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Ausgabe: | 1920 Nr. 1 |
Spalte: | 183-184 |
Autor/Hrsg.: | Dvornikovic, Vladimir |
Titel/Untertitel: | Die beiden Grundtypen des Philosophierens 1920 |
Rezensent: | Jordan, Bruno |
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Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 15/16.
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1815—1915. Hundert Jahre preußifcher Herrfchaft am
Rhein' (1917). Außer H.s Beitrag zu diefer prächtigen
Feftgabe (vgl. über das Ganze P. Wentzcke in der Hift.
Zs. 121, S. 123 ff.) ift auch die inhaltvolle kurze Dar-
ftellung über ,Die katholifche Kirche und ihr Recht in
den preußifchen Rheinlanden', die Ulrich Stutz beige-
fteuert hat, gefondert erfchienen (1915, alfo 2 Jahre vor
Ausgabe des Ganzen; VI u. 36 S., S. 35 f. eine gute Literaturauswahl
). Hänfen verfteht es vortrefflich, die Erzählung
der rheinifchen Gefchichte einzubetten in die
Darfteilung der allgemeinen preußifch-deutfchen Gefchichte
. Dabei konnte er, der Rheinländer, am aller-
wenigften vergeffen, daß gerade in der Rheinprovinz die
.Hundert Jahre politifchen Lebens' feit 1815 auch kirchen-
gefchichtlich, insbefondere für die Machtftellung der !
katholifchen Kirche von höchfter Bedeutung gewefen find.
H., deffen Hinneigung zu den politifchen Gedanken und
dem Bildungsideal eines ernften, beftimmten, gefchicht-
lich befonnenen Liberalismus fich nirgends verborgen hält,
zeigt ein feines Verftändnis für die Verknüpfung des |
Kirchlichen mit der allgemeinen Politik. Die klerikale
Bewegung wird nicht lediglich nach ihrer politifchen Aus- |
Wirkung beurteilt, H. erfaßt fie zugleich in ihrem breiten
kirchlichen Unterbau, er beobachtet die Grundfätze und
die Taktik, er berührt die geiftigen Vorausfetzungen der
katholifchen Politik, er unterläßt es nicht, auf die wich- j
tige Wirkfamkeit der katholifchen Vereine und Literaten
wenigftens gelegentlich hinzudeuten. Aus dem 2. und
3. Kapitel (— 1848) feien die Bemerkungen über rheinifchen
Klerus, katholifche Kirche und preußifchen Staat
hervorgehoben (S. 46 ff., 61 ff), aus dem 5. Kapitel die
klaren Darlegungen über die Stellung der Rheinländer in
der katholifchen Fraktion des Landtags, aus dem Schlußkapitel
die Behandlung der Vorgefchichte und Anfänge
der Zentrumspartei (l89ff) und die bis zum Sommer 1914
führenden Erörterungen über die katholifche Gewerk-
fchaftsfrage (237 fr.). H. bleibt immer frei von Leiden-
fchaftlichkeit, bleibt aber auch feft in feinen Urteilen;
feine durchfichtige Darftellung läßt ein berechtigtes Gefühl
der Sicherheit aufkommen.
Zu S. 193 unten darf ich vielleicht bemerken, daß über die Aufnahme
und die Wirkungen von Kcttelers Buch .Deutfchland nach dem Kriege
von 1866' die Biographie Kettelers, die ich im nächften Jähre hoffentlich
endlich werde vorlegen können, einiges Neue bringen wird. S. HO
und 143 ift ftatt Aulicke feine verbreitete falfche Schreibung) Aulike
zu lefen. Zu der Literatur könnte man wohl verfucht fein, diefes oder
jenes nachzutragen, obwohl der reichhaltige Quellen- und Literaturnach-
weil S. 149—256 vortrefflich ausgewählt ift. Auf die Gefahr hin, H.
nichts Neues zu fagen, verweife ich auf die Briefe, die Alfred Boretius
186t aus Bonn fchrieb (A. B., ein Lebensbild in Briefen, 1900, S. 155 ff);
fie laffen erkennen, welche Vorftellungen damals der gebildete Deutfche
des Oftens vom Rheinland hatte, und zeigen deren Berichtigung durch
die Eindrücke der Wirklichkeit, über Binterim und Laurent vgl. man
jetzt auch die wichtige Veröffentlichung von H. Schrörs: Annalen d.
hift. Ver. f. d. Niederrhein 104 (1920) S. 1—85.
Gießen. F. Vigener.
Dvornikovie, Dr. Vladimir: Die beiden Grundtypen des
Philofophierens. Verfuch zu e. pfycholog. Orientierg.
in den philofoph. Strömgn. der Gegenwart. (Bibl. f.
Philofophie, 15. Bd., Beilage z. H. 2 des Archivs f.
Gefell, der Philofophie, Bd. XXXI.) (44 S.) gr. 8°. |
Berlin, L. Simion Nachf. ,1918. . M. 2.50
Der Verfaffer verfucht in den philofophifchen Strömungen
der Gegenwart ,pfychologifch' zu orientieren.
