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Ausgabe:

1919 Nr. 1

Spalte:

156-159

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Reiner, Julius

Titel/Untertitel:

Friedrich Nietzsche der Immoralist und Antichrist 1919

Rezensent:

Schwartzkopff, Paul

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155 Theologifche Literaturzeitung 1919 Nr. 13/14. 156

Melanchthon S. 5. Hätte er die Theol. R.-Enc. und die
Tübinger Matrikel benützt, wäre mancher Irrtum unterblieben
, z. B. bei Beurlin und Heerbrand. Am fchmerz-
lichften vermißt man ein klares Bild des Bildungsganges
der Stiftler und der Tätigkeit der Repetenten mit ihrer
Studienberatung, ihren philofophifchen und theologi-
fchen Übungen und ihrer Kritik der Stiftsauflatze, aber
auch von ihrem Einfluß gegenüber der theologifchen
Fakultät, den manche Glieder derfelben fühlen. Sodann
ift die Frage, ob die bisherige Bildung den Stiftler wirk- i
lieh für den Dienft der Kirche vorbereitet. Es fei hier
nur auf die völlige Vernachläfligung des kirchlichen Ge-
fangs hingewiefen, aber auch auf die drohende Überwucherung
des Stiftslebens durch die Gewohnheiten der
Stiftsverbindungen. Auch die Bedeutung des Stifts für
andere evangelifche Kirchen wäre darzuftellen. Andreä
bringt 12 Stiftler nach Braunfchweig, zahlreiche Stiftler
ftanden im Dienft Öfterreichs bis zur Gegenreformation.
Kaum eine theologifche Fakultät zählt nicht manche
Stiftler auf ihren Kathedern. Eine Infchrift von 1619
befagte:

Claustrum hoc cum patria statque caditque sua.
Stuttgart. Boffert.

Ruck, Prof. Dr. Erwin: Die römifche Kurie und die deutfehe
Kirchenfrage auf dem Wiener Kongreß. (170 S.)
Lex. 8°. Bafel, E. Finckh 1917. M. 6 —

Auf dem Wiener Kongreß bildete eine der wichtig-
ften Fragen die Wiederherstellung der aufgelöften Kirche
Deutfchlands. Auf Grund eingehender Studien im Vati-
kanifchen Archiv entwirft der gelehrte Verfaffer ein
feffelndes Bild von dem diplomatifchen Treiben auf die-
fem Kongreß, auf welchem es bekanntlich der Kunft
Consalvis gelungen ift, für die Kurie fo bedeutende Vorteile
zu erringen. Allerdings die deutfehe Kirchenfrage
wurde dort nicht gelöft. Unter Publikation zahlreicher,
bisher noch nicht veröffentlichter Aktenftücke fchildert
der Verfaffer die einzelnen Phafen der Verhandlungen.
Er konftatiert, daß der gegen die Kurie oft erhobene
Vorwurf, fie habe auf dem Wiener Kongreß in erfter
Linie weltliche Intereffen, die Wiedergewinnung des verlorenen
Kirchenftaates, verfolgt, feine Berechtigung hat;
der deutfehen Kirchenfrage hat fleh die Kurie erft auf
Grund eindringlicher Vorftellungen zugewandt, und auch
dann in erfter Linie zwecks Verfechtung weltlicher Intereffen
. Ja, der Verf. kann fein Gefamturteil dahin zu-
fammenfaflen, daß das völlig negative Ergebnis der Verhandlungen
in der deutfehen Kirchenfrage zum größten
Teile die Schuld der römifchen Kurie gewefen fei, die
,durch die zu fcharf in den Vordergrund geftellte Verfolgung
weltlicher Intereffen und durch Erhebung ausfichts-
lofer Anfprüche fleh felbft den Weg verbaut und das
Intereffe an der eigentlichen Kirchenreform gelähmt habe'.
Allerdings die Hauptgründe für den Mißerfolg find andere
gewefen; es waren dies der Zwiefpalt zwifchen der
kurialen und der episkopaliftifchen national-kirchlichen
Partei (Dalberg, Weffenberg), fowie der Partikularismus
einzelner deutfeher Sraaten und die Verfchlagenheit der
Metternichfchen Politik. Trotz des eklatanten Mißerfolges
in der Kirchenfrage fcheiden wir in Übereinftimmung
mit dem Verfaffer, dem wir für feine lichtvollen, klärenden
Ausführungen aufrichtigen Dank fchulden, von jenen
Verhandlungen mit Gefühlen der Bewunderung für den
Meifter der kurialen Diplomatie, Consalvi.

Erlangen. Emil Sehling.

