Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1919 Nr. 1

Spalte:

160-161

Autor/Hrsg.:

Jodl, Friedrich

Titel/Untertitel:

Allgemeine Ethik. Hrsg. v. Wilhelm Börner. 1. u. 2. Aufl 1919

Rezensent:

Haering, Theodor

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

159

Theologifche Literaturzeitung 1919 Nr. 13/14.

160

läßt indeß eine Beurteilung vom eignen Standpunkte aus
vermiffen. Er fetzt vielmehr die Begrenztheit der Vernunft
gegenüber der Unendlichkeit der Welt, wie deren
völlige Irrationalität von vornherein ohne weiteres als
bewiefen voraus (fchon Seite 5 der Einl.) Infofern jedoch
jene Unendlichkeit der Welt — wie auch Vaihinger in
feiner Phil, des Als Ob nachweift — felbft eine Fiktion,
wie anderfeits ihre gänzliche Irrationalität ein Vorurteil
fein follte, fielen fchon die Grundlagen der N.fchen Erkenntnislehre
dahin (Vgl. mein ,Wefen der Erkenntnis'
C. Winter, Heidelberg 1909).

Wernigerode. Paul Schwartzkopff.

Jelke, Pfr. Lic. Rob.: Das Problem der Realität und der
chriltliche Glaube. Eine Unterfuchung zur dogmatifchen
Prinzipienlehre. (X, 248 S.) gr.8°. Leipzig, A. Deichert
1916. M. 5.50

Das Buch ift dem Andenken an den uns leider fo
früh entriffenen Max Reifchle gewidmet. Der Verfaffer
ift in feiner Studienzeit Reifchles Amanuenfis gewefen
und bekennt, feinem Lehrer die Liebe zur Philofophie
und zur Auseinanderletzung der theologifchen Fragen
mit der philofophifchen Arbeit und den modernen philo-
fophifchen Problemen zu verdanken. In feiner eigenen
theologifchen Stellung ift J. dann freilich von Reifchle
weit abgerückt und fieht jetzt das Ideal der theologifchen
Syftematik in der Vereinigung der Erlanger Bewußtfeins-
theologie mit dem Kählerfchen Biblizismus, wobei er das
Schwergewicht auf die leibhaftige' d. h. für ihn nicht bloß
die wahrhaftige, fondern gerade auch die finnlich-naturhafte
Auferftehung Jefu Chrifti legt.

So wird der eigentümlich zwiefpältige Charakter des ganzen Buches
verftändlich. Der Geift Reifchles wirkt in den philofophilch-erkennt-
nistheoretifchen Erörterungen der erden Kapitel nach, die in weitem
Umfange eine ernfte, tiefdringende und fachlich förderliche Befchäfti-
gung mit dem Realitätsproblem bieten. J. hält fich dabei zunächft
wefentlich in den Bahnen Külpes. In der für feine Gefamtbetrachtung
befonders bedeutfamen Frage nach der Möglichkeit der .Erfahrung'
transfub';ektiver pfychifcher Realität entfeheidet er fich indes doch fcharf
gegen Külpe und gewinnt erft dadurch den Stützpunkt für feine theologifche
Pofition, indem er von hier aus die Grenzlinie Zwilchen em-
pirifcher und religiöfer Erfahrung verwifcht.

Das Gewichtlegen auf die religiöfe Erfahrung unter dem Ge-
fichtspunkt ihres Wahrheits-Intereffes führt J. — und auch das
ift wieder eine Nachwirkung der Anregungen Reifchles — vorübergehend
nahe an die von dem Unterzeichneten befürwortete religionsplycholo-
gifche Betrachtungswcife. Die Argumentation, mit der er fich ihr entzieht
, um dann jenen lehr andersartigen, vorher kurz fkizzierten Weg
einzu'chlagen, beruht aber auf einer vollftündigen Veikennung ihres
eigentlichen Welens. Wohl gibt fie die Anweilung, aus den in der
Gelchichte vorliegenden Ausdrucksformen der Religion die fpezififch
religiöfen und fodann fpeziell die fpezififch chriftlichen Grundmotive
zu erheben, aber fie behauptet ganz und gar nicht, daß von da aus
ohne weiteres ein Rückfchluß auf die Wahrheit der chriftlichen Religion
zu gewinnen fei. Es handelt fich in den betreffenden Ausführungen
meines Buches immer nur um die Beftimmung der Aufgabe, was im
Sinne des religiöfen Glaubens felbft (und fpeziell im Sinne des chriftlichen
Glaubens) als Wahrheit zu gelten habe. Das Verhältnis diefer
religiöfen Wahrheitsüberzeugung zur rationalen Erkenntnis bleibt dabei
noch ganz vorbehalten; es kann m. E. nur in einer umfaffenden Welt-
anfchauungs-Kritik unter forgfältiger Beachtung der in der religiöfen
Überzeugung als folcher liegenden Geltungsgründe bearbeitet werden.
Gerade diefe Differenzierung der Arbeit fcheint mir me-
thodifch von größter Bedeutung zu fein. Eben dies überfieht J.
Und damit hängt dann ein weiteres Mißverständnis zufammen, nämlich
die Behauptung, den Hintergrund der religionspfychologifchen Methode
bilde der Jamesfche Pragmatismus. Nie und nirgends bin ich für den
Pragmatismus eingetreten, habe ihn vielmehr oft und nachdrücklichst
abgelehnt (z. B. in der Auseinanderletzung mit Wilh. Wundt im Vorwort
zur 2. Auflage meiner deutfehen Bearbeitung von James' Buch
über die religiöfe Erfahrung1.

