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Ausgabe:

1920

Spalte:

236

Autor/Hrsg.:

Baumgarten, Otto

Titel/Untertitel:

Die Not der akademischen Berufe nach dem Friedensschluß 1920

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Seite 1

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Im einzelnen find zwei Hauptpunkte hervorzuheben,
l. Tatfachen als folche können nie der ,Beweis' für ihnen
zugeordnete Werthaltungen fein. Alfo felbft dann, wenn
der theoretifche Materialismus mit der Lehre von der
fpezififchen Realität der Materie recht hätte, liebe fich
daraus das .Werturteil' des praktifchen Materialismus nicht
.ableiten'; denn auch dann würde diefes Werturteil immer
noch die apriorifche Höherwertung des Realen zur Voraus-
fetzung haben. 2. Auch Abhängigkeiten beweifen hier
nichts. Die Abhängigkeit des Geiftes von der Materie
vorausgefetzt, und zwar im Sinne der einfeitigen Abhängigkeitslehre
, fo könnte aus ihr nur vermöge der gänzlich
unzuläffigen Ideenaffoziation von Abhängigkeit und Sklaverei
irgendwie konkludent auf den Minderwert des Geiftes
gefchloflen werden.

So wenig fich alfo der praktifche Materialismus ohne
den unableitbaren Gefinnungskoeffizienten in feinen phi-
lolophifchen Anfprüchen behaupten kann, fo wenig kann
er durch bloßes Denken überwunden werden. Zu feiner
Überwindung wird ftets eine Gerinnung erforderlich fein,
in der fich ein unabweislicher Glaube, der Glaube an die
überlegene Bedeutung des Geiftes auswirkt. Schätzungen
find eigentlich Erziehungswerte. Man muß felbft in der
Schätzung des Geiftes leben, um fie in anderen hervorzurufen
.

Dies die Umrifie des vorliegenden, wohldurchdachten
und bemerkenswert gutgegliederten Buches. Ich möchte
noch darauf aufmerkfam machen, daß zwifchendurch allerlei
Fragen geftreift und Urteile gefällt werden, die zum
Nachdenken anregen. Z. B. über den Begriff des Zeitgeiftes,
über den klaffifchen Trugfchluß des abfoluten Idealismus
(S. 56), über den Aberglauben des methodologifchen Primitivismus
(S. 102), über den Begriff der pfychifchen Sub-
ftanz (S. 256), über Panpfychismus, Unfterblichkeit und
ganz befonders über den Begriff der plychifchen Kaufalität.

Kritifch möchte ich Folgendes bemerken. Das Problem
des pfychophyfifchen Funktionszufammenhanges (mit
Einfchluß der pfychifchen Kaufalität) hätte m. E. eine eingehendere
Erörterung verdient. Auch würde ich die Bedeutung
des Naturquantums für den Geift gern etwas
kräftiger betont gefehen haben. Es ift nach Nietzfche
(den ich in diefer Auseinanderfetzung vermiffe) nicht über-
flüffig, dafür zu forgen, daß der Idealismus unter keinen
Umftänden als eine fchwindfüchtige Weltanfchauung cha-
rakterifiert werden kann. Auch der gefchichtsphilofo-
phifche Materialismus, der nur einige Male geftreift wird,
hätte eine gründlichere Erörterung verdient. Die Kritik
des radikalen Materialismus hätte dafür wohl etwas kürzer
fein können. In der Ablehnung der kritifchen Identitäts-
metaphyfik vermiffe ich die Auseinanderfetzung mit Kant
(Pfychologifche Paralogismen) und Riehl (Einführung in
die Imilofophie der Gegenwart). Ich bin im Gegenfatz
zu H. der Anficht, daß eine folche Metaphyfik nicht nur
berechtigt ift, fondern uns durch die Natur der Dinge und
das Einheitsbedürfnis unferes Verftandes gewiffermaßen
aufgedrängt wird.

Kiel. Heinrich Scholz.

Fichte, Johann Gottlieb: Predigten. Hrsg. u. mit einer
Einleitg.: .Fichte der Prediger' verfehen v. Pfarrer Doz.
Dr. Maximilian Runze. (70 S.) gr. 8°. Leipzig,
F. Meiner 1918. M. 4 —

Daß Pichte oft und gern gepredigt hat, ift wenig
bekannt; ihn als Prediger kennen zu lernen, ift recht wertvoll
. Hier find fünf Predigten abgedruckt, zwei zum
erften Mal, darunter eine nur als Fragment erhaltene. R.
teilt in einer Einleitung das Wefentliche über Fichte als
Prediger mit, fucht auch die Beeinfluffung durch andere
feftzuftellen. In letzterer Beziehung find feine Mutmaßungen
teilweife vorfchnell; ob man gerade an Zollikofer,
Spalding und I. A. Schlegel (letzterer war doch fehr
anders als die erfteren!) denken muß, ift recht zweifelhaft
. Jedenfalls gehören die Predigten in die engere

Gruppe der philofophich-vernünftigen Predigten jener
Zeit hinein, zeichnen fich aber innerhalb dieler Gruppe
durch Gedankengehalt kräftig aus. Befonders bemerkenswert
find Nr. III (Abendmahl; ganz eigentümliche Lehr-
aufftellung) und Nr. IV (Feindesliebe, ohne Beziehung auf
Krieg). Der Herausgeber hat fich durch feine mühläme
Arbeit (kaum lesbare Handfchriften!) ein Verdienft erworben
.

