

gegen den er den Minifter aufgebracht hatte'! (S. 291)
Stehen wir heute in Gefahr, die Leiftung der fog. Vermittlungstheologie
zu vergeffen, fo hebt Lenz mit Recht ihre
Bedeutung innerhalb der Gefamtgefchichte hervor. Stolz
aber dürfen wir darauf fein, daß Dillmanns Rektoratsrede
vom 15. Okt. 1875 dem neuen, freieren Geifte vollften Ausdruck
gab (S. 354). Alles in Allem: ein erhebendes Werk
deutfehen Geiftes und deutfeher Gefchichte 1

Zürich. W. Köhler.

Win ekel, Ds. W. F. A.: Leven en Arbeid van Dr. A. Kuyper.

(XV, 326 S. m. 1 Bildnis.) gr. 8°. Amfterdam, W.
ten Have (1920). f. 6.25

Abraham Kuyper wird immer eine der bedeutendften
und intereffanteften Perfönlichkeiten in der Gefchichte
alten Zeit, und die von ftarkem, aber niemals aufdringlichem der Theologie und der Kirche bleiben, aber auch auf
nationalen Pathos getragene Darftellung klingt aus in die allen anderen Gebieten der wiffenfehaftlichen Forfchung

Worte Mommfens: ,Wir wünfehen nichts weniger als auf
unferen Lorbeeren auszuruhen; auf Lorbeeren ruht es fich
fchlecht. So weit und nun noch weiter! Das ift die
Lofung der Zukunft!' Die beiden Hauptteile aber tragen
die Überfchrift: auf dem Wege zur deutfehen Einheit, im
neuen Reich. Man lieft das Alles heute mit tieffter Wehmut
und bitterftem Schmerze, und doch follte kein Deutfeher
, vorab kein Preuße, diefe monumentale Gefchichte der
führenden Univerfität des Reiches ungelefen laffen: unvergeßlich
zieht ein Stück Geiftesgefchichte vorüber, auf die
wir ftolz fein dürfen für alle Zeiten! In ftiliftifch gefeilter

und des gemeinfehaftlichen Lebens unverwifchbare Spuren
zurücklaffen. Nur aus diefer Überzeugung erklärt fich
Pfarrer Winckels eingehende Analyfe der Werke und der
Arbeit Kuypers, die wir in dem obigen Buche vor uns
haben. Seine liebevolle Verfenkung in alle Einzelheiten
geht weit über das hinaus, was gemeinhin einem lebenden
Theologen an Aufmerkfamkeit zugewendet wird. Wer
Winckels Buch kennt, kennt Kuyper; kennt ihn fo, wie ihn
feine Freunde fehen. Diefe populärwiffenfehaftliche Studie
gibt einen zuverläfligen Auszug aus allen irgendwie bedeutungsvollen
Schriften und erläutert Kuypers Tätigkeit