Für das Grundproblem felbft d. h. das Verhältnis
des objektiven und fubjektiven Faktors in der religiöfen
Wahrheits-Überzeugung darf ich auf meine in der Feft-
fchrift für Jul. Kaftan erfcheinende Abhandlung ,Die
Frage nach Gott in Luthers großem Kathechismus' ver-
weifen. Was ich dort über das Unternehmen Heims
gefagt habe, gilt entfprechend auch für dasjenige J.s.

Denn in diefer Beziehung bedeutet J.s Verfuch eine
Parallele zu demjenigen Heims, wenn auch längft nicht
von gleicher Gefchloffenheit und Zielficherheit. Aber
beide Mal wird der Anfpruch erhoben, die Frage der
religiöfen Gewißheit auf logifch-rationalem Wege vorweg
ohne Berückfichtigung ihres Gefamt-Inhaltes zu
erledigen und demgemäß, ohne fie vor das Forum des
Weltanfchauungskampfes überhaupt zu bringen. Daß
jeder derartige Verfuch den Intentionen Reifchles zuwiderläuft
, und daß in feinem Sinne die Aufgabe nur in der
zuletzt kritifch angedeuteten Weife rechtmäßig zu faffen
ift, darüber kann nach dem ganzen Charakter feiner theologifchen
Arbeit kein Zweifel fein. Ja J s eigener Anfatz
weift noch deutlich genug in diefe Richtung. Denn daß
ein Mann wie Külpe, der uns inzwifchen leider auch genommen
ift, mit den um die finnlich-naturhafte Auferftehung
fich bewegenden Gedankenreihen J.s garnichts
anzufangen vermöchte, ift ficher.

So kann das Buch J.s der Klarftellung der dogmatifchen
Prinzipienfragen, die es fich zur Aufgabe macht,
tatfächlich vorzügliche Dienfte leiften.

Heidelberg. G. Wobbermin.

Jodl, weil. Prof. Friedrich: Allgemeine Ethik. Hrsg. v.
Wilh. Börner. 1. u. 2. Aufl. (XII, 417 S.) gr. 8°.
StuttgartJ.G.CottaNachf. 1918. M. 12.50; geb.M. 16 —
In der Vorrede zum 1. Band feiner Gefchichte der
Ethik hatte Jodl ,eine Zufammenfaffung der fyftematifchen
wiffenfehaftlichen Ergebniffe' in Ausficht geftellt. Er verzichtete
darauf, ,weil es ein Buch für fich gegeben hätte'.
Eben diefes Buch ift nun das vorliegende Werk, von
i W. Börner, nach den feit 1884 ftets wiederholten Vor-
| lefungen Jodls aufs pietätvollfte herausgegeben, aus Pietät
auch auf die .allgemeine Ethik' befchränkt.

Den wefentlichen Inhalt und Zweck feines Werkes
gibt Jodl felbft — die genauere Einleitung flammt vom
Herausgeber — wohl am deutlichften S. 159 an. Zuerft
habe er ,die erfahrungsmäßig gegebenen Phänomene des
Sittlichen erfaffen, analyfieren, auf den zutreffendften Begriff
zu bringen' gefucht; .Werturteile und Normen feien
ihre charakteriftifchen Grundformen'. Und zwar nennen
wir (S. 78 fr.) ,gut im fittlichen Sinn diejenigen Befchaffen-
heiten des bewußten Willens einer Perfon und die aus
ihr flließenden Handlungsweifen, welchen ein über die
befchränkten und zufälligen Intereffen des Individuums
hinausreichender allgemeingiltiger Wert im fozialen oder
humanen Sinne zukommt und welche fich dadurch innerhalb
der allgemeinen Ordnung der menfehlichen Zwecke
als notwendig oder wünfehenswert erweifen'. Daran, an
diefe Erfaffung der gegebenen Phänomene, reihe fich nun
(S. 162) die zweite Hauptaufgabe, durchfichtig zu machen,
wie ,diefe objektiven Lebensbedingungen der Gefellfchaft
fubjektiv zu Maßftäben und Normen werden können';
kurz das Problem der .Entwicklung des Sittlichen in der
Menfchheit und im Individuum'. Und zwar ift ,diefe Erklärung
der Sittlichkeit' für Jodl .zugleich ihre Begründung
', nicht im .teleologifchen, fondern im kaufalen Sinn'.
Die teleologifche kann ,den Skeptiker nicht widerlegen',
diefe kaufale .erweift das Sittliche als ein notwendiges
Gewächs der fozialen und individuellen Entwicklung'.

Ehe die Bedenken zum Wort kommen, die folche
Sätze wecken, ift es Pflicht, dankbar hervorzuheben, wie
anziehend der durchaus perfönliche Charakter des uns
vorgelegten ethifchen Vermächtni ff es ift. Es ift erwachfen
aus der inneren Not, die der Stand der philofophifchen
Ethik am Ende der fiebziger Jahre dem Verfaffer bereitete
(II ff.); war fie doch weithin fogar aus den Vor-
lefungskatalogen verfchwunden. Diefe perfönliche Ergriffenheit
fpiegelt fich in dem ganzen Ton der Dar-
ftellung, und der Lefer gibt fich willig dem bewegten
und beweglichen Geifte des Führers hin. Doch läßt felbft