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Ausgabe:

1920 Nr. 1

Spalte:

177-178

Autor/Hrsg.:

Wundt, Max

Titel/Untertitel:

Plotin. Studien zur Geschichte des Neuplatonismus. 1. Heft 1920

Rezensent:

Windisch, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1920 Nr. 15/16.

178

ficher weder er noch andere Folge geben würden, um
fich der Frage nach Anfang und Ausmündung des
Mittelalters unter dem Gefichtspunkt der üblichen Dreiteilung
zuzuwenden. Er fchließt fich der Auffaffung jener
Gelehrten an, die die Zeit Gregors des Großen als den
Wendepunkt zwifchen Altertum und Mittelalter anfehen
möchten. Der Wert feiner eigenen Beobachtungen liegt
darin, daß er der Beeinfluffung des Occidents durch den
Orient nachgeht und fich dabei nicht auf Allgemeinheiten
befchränkt, fondern mit konkreten Belegen arbeitet, wobei
ihm feine große Belefenheit in Quellen und Literatur
vorteilhaft zuftatten kommt. Ich mache befonders auf
die neue Beleuchtung der Anfänge des mittelalterlichen
Bußwefens aufmerkfam, denen Göller übrigens im größeren
Zufammenhang noch weiter nachgehen wird. Der
letzte Teil der Abhandlung führt durch eine Betrachtung
der kirchlichen Hochkultur des Mittelalters zur Frage
nach feiner Ausmündung, wobei er Nachdruck auf die
Feftlegung der Ausgangspunkte der katholifchen Entwicklung
in der Neuzeit fällt. Auch hier hat Göller Unbeachtetes
oder wenig Beachtetes in neues Licht gerückt.
Gießen. G. Krüger.

Wundt, Prof. Max: Plotin. Studien zur Gefchichte des
Neuplatonismus. 1. Pleft (V, 72 S.) gr. 8°. Leipzig,
A. Kröner 1919". M. 3 —

Müller. Schulrat Dr. H. F.: Dionyfios, Proklos, Plotinos.

Ein hift. Beitrag zur neuplaton. Philofophie. (Beiträge
zur Gefchichte der Philofophie des M.-A. Texte und
Unterfuchgn., Bd. XX, Heft 3/4.) (111 S.) gr. 8Ü. Mün-
fter i. W., Afchendorff 1918. M. 5 —

1. In diefem erften Heft feiner Studien zur Gefchichte
des Neuplatonismus hat M. Wundt, jetzt Nachfolger
Euchens, drei Arbeiten zufammengefügt, die auch für
Theologen anregend find. In der erften dem Schrifttum
Plotin's gewidmeten Studie behandelt er zunächft
die literarifche Entftehung und den literarifchen Charakter
der Enneaden; in Weiterführung der Unterfuchungen von
W. W. Jäger (über Ariftotelesj und W. Bouffet (Schulbetrieb
in Alexandria) zeigt er, wie auch die einzelnen
Schriften Plotins aus dem Lehrbetrieb hervorgegangen
und zunächft nur im Schülerkreis verbreitet gewefen find
(man denke an die ältefte chriftliche .Literatur', etwa die
Briefe des Paulus). Weiter glaubt er die fchon von Por-
phyrius gelegten aber etwas äußerlich gefaßten drei
Zeitabfchnitte in derSchriftftellerei des Plotin im Sinne einer
Entwicklungund wechfelnden Beeinfluffung charakterifieren
zu können: die erfte Periode mehr platonifch, die zweite
(abgefehen von den Bekehrungsfchriften, z. B. den gegen
die Gnoftiker) vorwiegend ariftotelifch, die dritte ftoifch
gerichtet. Die Hauptlinie wird damit jedesmal wohl richtig
gezeichnet fein; aber die Einteilung ift natürlich cum
grano salis zu nehmen: ftoifches findet fich fchon früher
und platonifches Gedankengut infpiriert den Philofophen
bis in feine letzten Tage. Sehr fein wird übrigens
der Wechfel in den Themen und Gedankengängen auch*
zu den äußeren Erlebniffen Plotins in Beziehung gefetzt.
Wie Plotin, der Elemente aller vorangegangenen Schulen
in fich zu verarbeiten wußte, doch das Übernommene
geiftvoll umarbeitete und Neues daraus fchuf, zeigt W.
dann an dem Beifpiel des Schaufpielervergleichs, eines
beliebten Motivs der Kynifch-ftoifchen Diatribe.

In der zweiten Studie handelt W. über die Beziehungen
Plotins zum Kaifer Gallien und feine Stellung
zum Staat. Ich hebe hier als befonders intereffant die
Würdigung des Staates und die Beurteilung des Krieges
bei Plotin heraus, weil beides offenkundig im polemifchen
Gegenfatz zu der Haltung der Chriften ausgeführt wird, j
Hier fieht man deutlich, wie eine Welt- und Lebensan- |
fchauung geftaltet fein muß, die Staat und Krieg pofitiv 1
zu würdigen vermag. Die Gedanken, die noch immer
viele Exegeten undDogmatiker zur Rechtfertigung desKrie- j
ges aus demN.T.herauslefen, find vielmehr mit denen Plotins I

verwandt, der fie gegen das Chriftentum kehrt und nicht
ganz zu Unrecht. Denn das Heldentum, das die Evangelien
lehren, ift ein anderes als das an den Staat gebundene
und im Krieg feine höchfte Betätigung findende
hellenifche Heldentum, das in der Nachfolge Piatos hier
auch Plotin verherrlicht.