Göll er, Prof. Dr. Emil: Prälat Anton de Waal, Rektor des deutfehen
Campo Santo in Rom f. Eine Lebensfkizze. (Erw.
S.-A. a.: Caritas. 22. Jg.) (67 S. m. 1 Bildnis.) 8°. Freiburg
i. B., Caritas-Verlag 1917. M. 1 —

Mafrarette, Dr. Jofeph: Prälat Anton de Waal und der Campo
Santo der Deutfehen in Rom. (Frankfurter zeitgemäße Bro-

fchüren. 36 Bd., 9. u. 10. Heft.) (59 S.) gr. 8». Hamm, Breer
& Thiemann 1917. M. 1 —

Dem Lebenswerk und der Perfbnlichkeit des hochverdienten
Rektors des deutfehen Campo Santo in Rom wird in diefen feinem
Gedächtnis gewidmeten Schriften ein fchönes Denkmal gefetzt.
Neben feiner Bedeutung für die Wiffenfchaft wird fein praktifch-
kirchliches Wirken eingehend gefchildert; die zweite Schrift
berichtet auch über die Gefchichte des Campo santo.
Göttingen. Carl Mirbt.

Hobbes, Thomas: Grundzüge der Philosophie. 2. u. 3. Tl.

Lehre vom Menfchen u. vom Bürger. Deutfch hrsg.
v.Max Frifcheifen-Köhler. (Philofoph. Bibliothek
Bd. 158.) (VI, 341 S.) 8°. Leipzig. F. Meiner.

M. 7—; geb. M. 8.50
Dem erften, die Grundzüge der Körperlehre enthaltenden
Teil diefer neuen Überfetzung ift die Lehre
vom Menfchen und Bürger trotz des Krieges in verhältnismäßiger
Kürze gefolgt. Die Lehre vom Menfchen
(eine philofophifche Anthropologie) bildet zufammen mit
der im erften Bande enthaltenen Körperlehre (=mathe-
matifch fundierten Phyflk) die von Hobbes in der Vorrede
zur Körperlehre geforderte ,exakte* Grundlage des
Syftems der Pflichtenlehre, das die Tugenden des Menfchen
, des Bürgers und des Chriften deduziert. Wer es
noch nicht durch Dilthey wußte, lernt den berühmten
Theoretiker des Staatsabfolutismus aus diefer Darbietung
als einen ebenfo fcharffinnigen Syftematiker wie unerbittlichen
Pofitiviften kennen. Nimmt man die unübertrefflich
charakteriftifchen Einwendungen gegen Descartes
hinzu, fo wächft das Intereffe an diefem merkwürdigen
Denker durch die Erkenntnis des Typus, den er vertritt.
Er ift der erfte moderne Naturalift von Bedeutung und
philofophifche Interpret einer Lebensverfaffung, die fleh,
1b fehr es bedauert werden mag, theoretifch nicht widerlegen
läßt.

Für die religionsphilofophifche Betrachtung kommen
allo auch nicht die vier langweiligen Kapitel vom Reiche
Gottes in Frage, mit denen Hobbes feine Bürgerlehre
befchließt. Denn fie enthalten eigentlich nichts anderes
als die der Lehre von der Allmacht des Staates ent-
fprechende Theorie des Staatskirchentums, mit anderen
Worten die völlige Abhängigmachung der Kirche vom
Staat, und was damit zufammenhängt: die politifche Un-
fchädlichmachung der Religion. Die religionsphilofophifche
Bedeutung Hobbes' liegt vielmehr in dem Ganzen feines
Syftems, in der eigentümlichen Energie des Denkens, mit
der fleh in ihm dasSelbftbewußtfein eines völlig metaphyfik-
und religionsunfähigen Menfchen von fehr beträchtlichen
Geiftesgaben ausfpricht.

Die deutfehe Überfetzung lieft fich fehr gut. Rein
naturwiffenfehaftliche Erörterungen find auch in diefem
Bande mit Recht vom Überfetzer ausgelaffen worden.
Breslau. Heinrich Scholz.

Nietzfche-Literatur.

Reiner1 charakterifiert nicht allein Nietzfche als ,Im-
moraliften und Antichriften', fondern ftellt auch fein
Leben in den Hauptzügen dar. Auch weift er mit Recht
auf Anftöße hin, die N.s Anfchauung durch Plato, Darwin
, aus Frankreich und fonft empfangen. Indeffen entbehrt
feine Kritik teilweife hinreichender Gründlichkeit
und Schärfe. So wird der Kern des Ganzen: N.s Umwertung
aller Werte, zwar fachgemäß am Maßftab des
,Übermenfchen' gemeffen, aber gegenüber N.s völliger
Relativierung derfelben deren Unbedingtheit nicht genügend
erwiefen und begründet. Anderfeits verkennt er
nicht, daß N. .Anknüpfungspunkte zu einer höheren Entwicklung
unferer Kultur' bietet, macht auch darauf auf-

1) Reiner, Dr. Julius: Friedrich Nietzfche der Immoraiift und
Antichrift. (80 S.) 8». Stuttgart, Franck 1916. M. 1 —; geb. M. 1.60.