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Ausgabe:

1919

Spalte:

158-159

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hocks, Erich

Titel/Untertitel:

Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit der Welt bei Nietzsche. Eine Darstellung seiner Erkenntnislehre 1919

Rezensent:

Schwartzkopff, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1919 Nr. 13/14.

158

merkfam, wie er, obwohl von Haufe aus .Apoftel des
Krieges', dennoch ,den Weltfrieden und die Vereinigung
aller Kulturvölker als erftrebenswertes Ziel hingeftellt'
habe. Man vermißt jedoch eine deutlichere Beftimmung
und Begrenzung derjenigen Punkte, in welchen eine Um-
geftaltung der Verhältniffe auf folchem Boden eine wirkliche
Befferung oder gar Kulturerhöhung bedeutet.

Der Titel von Ernft's Schrift1 läßt anderes erwarten.
Wenn Verf. Nietzfche als ,falfchen' Propheten erweifen
wollte, fo hätte er ihn zunächft überhaupt als Propheten
einfchätzen müffen — was er nicht tut. Doch ift das
etwas Äußerliches. Das Buch gibt in lebendiger und
feffelnder Darüellung, reichhaltiger, als man dies in ähnlichen
Kritiken findet, eine Gefamtbeurteilung der Hauptpunkte
von N.s Weltanfchauung. Dabei richtet Verf. fein
Auo-enmerk vor allem auf die grundfätzlichen Selbft-
widertprüche und die Verderblichkeit von N.s verftiegenem
Individualismus. Er möchte feiner Zeit, zumal der unerfahrenen
Jugend, ein Gegengift gegen den beraufchen-
den Trank N.fcher Sprachkunft geben. Übt doch ,außer
Schopenhauer kein philofophifcher Schriftfteller einen
fo verhängnisvollen und fo in die Breite gehenden Einfluß
', wie N. aus (S. 105). Die durchgängig klare Darfteilung
verbindet mit dem Ernft des Erziehers die An-
fchaulichkeit des Dichters. Er ift imftande, N.s Gedankenbau
in feinen Grundlagen anzugreifen, weil er zu den
noch nicht zahlreichen Denkern gehört, die fich, trotz
Kants Idealismus, den Sinn für die Wirklichkeit bewahrt
haben. Sein geradfinniger Verftan i fieht, daß deffen
Konfequenz in Skeptizismus enden muß — wie er ihn
bei N. bekämpft. Aber auch in Kants vom Himmel gefallenen
kategorifchen Imperativ vermag er nicht mehr
ein lebensfrifches Mittel gegen N.s fenfualiftifch-materia-
liftifches Gepräge der Ethik zu finden. Allerdings knüpft
er die fubjektiven Pflichten nicht hinreichend klar an die
objektiven Mächte, ohne die fie fich nicht feftlegen laffen
(S. 20. 63. 85. Vgl. meinen Auffatz über ,N. und die Entstehung
der fittlichen Vorftellungen' Arch. f. Gefch. d.
Philof. 1903). Bei alledem verkennt er nicht N.s Bedeutung
als Charakter, Dichter und Denker (S. 93. 114. 117.
130. 134). Aber wer möchte die die Menfchen überrennenden
Orakel und Ukafe des großen Zerftörers, dem
keine .Wahrheit' heilig ift, als unantaftbar erachten!
(83 u. s.)

Die apologetifche Schrift Simons2 widerlegt gemein-
verftändlich, anfchaulich und überzeugend die Grundgedanken
der N.fchen Willkürfreiheit, als einziger Wahrheit
— einer Wahrheit, die N. freilich von feinen Grund-
fätzen aus, wie alle wirkliche Wahrheit, Logik, Sittlichkeit
und Religion, verwerfen muß — vom Standpunkte
diefer grundlos verfehmten Ideale aus. Die Abhandlung
ift geeignet, allzu nietzfchebegeifterten Jünglingen, die den
Zarathuftra, als ihr Evangelium, felbft in die Schützengräben
mitnehmen, gute Dienfte zu leiften, falls fie davon
Gebrauch machen wollen. Allerdings wird wohl die
Mehrzahl folcher erft durch bittere Lebenserfahrungen
von ihrem ungezügelten Verlangen, fich ,frei auszuleben',
zu heilen fein. Man wünfchte indeß im Sinne der Gerechtigkeit
gegen den Gegner noch fchärfer betont, daß
fich N?s übertriebener Individualismus zugleich als philo-
fophiegefchichtliche Notwendigkeit begreifen läßt: als ein-
feitige Reaktion gegen Schopenhauers eben fo einfeitigen,
weibifchen Altruismus. Auch wird gerade hier der un-
parteiifche Apologet ein unbewußtes Zurücklenken N.s
auf die von ihm felbft verpönten Pfade chriftlicher Wertung
der Perfönlichkeit erkennen.