Er ftellt zwei Grundtypen des Philolophierens auf, die in
ihren Anfatzpunkten in der .breiteren, allgemein pfychi-
fchen Konftellation' gegründet find. Der erfte Typus,
die .platonifierende Philofophie', läßt z. B. die Erkenntnistätigkeit
nach einem als fertig vorausgefetzten morpho- ;
logifchen und ideologifchen Gerüft orientiert fein. Der |
zweite Typus beginnt mit Locke und Hume, die zuerft j
an dem eifernen Gerüft der traditionellen Erkenntnis- j
morphologie ernftlich zu rütteln gewagt haben. Diefe
Art geht vom Gegebenen, Empirifch-Konkreten aus und
greift erft von hier aus zur formalen, ideologifchen Sub-
tilität hinüber. Nicht die Darfteilung dieses bekannten
Gegen fatzes, der hier freilich viel tiefer und breiter als
gewöhnlich fundiert erfcheint, ift nach meiner Überzeugung
das Wertvolle in der Schrift, fondern der Verfuch, den
Gegenfatz tiefer als üblich in der ganzen Breite des Er-
lebniffes, in der Tiefe der pfychifchen Realität zu verankern
. Der Verfaffer neigt im Ganzen mehr dem zweiten
Typus zu, deshalb ift feine Einftellung von vornherein
nicht ganz unparteiifch; aber der Verfuch, die philofophifchen
Gegenfätze auch einmal von der Seite pfychifchen
Erlebens her zu verliehen und zu deuten, ift an
fich gewiß fehr verdienftlich. Die Schrift ift dem Andenken
an Friedrich Jodl gewidmet und verrät auf Schritt
und Tritt die deutlichen Einwirkungen diefes in feiner
Art hervorragenden Pfychologen und Denkers. Das von
dem Verfaffer mit Gefchick geftellte und in Einzelheiten
gewiß geklärte Problem fordert zu erneuter, vertiefter
Behandlung auf. Der Verfaffer felbft ift mit als erfter
zur Mitarbeit berufen.
Bremen. Bruno Jordan.
Steinbeck, Konfift.-R. Prof. D.: Das Chrirtentutn als Religion der
Kraft. Eine rcligionspfycliolojj. Studie. (Zeit- und Streitfragen de.s
Glaubens ufw. XIII. Reihe, 2/3. Heft.) (37 S.) 8". Berlin-Lichtcrf.,
E. Runge 1919. M. t.70
St. knüpft an das Bedürfnis, Verlangen, den Notfchrei der Gegenwart
nach Kraft an und fragt, ob die chriftliche Religion als Kraftquelle
gelten kann. Er läßt uns zunächft das Verdammungsurteil der
Eeuerbach, v. Hartmann, Stirner und vor allen Nietzfche hören, um
fodann lichtvoll und überzeugend auszuführen, daß der Chrift, obwohl
er fich fchwach fühlt vor Gott, obwohl er Gott — nicht Menfchen —
in Demut gegenüberfteht, einen Kraftzufiuß empfängt, der ihn zu fefter
Glaubenszuverficht, zu Liebeswirken, Wahrhaftigkeit, Furchtlofigkeit und
Kampf gegen alles Gottwidrige befähigt, wie befonders das Beifpiel
Jefu beftätigt. Auch Geduld und Sanftmut und Bereitfchaft zu verzeihen
find nicht minder Kraftbeweifc wie der echtchriftliche heilige
Zorn gegen die Sünde.
Der Verf. nennt feine Abhandlung eine rcligionspfychologifche
Studie. Doch wohl kaum mit Recht, wenigftens dann nicht, wenn man
unter Religionspfychologie eine empirifche Wiffenfchaft verfteht. Er
leitet aus Prinzipien ab und fchildert das ideale Chriftentum. Eine
nicht minder reizvolle, freilich fchwierigere Aufgabe würde es fein, den
in dem chriftlich religiöfen Individual- und Gemeinfchaftsleben gegebenen
religionsgeichichtlichen Beftand unter obigem Gefichlspunkt vorurteilsfrei
darzuftellen und zu analyfieren.
Iburg. , W. T h i m m e.
Rafhdall, Haftings, D. Litt, D. C. L, L. L. D.: The Ideal
of Atonement in Chriltian Theology. Being the Bampton
Lectures for 1915. (XIX, 502 S.) 8". London, Mac-
millan & Co. 1919. sh. 15 —
Das Buch enthält acht Voilefungen, die auf Grund
des Bamptonfchen Legats 1915 in Oxford gehalten worden
find. Das Thema bildet die chriftliche Heilslehre, fpeziell
die Lehre von der Verföhnung. Der Verfaffer ift fich
bewußt, das diefe für viele das wertvollfte Stück der
chriftlichen Verkündigung, für andere wieder einen Stein
des Anftoßes bedeutet. Er will daher ihrem Urfprung..
nachgehen, will feftftellen, welches religiöfe Bedürfnis
oder Erlebnis ihr zu Grunde liegen mag, und in welcher
dem modernen Bewußtsein angemessenen Form fie
bei der Pflege chriftlicher Gefinnung noch immer Dienfte
leiften kann. Zu diefem Zweck geht er zunächft die
Gefchichte der Lehre bis auf Luther durch.
Er kommt zu dem Ergebnis: daß die eigentliche Ver-
föhnungslehre niemals zur Verkündigung Jefu gehört hat;
daß fie dagegen, wenn auch mit einer gewiffen Zurückhaltung
, von Paulus vorgetragen worden ift, vorbereitet
und veranlaßt durch die Deutung einzelner altteftament-
licher Weissagungen und das Ärgernis an dem Kreuzestod
eines Meffias; daß fie in der griechifchen Theologie
zurücktritt, im Abendland fehr verfchiedene Geftalten
annimmt, eine andere bei Anfelm, eine andere bei Abä-
lard, wieder eine andere in der Spätfcholaftik; daß fie
als Satisfaktions- und Stellvertretungstheorie in der radi-
kalften und kraffeften Form von Luther dargeboten