Sehr viel Treffendes enthält auch die letzte Studie,
die den religiöfen Gedanken Plotin's gewidmet ift. W.
zeigt ein warmes Verftändnis für die religiöfen Ideale, von
denenPlotin ergriffen ift (anders als etwa E.Schröder in feiner
der Theodizee Plotins gewidmeten Diflertation 1916). Ich
möchte hier nur leife Bedenken gegen den Titel ,Plotins
Evangelium'äußern; gewiß wird man Plotin als religiöfen Erzieher
, ja vielleicht auch als religiöfen Reformator bezeichnen
können; was er predigt, ift eine Art Erlöfung
und auch er faßt feine Lehre gern in die Formen der
Myfterienlehre (vgl. etwa die letzte Abhandlung). Aber
ein eigentliches Evangelium möchte ich ihm abfprechen.
Dazu gehört doch die Botfchaft, daß irgend ein Heiland
erfchienen (Attis, Auguftus, Chriftus ufw.) oder daß irgendwo
ein Heil bereitet ift und angeboten wird. Plotin
aber lehrt unzweideutig die Selbfterlöfung. Bei Philo,
der fo fcharf gegen die Selbfterlöfung ankämpft, kann
man viel eher von Evangelium fprechen als bei Plotin.

Wir freuen uns, daß W. feine plotinifchen Studien
fortfetzen will. Eine dringende Aufgabe fcheint mir eine
genaue Unterfuchung der Beziehungen Plotin's zu Philo
(was Schröder a. a. O. 68ff. ausführt, fcheint mir ungenügend
) und weiter eine eingehende Vergleichung der
von Plotin angeregten Bewegung zum hermetifchen
Schriftenkreis. Namentlich auf das Problem der Herme-
tika kann von Plotin aus noch neues Licht geworfen
werden. Vielleicht bezieht W. auch diefe Fragen in
feinen Studienkreis ein.

2. Über die Nachwirkungen Plotins bis in die chriftliche
Theologie hinein handelt die Schrift des bekannten
Plotinforfchers H. F. Müller, auch fie in drei Einzel-
ftudien, deren erfte einem Vergleich der Theodizee bei
Proklos und bei Plotin gewidmet ift, während die zweite
und dritte die plotinifchen Anleihen in den Schriften des
Dionyfius Areopagita Unterpacht. Wie die Arbeit von
Wundt ift alfo auch diefe Schrift für die Gefchichte der
Theodizee fehr ergiebig und eine willkommene Vorarbeit
für den, der noch einmal die Entwicklung der altchrift-
lichen Theodizee darftellen zu können hofft. Proklos
hat den Problemen der Theodizee drei Traktate gewidmet,
und M. weift nach, wie fie alle mit Plotinifchem Gedankengut
arbeiten; die wichtigfte Abweichung ift die Ablehnung
der Plotinifchen Lehre vom Urböfen. Auch Ps.-Dio-
nys ift ein getreuer Anhänger Plotins. M. macht es fehr
wahrfcheinlich, daß der Hierotheos, den Dionys neben
Paulus als feinen Lehrmeifter aufführt, eben Plotin ift
(nicht Proklos). M. unterfucht nun nacheinander die Licht-
metaphyfik, die Lehre vom Guten und Schönen, vom
Eros und die Theodizee bei Dionys und weift ihren plato-
nifch-plotinifchen Urfprung nach; gelegentlich werden
auch die ,chriftlichen' Ergänzungen und Korrekturen ge-
ftreift, fo die Identifikation der Ideen mit den hingeht,
die fchon Philo vollzogen hat und die Zufammenftellung
des hellenifchen Eros und der paulinifchen Agape. Auch
in die Theodizee fcheint chriftliches Gedankengut einge-
floffen zu fein. Im letzten Kapitel befchäftigt fich M.
mit der Gotteslehre und mit den Wegen zur Erkenntnis
Gottes und zur Vereinigung mit Gott. Wir lefen hier
Auszüge aus Plotin, die fchönften Befchreibungen der
myftifchen Vereinigung mit der Gottheit. Dionys hat die
Gotteslehre weitergeführt und im Gegenfatz zu Plotin,
der die Hilfe der Theurgie verfchmähte, aber in Analogie
zu Jamblich die Myftik mit dem Myfterienkult der Kirche
verknüpft. Aber fein eigentlicher Führer ift Plotin, und der
Nachweis, daß Dionys nicht nur aus Proklos, fondern auch
aus Plotin gefchöpft hat, ift der Leitgedanke des Buches.
Leiden. H. Windifch.