Gießen. M. Schian.

' Baum garten, Prof. D. Otto: Die Not der akademifchen
Berufe nach dem FriedensfchluB. (IV, 63 S.) gr. 8°.

Tübingen, J. C. ß. Mohr 1919. M. 1.80

Im Auftrag des preußifchen Unterrichtsminifteriums,
unterftützt durch das allerdings unzureichende, ffatiftifche
j Material der Zentralftelle für Berufsberatung in Berlin
i und durch den Referenten der Kieler Zentralauskunft-
Itelle Herrn Dr. Hermes, hat Baumgarten 1919 in Kiel
j vor jungen Akademikern eine Vortragsreihe gehalten, um
fie über die erfchreckend geringen Ausfichten der akademifchen
Berufe in unferem durch den fogen. Verfailler
; Frieden verkleinerten und verarmten und durch das Auf-
j fteigen der Handarbeiter fozial umgekehrten Deutfchland
aufzuklären und fie von dem Befchreiten diefer Laufbahn
abzufchrecken, ja zum Umfatteln in andere, zumal hand-
j arbeitende Berufe anzufpornen — foweit nicht ein ftarker
innerer ,Ruf' fie berechtigt und nötigt, einen akademifchen
.Beruf zu ergreifen. B. konnte damals feftftellen,
j daß die Theologen (mit Zahnärzten, Volkswirten und
! Chemikern) zu den wenigen Gruppen gehören, die Aus-
| ficht auf baldige Anftellung haben (N. B. Warum ift
I der Tierärzte gedacht, aber nicht der Akademiker von
j den technifchen Hochfchulenf) Aber auch für fie gilt
die Mahnung, fich auf geringe äußere Entlohnung ein-
! zurichten und den Lohn ihrer Arbeit im Erfüllen des
j Berufes felber zu fuchen.

B. ift fich der Unvollftändigkeit feines ftatiftifchen
I Materials und der Unberechenbarkeit der kommenden
wirtfchaftlichen Verhältniffe, auch der Unzugänglichkeit
des jugendlichen Optimismus voll bewußt. Aber er hat
1 ein hochnötiges Werk getan, das allen Dank verdient,
I denn in welchem Maße ein leerer Optimismus und Illufio-
nismus auch alte Leute beherrfcht, davon legte die Berliner
j Reichsfchulkonferenz dem nüchternen Zufchauer ein er-
! fchütterndes Zeugnis ab. Daneben geben B.s- grundfätzliche
Ausführungen einen wertvollen Beitrag zur Sozialethik der
akademifchen Berufe. Wir brauchen in ihnen weniger
akademifchen Dünkel und mehr inneren Beruf und reinen
! Idealismus, der im geiftgen Beruf felber feine Befriedigung
findet. Äußere Armut mag diefen inneren Reichtum
befördern, — wenn nur der deutfche Akademiker
nicht fo verarmt, daß er von aller Kultur abgefchnitten
wird. Das ift die große Not der deutfchen Wiffenfchaft
und Kultur, die mir feit vielen Monaten keine Ruhe läßt.
Hannover-Kleefeld. Schuft er.

Bibliographie

von Oberbibliothekar Kippenberg in Leipzig,
Univerfitätsbibliothek.

Bezug!. Hinweife und Sendungen find jederzeit erwün/che.

1. Jüngft erfchienene Befprechungen.

LeipolcU: Männliche Art Jefu (KDeißner: ThGgw 1918, 6; Klfhs:
RefKZtg '18 LtBeil 7,8; Fiebig: I.tZtbl '19, 14; Jordan: ThLtber '19,
3: FSchultzen: ThLtbl '19, 9; WTreblin: EvFrbt '19, 6).

I Lemmens: Franziskaner im hl. Lande 1 (VS: LtZtbl 1918, 36 u.
51/52; FSchwager: Ltlldw 1918, 10; KBihlmeyer: ThQs '19, 2/3).

J Leopold: Ontwikkeling van hct hcidendom in Rome (GvanderLeeuw:
ThTijds 1919, 2; GAvdBerghvan F.ylinga: NThTijds '19, 3; JJHart-
mann: Mufeuin 26, 6, '19 März; UTObbink: NThStud '19, 3).
Lepfius: Leben Jefu (Kannegießer: MsHöhSchul 18, 3,4, '19; Studft
'19, 2; WTreblin: EvFrht '19, 3; AUgMÜTZ '19, 4; HEWeber: Gstk
Ggw '19, 5; Leipoldt: ThLtbl '19, 15; Kögel: ThLtber '19, 8;
SchweizThZ '19, 4; Deißner: ThGgw '19, 6; PMehlliorn: PrtMlih

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