1) Ernft, Otto: Nietzfche der falfche Prophet. I.—5. Tauf. (IV,
'35 S.) gr. 8». Leipzig, L. Staackmann 1914. M. 1.50; Pappbd. M. 2 —

2) Simon, Geh. Konf.-Rat Prof.Lic. Dr. Theodor: Richtlinien chriftlicher
Apologetik wider Nietzfche. (34 S.) 8°. Berlin, Trowitzfch &
Sohn 1917. M. 1.50

Auch Grützmacher's, aus einem akademifchen Publikum
entftandenes, Buch1 ftellt N.s Leben, Charakter und
Werk dar. Und zwar mit umfaffender kritifcher Verwertung
der teilweife erft jetzt zugänglichen Quellen, und
in dem erkennbaren Beftreben, N. gerecht zu werden.
Das ift z. B. aus der Stellung zu N.s Geifteskrankheit
und deren fexueller Begründung, fowie aus der Beurteilung
von N.s Bruch mit feinen Ereunden. insbef. Wagner,
zu erfehen (S. 35 fr. 27 ff. Vgl. 47. 140 fr.). Diefe wie
andere Züge in dem Bilde eines folchen Mannes,
Schwächen wie Vorzüge, weiß Verf. vielmehr aus der
Eigenart feines Gemütslebens, feines Grundftrebens und
der befonderen Lebensfügung zu erklären (41—51). N.s
Wiffenfchaftsbegriff wird von gefundem erkenntnis-
theoretifchen Standpunkte aus als einfeitig biologifch
gewertet (67 fr.), Einfeitigkeit und Selbftwiderfprüche
werden auch in feinem grundfätzlichen Individualismus
aufgezeigt und auf die .Umwertung aller Werte' zurückgeführt
. Hieraus wird dann anderfeits N.s Stellung zur
Religion und feine Feindfchaft gegen das verkannte
Chriftentum insbefondere abgeleitet (Vgl. den Abfchn.
,N.s Stellung zur Moral'. Ferner 41—51, 109). Wenn
Verf. freilich das Ideal der Liebe gänzlich der Natur des
Menfchen entfremdet, dann würde felbft der Höchfte
nicht vermögen, dies jemals, von außen, in ihn hineinzubringen
. Dies wäre ,Heteronomie'. Im übrigen dürfen
wir hier auch auf die vielen Feinheiten der höchft lefens-
werten Schrift nicht näher eingehen.

So fehr die Erkenntnislehre für N. im ganzen zurücktritt
, erhellt doch gerade aus der Schrift von Hocks2,
daß feine Weltanfchauung von beftimmten erkenntnis-
theoretilchen Vorausfetzungen unterbaut ift. Es ift hier
nicht der Ort, der gründlich und fcharffinnig dargeftellten
Entwicklung der N.fchen Erkenntnislehre im Einzelnen
nachzugehen. Selbft gegenüber der dritten Periode, des
vollendeten Voluntariften, werden wir uns auf einige Andeutungen
befchränken müffen. Sein Agnoftizismus ent-
fprang fchon vorher aus dem vermeintlich durchgreifenden
Widerspruch zwifchen der begrenzten ratio des Subjekts
einerfeits und der Irrationalität und Unendlichkeit der
Welt anderfeits. In der letzten Periode begründet er
feinen bis zum Äußerften durchgeführten Skeptizismus,
gleich den modernen Senfualiften, noch fchärfer von der
biologifchen Seite her. Schon aus feiner Beftimmung
der Sinnesempfindung als einziger Wirklichkeit folgert er
mit Recht die allgemeine Fiktivität der Welt (56); wie
dies neuerdings Vaihinger in feiner Philofophie des ,Als
Ob' am gründlichften und umfanglichften durchgeführt
hat (Vgl. meine Widerlegung in Fichtes Ztfchr. für Philof.
,Sind nur Empfindungen wirklich?' Bd. 147). Nicht bloß
,Raum, Zeit und Kategorien, fondern auch alle allgemeinen
Denkbegriffe' find bloß für die Perfpektive des Menfchen
vorhanden. Solch ,Perfpektivismus' macht natürlich auch
die Erkenntnis felbft zur Fiktion (S. 63 u. f.) Sie ift ein
Erzeugnis rein biologifcher Entwicklung. Nur die Nützlichkeit
der Erhaltung fteht als Motiv hinter ihr (62).
Einer folchen .Erkenntnis' gegenüber ift vielmehr der
,Wille zur Macht' höheres Realprinzip. Und fo zerbricht
das diefen erkennende Subjekt das Erkenntnisprinzip des
Perfpektivismus (63), erklärt jede auf theoretifchen Qualitäten
beruhende Ünterfcheidung für irrig und findet die
.Wahrheit' nur in der Totalität des Lebens, als eine
.Steigerung des Machtgefühls' (65). Wahrheiten find daher
die .unwiderlegbaren Irrtümer des Menfchen'. Hock's
dankenswerte Darftellung der N.fchen Erkenntnislehre

1) Grützmacher, Prof.Rieh.TL: Nietzfche. Ein akadem Publikum
3. verb. u. verkürzte Aufl. (VI, 144 S.) 8». Leipzig, A. Deichert 1917.
M. 2.80; geb. M. 3.60

2) Hocks, Erich: Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit
der Welt bei Nietzfche. Eine Darfteilung feiner Erkenntnislehre.
(VII, 71 S.) Lex. 8". Leipzig, J. A. Barth 1914. M. 2.50